Peter Bäuerle: Editorial zum Themenheft
“Biographie und Gehirn”

»Nicht die Dinge an sich beunruhigen den Menschen, sondern seine Sicht der Dinge!« (Epiktet)

Das vorliegende Heft entstand aus einem Teil der Referate des 5. Münsterlinger Symposiums zur Alternspsychoteherapie: »Psychotherapie im Alter - Sicht von Entwicklungspsychologie und Hirnforschung.«
   Lange Zeit wurde davon ausgegangen, dass die Platizität der grauen Gehirnrinde auf junge Jahre beschränkt und im Alter nicht mehr vorhanden sei. Dieses Altersstereotyp blieb für die Forschung und Therapie psychischer Erkrankungen im Alter lange Zeit richtungsweisend und schränkte damit mögliche Fragestellungen ein. Nachdem sich die Forschung nicht nur der neuronalen Plastizität im Alter, sondern auch deren Determinanten, Auswirkungen und Interventionsmöglichkeiten zugewandt hatte (Calero et al. 2007, Dinse 2006), eröffneten sich neue Möglichkeiten. Bewertungen, also affektlogische Prozesse, können als zentrales Bindeglied zwischen der objektiven Umwelt und dem Erleben und Verhalten des Individuums betrachtet werden. Sie wirken sich sowohl strukturell als auch funktionell auf Zustand und Plastizität des Gehirns aus. Sie sind das zentrale Bindeglied der vielfältigen Themen und Perspektiven dieses Heftes.
   Wilhelm Stuhlmann beschäftigt sich in seinem Beitrag mit der Auswirkung früher Bindungserfahrung. Hierbei geht es um biologische, soziale und psychische Determinanten zur Ausbildung neuronaler Strukturen, die lebenslang wirksam bleiben. Ein aktuelles Thema in diesem Zusammenhang ist die »Verbindung von Bindung zum Demenzrisiko«. Die unterschiedlichen Manifestationen der verschiedenen Bindungsstile beim gesunden Erwachsenen und beim Demenzpatienten werden beschrieben.
   Im Zusammenhang dieses Themenheftes können Bindungsstile als Ergebnis früher Bewertungsprozesse aufgefasst werden. Diese Bewertungsprozesse werden als Trait (d.h. im Sinne eines Charakterzugs) übernommen und wirken sich ihrerseits auf hirnbiologische Parameter wie z.B. auf die weitere Neurogenese und umgekehrt aus. Der Artikel wirft die Frage auf, inwiefern wir im Umgang mit unseren Patienten durch das Wissen über deren Bindungsstil individuellere Interventionen ableiten und damit auch ihrem spezifischen Zustand besser gerecht werden können. Dies betrifft nicht nur das einzelpsychotherapeutische, sondern auch das milieutherapeutische Setting.
   Nach dieser Auffassung wirkt sich Bindung als primärer Faktor auf Verlauf und Risiko einer Demenz aus oder hat einen indirekten Einfluss insofern, dass ein günstiger Bindungsstil schützende Erfahrungen, wie beispielsweise soziale, körperliche und kognitive Aktivitäten, leichter ermöglichen. Beispielsweise wird sich jemand mit einem »unsicher-distanzierten Bindungsstil« von sich aus eher nicht an sozialen oder sportlichen Gruppen bzw. an einen Verein anschließen. Ein solcher Anschluss kan einen protektiven Faktor darstellen, der diesem unsicher gebundenen Menschen im Alter dann fehlt.
   Für die Betreuung und Therapie dement gewordener alter Menschen ist es dann wichtig zu klären, welcher Bindungsstil vorhanden ist und wie unter Berücksichtigung dieses Bindungsstils zu welcher Zeit mit welcher Intervention dysfunktionalen Verhaltensweisen begegnet werden kann, um einen möglichst hohen Anteil  an wichtiger Bindung zu erhalten.
   Johann Caspar Rüegg beschäftigt sich mit den »Neurobiologischen Aspekten der kognitiven Beeinflussung von somatoformen Schmerzen im Alter«. Im Zusammenhang dieses Themenheftes lässt sich auch der Schmerz als Ergebnis eines Bewertungs- und Lernprozesses betrachten. Rüegg legt dabei die Schwerpunkte sowohl auf prädisponierende Entwicklungsfaktoren für Schmerzen im Alter als auch auf deren Behandlung. Schmerzen werden immer noch häufig dem Alter per se zugeschrieben. Oft wird übersehen, dass Schmerz nicht am Organ entsteht, sonder das Ergebnis beeinflussbarer Gehirnprozesse ist. Dabei betont Rüegg, dass Reagibilität und Intensität der Schmerzwahrnehmung mit einer neurobiologisch fundierten Psychotherapie reduziert werden können. Als wirkungsvoll erweisen sich dabei vor allem Imaginationstechniken und Suggestion. Bei der Beschreibung der Wirkungsweise bezieht Rüegg auch Ergebnisse bildgebender Verfahren ein. Hier konnte gezeigt werden, dass durch Suggestion Hirnaktivität in Hirnarealen, die für die emotionale Wahrnehmung des Schmerzreizes zuständig sind, gesenkt werden kann, während die Aktivität der Areale, die für die Lokalisation des Schmerzreizes zuständig sind, unbeeinflusst bleiben. Hierin zeigt sich auch neurobiologisch der fundamentale Einfluss von Bewertungsprozessen. Erst durch die emotionale Bewertung entsteht der Schmerz als solcher. Zur Vermittlung des hier aufgezeigten Wissens an Patienten haben sich in der Praxis bildhafte psychoedukative Interventionen wie die anschauliche Schilderung der willentlich gesteuerten Schmerzunempfindlichkeit eines Fakirs bewährt.
