Bertram von der Stein und Meinolf Peters: Editorial zum Themenheft
“Persönlichkeitsstörungen”
Persönlichkeitsstörungen bei Älteren - Annäherung mit Widerständen
Sechzig Jahre und kein bisschen weise,
aus gehabtem Schaden nicht gelernt...
(Curt Jürgens 1975)
So lautet der Refrain des populären Schlagers von Curt Jürgens, der im locker-resignierten Ton gesprochen, einen höchst beunruhigenden Aspekt des Alterns berührt. Immer die gleichen »Fehler« auch im Alter zu machen, an starren Mustern scheinbar unbelehrbar festzuhalten und dem Wiederholungszwang wie automatisch zu folgen scheint dem propagierten Wunschbild des aktiven, aufgeschlossenen älteren Menwchen ebenso zu widersprechen wie dem Bild vom weisen Altern, der seine Lebenserfahrungen noch einmal reflektiert und an die nächste Generation weitergibt. Die Rede ist von jenen älteren Menschen, die meist ein Leben lang ›Reibungsflächen‹ boten, und sich auch im Alter nicht unter die beruhigenden Altersbilder subsumieren lassen, ja deren Persönlichkeitsstruktur im Alter manchmal sogar eine weitere Zuspitzung erfährt, wie sie gelegentlich in Karikaturen dargestellt wird. Diese Älteren wecken in uns allzu rasch ein Negativbild des Alters, das wir ansonsten überwunden zu haben glauben. Und auch die alten Distanzierungsreflexe werden wieder wach, plötzlich scheinen die Vorbehalte gegenüber einer Psychotherapie Älterer wieder wirksam zu werden.
Bei dem Thema Persönlichkeitsstörungen im Alter sehen wir uns in der Tat einem schwierigen Feld gegenüber, und manch einer mag sich an den Begriff des Altersstarrsinns oder antiquierte Persönlichkeits- und Psychopathiekonzepte erinnert fühlen, von denen schon Kurt Schneider (1943), einem der Gründungsväter der modernen Psychiatrie, sagte, sie kündeten vom Grenzgang zwischen empathischem Verständnis und moralischer Verurteilung. so haben wir bei diesen Patienten rasch das Gefühl, uns auf Glatteis zu begeben, uns im Dickicht der Kontroversen und Vorurteile zu verstricken oder im Sumpf konzeptueller und diagnostischer Unsicherheiten zu versinken. Dann aber laufen wir Gefahr, uns in ziellosem Aktionismus zu verlieren oder resignativ das Handtuch zu werfen.
Hinzu kommt, dass wir in dieser, von negativen Gegenübertragungsreaktionen geprägten Situation auch von der Wissenschaft im Stich gelassen werden und kaum Hilfestellungen erhalten, die es uns erleichtern würden, mehr Boden unter die Füße zu bekommen. In der Vergangenheit wurden wir mit der Behauptung vertröstet, dass Persönlichkeitsstörungen im Alter abgemildert seien oder seltener vorkommen (Tyrer 1988, Abrams 2000). Als Grund für diese scheinbar beruhigende, uns entlastende Botschaft wurde ein abnehmendes dynamisches Niveau, bzw. eine sich reduzierende Triebspannung angenommen. Doch ist darin mehr zu sehen als ein wissenschaftlich begründetes Gegenübertragungsagieren? Bei genauerer Betrachtung ist die angeführte Begründung eher zweifelhaft. Hat nicht die gerontologische Forschung, die sich auch mit der Entwicklung der Persönlichkeit im Alter befasst hat, nachgewiesen, dass diese relativ stabil bleibt, sieht man von einer Abnahme der Offenheit für Neues und einer Zunahme der Introvertiertheit einmal ab (Lehr 2000). Warum sollte das gerade bei einer pathologisch strukturierten Persönlichkeit anders sein? Und kennen wir nicht alle Ältere, deren Persönlichkeit unter den Zumutungen des Alters akzentuiert erscheint, die verschroben, vielleicht schrullig wirke, deren Einsamkeitsgefühle vielleicht Ausdruck einer lebenslangen Beziehungsstörung sind, und die das soziale Feld des Agierens ersetzt haben durch einen Umgang mit dem Körper, der einem solchen Agieren nicht unähnlich ist. Und haben wir nicht alle schon ältere Patienten erlebt, die so wahllos und missbräuchlich mit Medikamenten umgehen wie jüngere, persönlichkeitsgestörte Menschen andere Suchtmittel konsumieren?
Müssen wir also zur Kenntnis nehmen, dass Persönlichkeitsstörungen im Alter sich nicht auflösen, sondern allenfalls ihr Erscheinungsbild verändern, dieses vielleicht diskreter wird, weniger dem impulsiven, extravertierten Verhalten eines jugendlichen Patienten entspricht, sondern mehr altersspezifische Ausdrucksformen annimmt? Die Klassifikationssysteme für psychische Störungen lassen uns hier im Stich. Betrachtet man etwa die Kriterien für eine Borderline-Diagnose, so sind diese auf einen jungen Menschen zugeschnitten, ein gealterter Borderline-Patient lässt sich damit kaum beschreiben. Abrams (2000) hat diese Problematik eingehend diskutiert und vorgeschlagen, nach ›geriatrischen Äquivalenten‹ Ausschau zu halten, um altersveränderte Erscheinungsweisen von Persönlichkeitsstörungen erkennen und diagnostizieren zu können, solange keine alterspezifischen Diagnosekriterien zur Verfügung stehen. Wenn wir in dieser Weise unseren Blick schärfen, werden wir möglicherweise erkennen, dass sich hinter Diagnosen wie Demenz, Depresssion, psychosomatischen Störungen oder Suchterkrankungen nicht selten unerkannt gebliebene Persönlichkeitsstörungen verbergen.
Die allmählich wachsende Akzeptanz der Psychotherapie älterer Menschen sollte auch die Gruppe Älterer mit Persönlichkeitsstörungen einbeziehen. Doch dazu bedarf es einer intensiveren Beschäftigung mit den angeschnittenen Fragen und Problemen. Hierzu ist nicht nur mehr empirische Forschung vonnöten, die die Wandlung der Störungsbilder im Alter untersucht und uns Erklärungsmodelle an die Hand gibt. Ebenso bedarf es einer Diskussion der therapeutischen Fragen; wir sind aufgefordert, unsere klinischen Erfahrungen mit diesen Patienten, die uns zweifellos oftmals besonders herausfordern, darzustellen und zu reflektieren, um gemeinsam daraus lernen zu können. Hierzu wollen wir mit diesem Heft beitragen und damit Mut machen, auch gegenüber dieser Gruppe bestehende Vorbehalte und Ängste zu überwinden.
Bertram von der Stein und Meinolf Peters
Literatur
Abrams RC (2000): Persönlichkeitsstörungen im Alter: Zusammenhänge zwischen Cluster B-Störungen und Depression. In: Kernberg OF, Dulz B, Sachse U (Hg) Stuttgart (Schattauer) S. 803-810.
Lehr U (2000). Psychologie des Alterns. Heidelberg (UTB). (9. Auflage).
Schneider K (1943) Die psychopathischen Persönlichkeiten. Wien (Deuticke).
tyrer P (1988) Personality disorders: Diagnosis, Managment and course. London (Wright).