3. Jahrgang 2006,

Heft 4: Eine Institution stellt sich vor

Astrid Riehl-Emde & Manfred Cierpka: Spezialambulanz für ältere Paare am Institut für Psychosomatische Kooperationsforschung und Familientherapie, Heidelberg

Zentrum für Psychosoziale Medizin der Universität Heidelberg

Das im Jahre 2004 gegründete Zentrum für Psychosoziale Medizin (ZPM) des Universitätsklinikums und der Medizinischen Fakultät der Universität Heidelberg fasst folgende fünf Einrichtungen zusammen:

  • die Klinik für Allgemeine Psychiatrie (Prof. Dr. med. Christoph Mundt)

  • die Klinik für Psychosomatische und Allgemeine Klinische Medizin (Prof. Dr. med. Wolfgang Herzog)

  • die Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie (Prof. Dr. med. Franz Resch)

  • das Institut für Medizinische Psychologie (Prof. Dr. med. Rolf Verres)

  • das Institut für Psychosomatische Kooperationsforschung und Familientherapie (Prof. Dr. med. Manfred Cierpka)

Institut für Psychosomatische Kooperationsforschung und Familientherapie

An diesem Institut ist Deutschlands erste und derzeit einzige Professur für Familientherapie an einem Universitätsklinikum angesiedelt. Nach der Emeritierung Helm Stierlins wurde Manfred Cierpka im Jahre 1997 zu dessen Nachfolger berufen. Als universitäre Einrichtung nimmt das Institut Aufgaben in der Krankenversorgung, in Forschung und Lehre, sowie in Aus- und Weiterbildung wahr. Anfang 2005 wurde die Forschungsstelle für Psychotherapie (FOS, früher in Stuttgart) dem Institut angegliedert. Die FOS untersucht derzeit vor allem qualitätssichernde Maßnahmen für die Psychotherapie und mediale Möglichkeiten der Psychotherapie- und Versorgungsforschung, z.B. die Nutzung von Internet, Email und SMS als innovative Konzepte für die Langzeitbetreuung und Rückfallprophylaxe.
    Das übergeordnete Ziel des Instituts besteht darin, Patienten zu funktionsfähigen Beziehungen zu verhelfen. Dies geschieht durch einzel-, paar und familientherapeutische Interventionen, jeweils unter Einbeziehung des relevanten Bezugssystems der Patienten. Das Institut vertritt eine ganzheitliche, auf Lebensphasen bezogene Ausrichtung mit besonderem Augenmerk auf Übergänge im Lebenszyklus. Unter der Mehrgenerationenperspektive erleben die Familienmitglieder während einer idealtypischen lebenszyklischen Entwicklung drei Phasendurchgänge: die eigene Kindheit und Adoleszenz, die Geburt und Adoleszenz der eigenen Kinder und die der Enkelkinder.
    Es ist in der Familiendiagnostik üblich, zwischen funktionalen vs. nichtfunktionalen oder klinischen vs. nichtklinischen Familien zu unterscheiden, statt zwischen »gesund vs. krank« bzw. »normal vs. nicht normal«. Die Funktionalität des Familiensystems bemisst sich daran, wie die Entwicklung und Reifung des einzelnen ermöglicht wird, ohne die Aufrechterhaltung der Familie zu gefährden (Cierpka 2003). Für die Diagnostik auf der interpersonellen Ebene bieten sich die 7 Kategorien an, die als Dimensionen des Familienmodells (Cierpka & Frevert 1995) beschrieben wurden und die auf dem »Process Model of Family Functioning« (Steinhauer et al. 1984) basieren. Anhand dieser 7 Dimensionen wird die Funktionalität bestimmt:

