2. Jahrgang 2005,

Heft 2: Eine Institution stellt sich vor

Ursula Schreiter Gasser & Jutta Stahl:
Das Gerontopsychiatrische Zentrum Hegibach der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich

 Wegweisend für die Entwicklung der Gerontopsychiatrie in der Schweiz war das »Lausanner Modell« mit einer Abtrennung der Alterspsychiatrie von der Allgemeinpsychiatrie in den 70er Jahren (Kaufmann 1981) und für den Kanton Zürich die Einrichtung eines gerontopsychiatrischen Beratungsdiensts in Wetzikon (Erlanger 1984).
    Aufbauend auf diesen Erfahrungen und orientiert an den WHO – Kriterien für eine angemessene gerontopsychiatrische Versorgung (Häfner 1996), wurde im Psychiatriekonzept des Kantons Zürich (1995) ein Gerontopsychiatrisches Zentrum (GPZ) der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich projektiert. Anders als bei den von der Psychiatrie-Enquete (BMJFG1975) in Deutschland empfohlenen gerontopsychiatrischen Zentren wollte man in Zürich auch ein stationäres Behandlungsangebot aufbauen (Remlein und Netz 1999).

Der Aufbau des Zentrums

In der Stadt Zürich mit ca. 520 000 Einwohnern – der Anteil Älterer liegt bei 16% – sind etwa 5000–7000 Menschen psychiatrisch behandlungsbedürftig. Um diesem Bedarf gerecht zu werden, wurde 1996 das Gerontopsychiatrische Zentrum Hegibach eröffnet.
    In einer zentral gelegenen, schön renovierten Liegenschaft aus dem Beginn des 20. Jahrhunderts wurden zwei Akutstationen, eine Tagesklinik und ein Ambulatorium eingerichtet. Eine enge Kooperation dieser Abteilungen untereinander sollte sicherstellen, dass die Übergänge zwischen den Abteilungen für die Patienten fließend möglich sind und so die Behandlungsform sich nach den individuellen Bedürfnissen der Patienten resp. nach dem Schweregrad der Erkrankung richtet.
    Das GPZ stellt eine Ergänzung und Bereicherung des breiten Netzes von Hilfs- und Versorgungseinrichtungen für ältere Menschen in der Region Zürich dar, Versorgungslücken wurden durch den Aufbau des GPZ geschlossen.
    Entsprechend den multifaktoriell bedingten Problemkonstellationen bei gerontopsychiatrischen Patienten wurde die interdisziplinäre Zusammenarbeit innerhalb und zwischen den Abteilungen als Kern der Betriebskultur etabliert. Es wurde ein interdisziplinäres Leitungsteam zusammengestellt, bestehend aus Vertretern aller Berufsgruppen und Abteilungen. Dieses Komitee tagte regelmäßig und erstellte unter externer Supervision ein Leitbild sowie ein ausgefeiltes Konzept für das GPZ, das im Laufe der Jahre den Erfahrungen, Bedürfnissen und Möglichkeiten angepasst wurde. Die Bedürfnisse der Patienten wurden bei dieser Weiterentwicklung stets in den Mittelpunkt gestellt.

Das GPZ heute – Strukturen und Angebote

Die beiden Akutstationen, die Tagesklinik und das Ambulatorium dienen der psychiatrischen Abklärung, Behandlung, Krisenintervention, Rehabilitation und Beratung (Abb. 1). Für die beiden wichtigsten und häufigsten psychiatrischen Erkrankungen im Alter – Depressionen und Demenzen – wurden Behandlungsketten konzipiert und umgesetzt

