Henning Wormstall: Editorial zum Themenheft
“Körper”

Die Artikel im vorliegenden »Körperheft« der Zeitschrift Psychotherapie im Alter sind einem wichtigen Themenbereich der Psychiatrie gewidmet, dem psychophysischen Parallelismus. Psychiatrisch und psychotherapeutisch zu behandelnde Erkrankungen dürfen nicht nur einseitig angegangen werden. Da zahlreiche psychische und physische Wechselbeziehungen bestehen, können diese für die Ätiologie und den Verlauf der Erkrankungen wesentlich sein. Interessanterweise finden sich bereits in den Werken von J. E. Esquirol und P. Pinel derartige vielschichtige und richtungsübergreifende Denkansätze. In der deutschsprachigen psychiatrischen Literatur beschrieb W. Griesinger 1845 in seinem Lehrbuch über Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, dass bei einer psychiatrischen Behandlung die persönliche, leibliche und geistige Natur des Menschen zu berücksichtigen sei und ätiologisch mannigfaltige, psychische Eindrücke und körperliche Störungen zusammen kommen. In Tübingen wurde die Bedeutung einer »mehrdimensionalen« Denkweise in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts von E. Kretschmer erkannt und später für den Bereich der Altersmedizin als »mehrdimensionale Gerontopsychiatrie« (Wormstall 2000) erweitert. Mittlerweile lassen sich mehrdimensionale Elemente in unterschiedlichsten Bereichen der Altersmedizin wieder finden. So wird eine mehrdimensionale Funktionsdiagnostik (Assessment) in der Altersmedizin als diagnostischer Standard anerkannt (Nikolaus 2000). Definitorisch handelt es sich hierbei um einen interdisziplinären Prozess zur diagnostischen Abklärung und Therapieplanung bei betagten Patienten, bei dem verschiedene gesundheitliche Dimensionen auf medizinischer, funktioneller und sozialer Ebene berücksichtigt werden müssen. In diesem Zusammenhang gehören zu den Definitionskriterien des »geriatrischen Patienten« neben einem Alter von mehr als sechzig Jahren auch das Leiden an mehreren Erkrankungen, die vielschichtig ineinander greifen. Zusätzlich zur Beeinträchtigung durch körperliche und psychische Störungen wird die Selbständigkeit des geriatrischen Patienten durch Funktionseinbußen gefährdet, so dass Alltagsaufgaben nur in vermindertem Umfang bewältigt werden können. Deswegen dürfen Therapieziele in der Altersmedizin nicht nur durch die Erkrankung eines einzelnen Organsystems definiert werden, sondern müssen im multimorbiden und interagierenden Zusammenhang sowie im funktionellen Bezug gesehen werden. Da traditionelle Diagnoseschlüssel (ICD, DSM) dieser mehrdimensionalen Sichtweise nicht gerecht werden, ist es erfreulich, dass die Weltgesundheitsorganisation (WHO) die Diagnosemodalitäten um den funktionellen und sozialen Faktor erweitert hat (ICIDH bzw. ICF), was auch der gängigen Sichtweise der Alterspsychiatrie und -psychotherapie entspricht. Eine mehrdimensionale Sichtweise formiert nicht zuletzt auch die Grundlage der noch jungen Zeitschrift Psychotherapie im Alter (PiA), die sich zum Ziel gesetzt hat, ein Forum für unterschiedlichste, altersmedizinisch tätige Berufsgruppen zu bilden. Es ist ein besonderes Anliegen der Herausgeber, mit vorliegendem Themenheft Psychotherapeuten, die auch mit alten Menschen arbeiten, den Blick für somatische Modalitäten weiter zu schärfen und interaktive Vorgänge zu berücksichtigen. Andererseits würden sich die Herausgeber freuen, wenn primär somatisch tätige Ärzte und Therapeuten mehr Interesse für psychische und soziale Zusammenhänge entwickeln und diese gerontopsychiatrischen Themenbereiche weiteren Eingang in die unterschiedlichen ärztlichen und psychotherapeutischen Fort- und Weiterbildungsverfahren finden würden. In der vorliegenden Ausgabe der Zeitschrift PiA sollen deshalb zunächst diagnostische Grundlagen, krankheitsspezifische Besonderheiten, spezielle psychotherapeutische Zugangsweisen und – Therapieverfahren beleuchtet werden. Darüber hinaus ist es ein besonderes Anliegen des Heftherausgebers, auch das nichtpathologische, »normale« physische Altern im Auge zu behalten und zu berücksichtigen. Nicht unerwähnt bleiben soll, dass die Einzelbände der Zeitschrift PiA auch als Nachschlagewerke benutzt werden können, wozu auch das Format der Zeitschrift einladen möchte. Wir hoffen, dass wir inhaltlich den differenzierten Fragen und Wünschen unserer Leserschaft gerecht werden und dass die fachlichen Darstellungen Ihr Interesse finden.