  • Aufgabenerfüllung

  • Rollenverhalten

  • Kommunikation

  • Emotionalität

  • affektive Beziehungsaufnahme

  • Kontrolle

  • Werte und Normen

Als heuristische Leitlinie in der Familiendiagnostik gilt das Drei-Ebenen-Modell (Cierpka 2003) mit den Ebenen des Individuums, der Dyaden bzw. Triaden und des Familiensystems, das wiederum eingebettet ist in den soziokulturellen Kontext. Die relevanten Dimensionen werden für jede Ebene in Hinblick auf Funktionalität bzw. Dysfunktionalität und in Bezug auf ihre Wechselwirkungen beurteilt. Bei der Entstehung oder Aufrechterhaltung von Problemen bzw. Symptomen werden die verschiedenen Faktoren gewichtet. Zum Beispiel kann eine individuelle Pathologie bei der Beurteilung von Dysfunktionalitäten im Vordergrund stehen, während die familiären Dimensionen eher als Stärken imponieren. Die ressourcenorientierte familienmedizinische Strategie zielt dann auf Unterstützung der Familie, um eine individuelle Pathologie zu relativieren und damit zur Krankheitsbewältigung beizutragen. Oder die dysfunktionale Familiendynamik steht im Vordergrund, und im Rahmen einer Familientherapie entstehen durch Arbeit an der familiären Kommunikation neue Optionen und Entwicklungsmöglichkeiten sowohl für einzelne Familienmitglieder als auch für die ganze Familie (ebd., S.43).
    Die Arbeitsschwerpunkte des Instituts bestehen neben einer allgemeinen Ambulanz für Paare und Familien in drei Spezialambulanzen.

Spezialambulanz für Eltern mit Säuglingen und Kleinkindern

Diese Sprechstunde wird in Kooperation mit der Kinderklinik und der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie der Universität Heidelberg durchgeführt. Sie richtet sich an Eltern mit Kindern in den ersten drei Lebensjahren, z.B. bei Schlafproblemen, vermehrtem Schreien oder unruhigem Verhalten des Säuglings oder bei Fütter- bzw. Gedeihstörungen. Hinzu kommen Verhaltensauffälligkeiten des Kleinkindes (z.B. starke Ängstlichkeit, vermehrtes Trotzverhalten, Unruhe, Spielunlust), allgemein Probleme in der Eltern-Kind-Beziehung oder auch elterliches Belastungserleben nach der Geburt des Kindes, insbesondere nach Frühgeburt oder Erkrankung des Kindes. Das Beratungs- und Therapie-Angebot besteht vor allem in der Unterstützung der Kommunikation in der Eltern-Kind-Beziehung mit Hilfe videogestützter Verhaltensbeobachtung und – orientiert an funktionalen Kommunikationsabläufen – in der Anleitung zur Modifikation dysfunktionalen Verhaltens (Thiel-Bonney 2002).
    Die aktuellen Forschungsinteressen in diesem Schwerpunktbereich richten sich auf Möglichkeiten der Früherkennung und Vermeidung der oben genannten Störungen der Verhaltensregulation des Kindes bzw. der Eltern-Kind-Beziehung. Ein Elternkurs mit dem Titel »Das Baby verstehen« wurde entwickelt (Cierpka 2004), der inzwischen von geschulten Experten, beispielsweise von Hebammen, angeboten wird. Im Mittelpunkt steht das »Lesen« des Babys: Die Kommunikation zwischen dem Baby und seinen Eltern wird anhand von Live-Videoaufnahmen veranschaulicht, und die Eltern üben, Signale des Babys zu erkennen und angemessen darauf zu reagieren. Darüber hinaus werden das persönliche Wohlergehen und die Paarbeziehung der Eltern thematisiert.
    Hinzu kommen weitere Projekte mit primärpräventiven Maßnahmen wie zum Beispiel das Programm »Faustlos« zur Gewaltprävention in Kindergärten und Schulen (Cierpka 2002), das der gezielten Förderung sozial-emotionaler Kompetenzen von Kindern und Jugendlichen dient. »Faustlos« stellt eine Adaption der amerikanischen Originalversion »Second Step« (Beland 1988, 1991) an deutsche Verhältnisse dar.
    Sowohl dem Schwerpunkt Frühprävention als auch dem familienmedizinischen Anliegen verpflichtet ist ein von der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) finanziertes Modellprojekt »Interprofessionelle Qualitätszirkel in der Pränataldiagnostik«. Es zielt darauf ab, die Beratung zur Pränataldiagnostik zu verbessern, insbesondere die Kooperation zwischen den in diesem Bereich tätigen Ärzte/Ärztinnen und psychosozialen Berater/Beraterinnen (Kuhn et al. 2004).