Abbildung 1: Strukturen und Angebote des GPZ

Das Ambulatorium

Im Ambulatorium werden psychiatrische, neuropsychologische und soziale Abklärungen, Beratungen und Behandlungen durchgeführt. Patienten können auch längerfristig therapeutisch begleitet werden. Neben der medikamentösen Therapie werden Einzel- und Gruppenpsychotherapie, Musik- und Bewegungstherapie sowie soziale Beratung angeboten. Hausbesuche und die konsiliarische Behandlung in Heimen und in Spitälern werden besonders geschätzt. Sie ermöglichen eine effiziente Triage »vor Ort« im Hinblick auf die Notwendigkeit eines stationären oder teilstationären Eintritts. Zwei Spezialsprechstunden ergänzen das Angebot:
    Die Gedächtnissprechstunde ist ein niederschwelliges Angebot für Menschen mit Gedächtnisproblemen. Die Inanspruchnahme kann auf Wunsch von Klienten, von Angehörigen, von der Spitex (spitalexterne Dienste) oder von Ärzten erfolgen. Ein interdisziplinäres Team führt die Diagnostik in enger Absprache mit dem Hausarzt durch. Im Rahmen einer diagnostisch-therapeutischen Konferenz werden Diagnose, Behandlung und Prognose sowie die möglichen Hilfs- und Unterstützungsangebote erarbeitet. Begleitende Therapien mit Gedächtnistraining, Bewegungstherapie und Angehörigengruppen sind bei Bedarf möglich.
    Die Depressionssprechstunde ist ein Angebot für Menschen, die an einer schweren oder therapierefraktären Depression leiden oder bei denen differentialdiagnostisch eine Depression erwogen wird. Für niedergelassene Ärzte besteht außerdem ein telefonisches Informationsangebot. Falls eine ambulante Behandlung nicht ausreicht, kann diese durch eine tagesklinische oder stationäre Behandlung ergänzt werden.
    Ein besonders niederschwelliges Angebot ist die Abendsprechstunde einmal in der Woche von 17–19 Uhr, bei der man sich informell und unkompliziert beraten lassen kann. In der Regel handelt es sich bei den Ratsuchenden um Angehörige von psychisch Kranken, die einer psychiatrischen Behandlung ablehnend gegenüber stehen. Die Beratung dient dazu, Angehörige darin zu unterstützen, mit ihren kranken Partnern oder Eltern angemessen umzugehen und sie über Hilfsangebote zu informieren.

    Im Jahr 2003 wurden im Ambulatorium 567 Klienten und Klientinnen behandelt, insgesamt wurden 4731 Konsultationen erbracht (Tab. 1).

Die Tagesklinik für Alterspsychiatrie und -psychotherapie

Die tagesklinische Behandlung dient der Krisenintervention und ist eine Alternative zur stationären Aufnahme. In ihr ist auch eine Rehabilitation im Anschluss an einen stationären Aufenthalt möglich. Stationäre Behandlungen können durch die Tagesklinik vermieden oder verkürzt werden. Für zwölf Plätze pro Tag wird werktags zwischen 9.00 und 16.00 Uhr ein vielfältiges Therapieangebot bereitgestellt. Dieses kann von den Patienten je nach Bedarf an mehreren Tagen der Woche in Anspruch genommen werden. Es basiert auf kognitiv-verhaltenstherapeutischen Grundlagen mit psychotherapeutischen Gruppenangeboten wie Gesprächsgruppen, Gruppen zum Training sozialer Kompetenzen, aktivierende Therapien wie Werken, Spielen und Kochen, kreative Therapien wie Mal-, Musik-, Tanz- und Bewegungstherapie, körperbezogene Angebote wie Entspannung, Turnen und Gedächtnistraining. Ein »Presseclub«, gemeinsame Ausflüge und ein geselliges Zusammensein runden das Angebot ab.
    Bei den Betroffenen soll damit das Selbstvertrauen wieder gestärkt werden. Psychologische, soziale, körperliche und alltagspraktische Fähigkeiten werden trainiert, die es den Patienten ermöglichen, in ein selbständiges Leben zurückzufinden.
    Insgesamt waren im Jahr 2003 112 Patienten in tagesklinischer Behandlung, drei Viertel von ihnen wegen Depressionen, Angst- und somatoformen Störungen (Tab. 1)

Tabelle 1: Behandlungen 2003, aufgeschlüsselt nach Diagnose  

Seit 1996 hat sich die durchschnittliche Aufenthaltsdauer in der Tagesklinik von etwa zehn Monaten auf knapp vier Monate reduziert. Anfänglich kommen die Patienten 2–3 Mal pro Woche, gegen Ende der Behandlung nur noch einmal. Mit einem spezifischeren Behandlungsangebot, einer effizienteren Triage und einer guten Vernetzung konnte diese Verbesserung erreicht werden. Ein »Schnuppertag« vor der Aufnahme zur Abklärung ist dabei für die Patienten und das Team besonders nützlich.