Spezialambulanz für Familienmedizin

Diese Sprechstunde richtet sich an Familien mit chronischer Erkrankung oder Behinderung eines Angehörigen, zumeist des Kindes. Das Angebot besteht in Familienberatung und -therapie, insbesondere geht es um Unterstützung im Umgang mit Krankheitsfolgen, um Hilfe bei der Bewältigung und Aktivierung von Ressourcen. Familien müssen sich immer wieder auf die Erfordernisse der Krankheit einstellen und eine Balance zwischen diesen und den Interessen der einzelnen Angehörigen finden. In der Regel müssen die Rollen und Aufgaben in der Familie neu verteilt werden (Retzlaff et al. 2006).

Spezialambulanz für ältere Paare

Gemäß der Definition »ältere Paare« steht die therapeutische Arbeit mit Paaren im Mittelpunkt, von denen ein Partner mindestens 60 Jahre alt und höchstens ein Partner über 75 Jahre alt ist.
    Beratung und therapeutische Unterstützung werden insbesondere angeboten bei Übergang in den Ruhestand und »Pensionierungsschock«, bei Wunsch nach besserer Kommunikation in der Familie, bei Burnout in der Ehe, bei Belastung durch Erinnerung und bei Problemen im Umgang mit Veränderungen der Sexualität im Alter bzw. mit der Erkrankung eines oder beider Partner (Riehl-Emde 2002a, 2002b).
    Das therapeutische Konzept ist bereits dargestellt (Riehl-Emde 2006) und lässt sich mit den Stichworten Lebenszyklus, Entwicklungsorientierung und Kollusion skizzieren. In der Ambulanz wird im klassischen Paarsetting mit einem Paar und einer Paartherapeutin gearbeitet, in einigen Fällen auch in Kotherapie. Etwa die Hälfte der Paare ist einverstanden, dass die Gespräche auf Video aufgezeichnet werden und/oder teilnehmende Beobachter die Gespräche über Videoanlage mitverfolgen. Diese Außenperspektiven dienen in erster Linie der Qualitätskontrolle und kommen dem therapeutischen Prozess zugute. In Kürze kommt ein Gruppenangebot für ältere Paare hinzu; gleichfalls in Planung befindet sich eine Intervention mit präventivem Charakter für Paare im Übergang zum Ruhestand.
    Die Erstgesprächsphase einer Paartherapie, die meist aus 2 Gesprächen à 1 1/2 Stunden besteht, dient vor allem der Indikationsstellung und der Herstellung einer therapeutischen Allianz. Im weiteren Verlauf findet mehrheitlich ein Gespräch pro Monat statt mit der Idee, dass in den Gesprächen Anstöße gegeben werden, die Hauptarbeit jedoch beim Paar im häuslichen Kontext liegt. Bisher finden meist zwischen 5 bis 10 Sitzungen statt, die Schwankungsbreite liegt allerdings zwischen 1 bis 40 Sitzungen.
  Die soziodemographischen Daten der Klientel sind in Tabelle 1 dargestellt. Kennzeichnend für diese Paare die lange Beziehungsdauer. Immerhin lag bei 30 % eine Beziehung seit 31 bis 40 Jahren und bei 33 % eine Beziehung seit über 40 Jahren vor. Die Anmeldung hatten zu 54 % die Frauen, zu 13 % die Männer, zu 23 % Fachpersonen und zu 10 % beide Partner initiiert.

Weitere aktuelle Forschungstätigkeit: Die Interdisziplinären Längsschnittstudie des Erwachsenenalters (ILSE) 1 zum mittleren und höheren Erwachsenenalter ist als sequentielle Längsschnittstudie angelegt, die sich über einen 20-jährigen Untersuchungszeitraum erstrecken soll. Dabei wird unter dem Aspekt gesunden und zufriedenen Alters biografisches Material mit der Messung der augenblicklichen Lebenssituation und der Wahrnehmung (Projektleitung: Kruse A, Wahl H-W, Schröder J, Schmitt M, Martin M; Kooperationspartner: Riehl-Emde A u.a.; Förderinstitution (t3): Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSJ) individueller Zukunftsperspektiven in Verbindung gebracht (Martin et al. 2000). Untersucht wird eine nach Geschlecht und Kohortenzugehörigkeit (Jahrgänge 1930/32 und 1950/52) stratifizierte Stichprobe, mehrheitlich aus den Regionen Heidelberg und Leipzig. Zwei Messzeitpunkte haben bereits stattgefunden (t1 in den Jahren 1993/96; t2 in den Jahren 1997/2000). Die Probanden (Pbn) werden derzeit zu einem dritten Messzeitpunkt (t3: 2005/2007) einbestellt, an dem sich unsere Einrichtung erstmals mit einer Fragestellung beteiligt.
    Da »seine Ehe nicht ihre Ehe« ist, werden zum aktuellen dritten Messzeitpunkt erstmals die Pbn und ihre Partner bzw. Partnerinnen im Rahmen einer freiwilligen Zusatzbefragung schriftlich zu ihrer Paarbeziehung befragt.

Tabelle 1: Soziodemographie und Daten zur Paartherapie (n=30 Paare)

Schlussbemerkung

Das verbindende ganzheitliche Konzept des Instituts und die Ausrichtung auf Übergänge im Lebenszyklus mit Blick auf die gesamte Lebensspanne – von der Eltern-Säuglings-Sprechstunde über die Familienmedizin bis hin zur Sprechstunde für ältere Paare – erweisen sich bisher nicht nur für die Patienten, sondern auch für das therapeutische Team als sehr fruchtbar. Durch die regelmäßig stattfindenden klinischen Konferenzen wird allen Mitarbeitern Spezialwissen über alle Phasen vermittelt. Das Wissen über Ältere kann in die Therapie jüngerer Patienten einfließen, insbesondere wenn es um familiäre Wechselwirkungen geht; und auch das ergänzende Wissen über frühere Lebensphasen kann dazu beitragen, die therapeutischen Herausforderungen mit Älteren anzunehmen.

Literatur

Beland K (1988) Second Step. A violence-prevention curriculum. Grades 1–3. Seattle (Committee for Children).
Beland K (1991) Second Step. A violence-prevention curriculum. Preschoolkindergarten. Seattle (Committee for Children).
Cierpka M (2002) Faustlos – Ein Curriculum zur Förderung sozial-emotionaler Kompetenzen und zur Gewaltprävention für den Kindergarten. Heidelberg (Heidelberger Präventionszentrum).
Cierpka M (Hg) (2003) Handbuch der Familiendiagnostik. 2. Aufl., Heidelberg (Springer).
Cierpka M (Hg) (2004) Das Baby verstehen. Bensheim (Karl-Kübel-Verlag).
Cierpka M, Frevert G (1995) Die Familienbögen. Ein Inventar zur Einschätzung von Familienfunktionen. Göttingen (Hogrefe).
Kuhn R, Dewald A, Riehl-Emde A (2004) Interprofessionelle Qualitätszirkel in der Pränataldiagnostik. Ein Modellprojekt. Psychotherapeut 49: 377–380.
Martin P, Ettrich KU, Lehr U, Roether D, Martin M, Fischer-Cyrulies A (Hg) (2000) Aspekte der Entwicklung im mittleren und höheren Lebensalter. Ergebnisse der Interdisziplinären Längsschnittstudie des Erwachsenenalters (ILSE). Darmstadt (Steinkopf).
Retzlaff R, Hornig S, Müller B, Reuner G, Pietz J (2006) Kohärenz und Resilienz in Familien mit geistig und körperlich behinderten Kindern. Prax Kinderpsychol Kinderpsychiat 55: 36–52.
Riehl-Emde A (2002a) Paar- und Familientherapie mit älteren Menschen. In: Wirsching M, Scheib P (Hg) Paar- und Familientherapie. Heidelberg (Springer), 581–597.
Riehl-Emde A (2002b) Paartherapie – warum nicht auch für ältere Paare? Familiendynamik 27: 43–73.
Riehl-Emde A (2005) Eheliches Burn-out – wo sind Lust und Liebe geblieben? Psychotherapie im Alter 2(3): 49–64.
Riehl-Emde A (2006) Paartherapie für ältere Paare. State of the Art. Psychotherapie im Alter 3(4): 9-35.
Steinhauer PD, Santa-Barbara J, Skinner HA (1984) The Process Model of Family Functioning. Can J Psychiatry 29: 77–88.
Thiel-Bonney C (2002) Beratung von Eltern mit Säuglingen und Kleinkindern. Videogestützte Verhaltensbeobachtung und Videomikroanalyse als Interventionsmöglichkeit. Psychotherapeut 4: 381–384.