Die beiden Akutstationen

Beide Stationen haben 19 Betten in Ein- bis Zweibettzimmer jeweils mit Nasszelle.
    Auf einer Station werden Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen verbunden mit einer psychiatrischen Symptomatik aufgenommen. Die meisten Patienten leiden an einer schweren Demenz mit Verhaltensstörungen, Halluzinationen oder Wahnideen.
    Die differentialdiagnostische Abklärung und die medikamentöse Behand­lung sind eingebettet in ein milieutherapeutisches Konzept. Es geht um das Erhalten und Üben von Fähigkeiten und Fertigkeiten im Stationsalltag und um die körperliche und kognitive Aktivierung, Realitätsorientierung und Anpassung an die Umgebung. Physiotherapie und Therapien mit Bewegung und Musik gehören dazu. Der Stationsalltag wird durch ein Tagesprogramm mit einem ausgewogenen Rhythmus von Essens-, Aktivitäts- und Ruhezei­ten strukturiert. Im Umgang mit den Kranken wird auf einen respektvollen Ton und eine verständliche Kommunikation geachtet. Eine feste Bezugsper­son ist auch Ansprechpartner für Angehörige. Angehörige haben außerdem die Möglichkeit, eine von einem Arzt und einer Sozialarbeiterin geleitete Angehörigengruppe zu besuchen.
    Auf der anderen Station werden v. a. Menschen mit schweren Depressionen aber auch Menschen mit Ängsten, in suizidalen Krisen, mit Wahnerkrankun­gen und mit Abhängigkeitsstörungen behandelt. Neben der Abklärung und der medikamentösen Behandlung der oft multimorbid Kranken liegt der therapeutische Schwerpunkt darin, Einsicht und Verständnis für die eigene Erkrankung zu stärken, Mechanismen der Auslösung bewusst zu machen, Konfliktverhaltensweisen zu reflektieren und die Beziehungsfähigkeit zu stär­ken. Basierend auf dem Konzept der interpersonellen Psychotherapie wird eine edukative Gruppe für Depressionskranke und eine psychotherapeutisch orientierte Gesprächsgruppe angeboten. Daneben besteht ein reichhaltiges Angebot an verschiedenen Kreativtherapien wie Musik-, Bewegungs- und Ausdruckstherapie sowie Physiotherapie.
    Stationär wurden im GPZ im Jahr 2003 insgesamt 302 Patienten und Patientinnen behandelt (Tab. 1). Zweidrittel aller Patienten waren erstmalig in stationärer psychiatrischer Behandlung, 90% traten freiwillig ein, knapp ein Viertel notfallmäßig. Das mittlere Alter betrug 79 Jahre, zwei Drittel aller stationären Patienten waren Frauen. 80% der von zu Hause aufgenomme­nen Patienten wurden wieder nach Hause entlassen, die Aufenthaltsdauer betrug im Mittel 42 Tage (Median 34 Tage).

Tabelle 2: Behandlungen 2003, aufgeschlüsselt nach Zuweiser

In Tabelle 2 sind die Zuweiser für die Abteilungen des GPZ aufgeschlüsselt. Die Hausärzte sind die wichtigsten ärztlichen Vertrauenspersonen für ältere psychisch Kranke und weisen auch am häufigsten Patienten stationär ein. Die Zuweisungen in die Tagesklinik erfolgen bei mehr als der Hälfte der Patien­ten aber durch die Stationen oder das Ambulatorium des GPZ. Es ist wünschenswert, dass das Angebot einer psychotherapeutisch orientierten Tagesklinik als Alternative zu einer stationären Behandlung auch bei den externen Zuweisern besser bekannt wird.

Therapeutische Grundsätze

Drei therapeutische Grundsätze bestimmen im Wesentlichen die Arbeit im GPZ: Ressoucenorientierung, Problemlöseorientierung und Interdisziplinarität.

Ressourcenorientierung

Es sind stets Verluste und Defizite, die Probleme und Leiden im Alter verur­sachen. Entsprechend werden in der medizinischen Abklärung und Diagnos­tik zunächst auch diese erhoben und beschrieben. In der Psychiatrie ist es jedoch unabdingbar, darüber hinaus den Focus auf die individuellen perso­nalen Ressourcen und auf die Ressourcen der Umwelt des Betroffenen zu richten. In diesen liegen Potentiale zur persönlichen Entwicklung und zur Bewältigung von Krisen und Anforderungen des Lebens im Sinne der Selek­tion, Optimierung und Kompensation, wie dies von Baltes und Baltes beschrieben wurde (Baltes und Carstensen 1996).

Problemlöseorientierung

Zu Beginn einer Behandlung werden auf der Grundlage der bestehenden Probleme mögliche Ziele formuliert. Dies geschieht zunächst gemeinsam mit dem Patienten und/oder den Angehörigen und anschließend im interdiszipli­nären Team. Die Ziele werden möglichst konkret formuliert und sollen im Rahmen der Behandlung erreichbar sein. Unter Nutzung der Ressourcen werden dann die Maßnahmen zur Zielerreichung eingeleitet. In einem fort­laufenden Prozess werden Probleme, Ziele und Maßnahmen evaluiert und ggf. modifiziert.

Interdisziplinarität

Individuelle Ressourcen können nur im Rahmen interdisziplinärer Behand­lungs- und Pflegeteams gründlich erschlossen und für eine angemessene Problemlösung genutzt werden. Eine enge Kooperation zwischen Vertrete­rinnen ärztlicher und nichtärztlicher Disziplinen bei der Abklärung, Behand­lung, Pflege und Beratung ist unabdingbar. Konsequenterweise werden darüber hinaus relevante Bezugspersonen wie Angehörige, professionelle Betreuungspersonen und ärztliche Mitbehandler in den Abklärungs- und Behandlungsprozess einbezogen, da im Sinne einer Nachhaltigkeit thera­peutischer Bemühungen die Organisation der weiteren Nachsorge auch zum Behandlungsauftrag gehört.

Vernetzung gehört zum Selbstverständnis des GPZ

Die zentrale Lage war eine ideale Voraussetzung dafür, dass das GPZ zu einem Stützpfeiler im Netzwerk informeller und professioneller Hilfe gewor­den ist. Eine gute Zusammenarbeit mit den Hausärzten, den Psychiatern, der Spitex (spitalexterne Dienste), den Spitälern und den Heimen gehört zur Kernaufgabe des GPZ (Abb. 2). Dies bedeutet, dass Abklärungen, Aufnah­me- und Entlassungsplanung sowie Nachbetreuung in enger Absprache mit den Zuweisern und Nachbehandlern erfolgen. Hierfür wurden gemeinsame Vereinbarungen für die Zusammenarbeit zwischen dem GPZ und den Zürcher Hausärzten getroffen

Abbildung 2: Aufgaben des GPZ   

 Für die Heime und Spitäler ist die Konsiliar- und Liaisontätigkeit des Ambulatoriums wichtig, die neben der direkten Patientenbehandlung auch die Beratung und Supervision von Pflegenden und die Beratung von Ange­hörigen umfasst. Mit der Spitex finden regelmäßige Treffen auf Leitungs­ebene, aber auch zwischen dem Sozialdienst des GPZ und den regionalen Spitex-Organisationen statt.
    An der Herausgabe eines Führers über die teilstationären Behandlungs­möglichkeiten im Kanton Zürich wurde maßgeblich mitgearbeitet. Vertreter des GPZ waren auch bei der Erarbeitung der Altersleitbilder der Stadt und des Kantons Zürich beteiligt.
    Das GPZ nimmt so im Altersbereich der Region Zürich eine wesentliche Schrittmacherfunktion wahr.

Universitäre Aufgaben

Als universitäre Institution nimmt das GPZ auch Aufgaben der Ausbildung, Lehre und Forschung war. Schwerpunkte liegen bei der Ausbildung von Medizinstudenten, bei der fachärztlichen Weiterbildung von Assistenzärzten und bei einer interdisziplinären Weiterbildung, an der auch die Geriatrie und die Alterszahnmedizin beteiligt sind.
    Die aufgebaute, klinisch orientierte, gerontopsychiatrische Forschung hat allerdings nur bescheidene Mittel von Seiten der Universität. Hier besteht insgesamt in der Schweiz ein großer Nachholbedarf.

Literatur

Baltes MM, Carstensen LL (1996) Gutes Leben im Alter: Überlegungen zu einem prozessorientierten Metamodell erfolgreichen Alterns. Psychologische Rundschau 47: 199–215.
BMJFG (1975) Bericht zur Lage der Psychiatrie in der Bundesrepublik. Zur psychiatrischen und psychotherapeutisch/psychosomatischen Versorgung der Bevölke­rung (Psychiatrie-Enquete). BT-Drucksache 7/4200.
Erlanger A (1984) Der Aufbau der sozialpsychiatrischen Versorgung einer Region. 4 Jahre Psychiatrisches Zentrum Wetzikon im Zürcher Oberland. Schweizer Archiv für Neurologie, Neurochirurgie und Psychiatrie 135 (2): 287–297.
Häfner H (1996) Psychiatry of the Elderly. Consensus Statement. Eur Arch Psychia­try Clin Neurosci 246: 329–332.
Kaufmann R (1981) Betreuung von alterspsychiatrischen Patienten in einem multi­diszipinären Zentrum. Z. Gerontologie 14: 40–47.
Psychiatriekonzept des Kantons Zürich (1995) Leitbild und Rahmenkonzept der Zürcher Psychiatrie.
Remlein K-H, Netz P (1999) Das Gerontopsychiatrische Zentrum. 10 Jahre nach den Empfehlungen der Expertenkommission der Bundesregierung. Gütersloh (Jakob van Hoddis).