   Pasqualina Perrig-Chiello beschäftigt sich in ihrer Arbeit mit der »Bedeutung und Funktion des Lebensrückblicks in der zweiten Lebenshälfte«. Auch hier zeigt sich die Bedeutung von Bewertungsprozessen. Die subjektive Bewertung autobiographisch wichtiger Erfahrung bedingt deren emotionale Verarbeitung und beeinflusst die habituelle und aktuelle Affektivität des Menschen. Die emotionale Gestimmtheit bezüglich relevanter biographischer Ereignisse sollte nicht als Ergebnis von Ereignissen selbst, sondern als Konsequenz von deren Bewertung aufgefasst werden. Aber auch die aktuelle Affektivität beeinflusst ihrerseits den Abruf biographisch wichtiger Informationen. So beschäftigt sich die Autorin mit den Auswirkungen aktueller stressreicher Lebenssituationen auf die Wahrscheinlichkeit des Abrufes negativ bewerteter Lebensereignisse. Diese Ergebnisse sind im Sinne eines »Mood Congruency Effects« (Bower 1981) zu betrachten und sind häufig Elemente eines depressiven Teufelskreises.  Patienten, die sich durch aktuelle stressreiche Lebensereignisse in einem negativen affektiven Zustand befinden, erinnern mit größerer Wahrscheinlichkeit negative Aspekte ihrer Biographie und haben damit ein höheres Risiko, an Depressionen zu erkranken. Umgekehrt korreliert die Anzahl der berichteten positiven Lebensereignisse mit dem psychischen Wohlbefinden. Die Feststellung im Artikel von Pasqualina Perrig-Chiello, dass ältere Menschen, die sich bewusst mit ihren autobiographischen Erinnerungen beschäftigen, seltener depressiv und geistig gesünder sind, muss, falls sie als Kausalaussage interpretiert wird, kritisch hinterfragt werden. Es ist davon auszugehen, dass der vorbestehende Zustand, der sich in Psychopathologie, Bindungsstrukturen, Traumen, Beziehungskontexte, Sozialisation und Persönlichkeitsstruktur zeigt, die Tendenz und Fähigkeit, sich mit autobiographischen Inhalten zu beschäftigen, beeinflusst.
   Insa Fooken beschäftigt sich in diesem Heft mit »Langjährigen Partnerschaften als sozial- und verhaltenswissenschaftlicher Forschungsgegenstand«. Dabei geht sie auf das »Beziehungs- und Trennungsverhalten (bzw. das »Bindungs- und Ent-Bindungsverhalten«) im Gesamtzusammenhang lebensspannenbezogener Entwicklungsprozesse« ein. Die Auswirkungen des Zweiten Weltkriegs auf die biographischen Entwicklungsverläufe auf verschiedene Kohorten (Kindheit vor, während und  nach dem Weltkrieg) werden untersucht. auch hier stellen die subjektiven Bewertungsprozesse das zentrale Bindeglied zu den anderen Arbeiten dieses Heftes dar. Geprägt von den Auswirkungen der Kriegs- und Nachkriegszeit auf familiäre Konstellationen, wie zum Beispiel durch abwesende oder traumatisierte Väter und überlastete und traumatisierte Mütter - um nur einige zu nennen - entstanden in diesen Generationen kohortenspezifische Bewertungen der »heilen« Familie als hohes Gut, dem gegenüber andere Bedürfnisse zurück gestellt wurden.
   Im therapeutischen Prozess müssen äußere, historische Einflüsse auf das Bindungs- und Entbindungsverhalten unserer Patienten reflektiert werden. Vor allem bei alt gewordenen Migranten werden wir uns auch in Zukunft mit den Folgen frühzeitiger Kriegserfahrungen auseinander setzen müssen. Da Bindungen und deren subjektiv erlebte Qualität essentiell für die psychische und physiche Gesundheit sind, ist die Berücksichtigung spezifischer Entwicklungsbedingungen besonders wichtig.
   Genevieve Grimm & Brigitte Boothe berichten über »Glücks- und Unglückserfahrungen im Lebensrückblick alter Menschen«. In ihren Erzählanalysen zeigt sich, dass die Bewertung des Erinnerten eine zentrale Rolle einnimmt. Fast glücklicher als das erinnerte Ereignis ist der Akt des Erinnerns und dessen Einordnung in die aktuelle Lebenssituation: »Es war schwierig, aber heute bin ich dankbar für die Erinnerung«.
   Interessant ist der Unterschied zwischen den Glückserfahrungen bei Männern und Frauen. Glückserfahrungen bei Männern stehen eher im Kontext beruflicher Themen, Glückserfahrungen bei Frauen eher in familiären Zusammenhängen. Da wichtige Erinnerungen offensichtlich mit den zentralen Aspekten des Selbstkonzepts verbunden sind, handelt es sich hierbei wahrscheinlich um einen Kohorteneffekt. Vermutlich ändern sich die hier gefundenen Ergebnisse mit zunehmender beruflicher Selbstverwirklichung der Frauen und der verstärkten familiären Einbindung der Männer.
   Hartmut Radebold gebührt die Auszeichnung, dass er als einer der ersten Autoren sich der »verlorenen« Generation der Kriegskinder angenommen hat. In dieser Generation zeigen sich heute, oft nach einem über 50 Jahre langen freien Intervall unspezifische psychische, psychosoziale und körperliche Symptome. Diese werden von Radebold in den Kontext einer Trauma-Reaktivierung gestellt. In seinem Beitrag wird nicht nur die Symptomatik der Traumafolgen dargestellt, sondern auch Möglichkeiten der Therapie. Die Frage, weshalb erst jetzt dieses Thema aufgenommen wurde, kann einen Grund darin haben, dass Schuldbewertungen im Sinne von Kriegs- und Überlebensschuld blockierend wirksam waren.
   Verena Kast beschäftigt sich mit der »Bedeutung der Freudenbiographie im Alter«. Sie räumt gründlich mit dem vorherrschenden Altersstereotyp auf, dass alte Menschen dieselben Erinnerungen immer wiederkehrend auf dieselbe Art verbunden mit demselben Affekt wiederholen und perseverieren würden.
   Bei Erinnerungen können unterschiedliche Typen unterschieden werden:

  • Typus integrative Erinnerung, d.h. konstruktive Bewertung der Vergangenheit und damit verbunden Sinngebung und Kohärenz des Lebenszusammenhangs.

  • Typus instrumentale Erinnerung, d.h. aus den Erfahrungen der Vergangenheit zu profitieren und sich damit der Gegenwart anzupassen im Sinne der Entwicklung von Problemlösungsstrategien und Copingaktivitäten.

 
Diese beiden Arten von Erinnerung sind hilfreich. Davon ist die narrative Erinnerung zu unterscheiden, worunter man eine simple Beschreibung der Vergangenheit versteht, ohne diese zu analysieren. Die Bedeutung von Erinnerungen für das Leben wird in Bezeichnungen wir der defensiven Erinnerung, als Flucht in alte Zeiten, um der Gegenwart zu entkommen, oder der ruminativen (wiederkäuenden) Erinnerung deutlich, mit der man durch ständige Wiederholung versucht, störende Ereignisse aus der Vergangenheit zu bewältigen. Wenn Patienten Erinnerungen in die Therapie einbringen, lohnt es sich, den jeweiligen Charakter und damit auch die Nützlichkeit für die Therapie zu überprüfen. Nicht die harten unabänderlichen Fakten der Biographie sind entscheidend, sondern deren subjektiven Bewertung.
   Dass und vor allem wie eine Neubewertung auch im Alter gelingen kann, zeigt Verena Kast in ihrem Artikel auf. Sie will dazu beitragen, dass sich alte Menschen mit bisher negativ bewerteten Aspekten ihrer Biographie versöhnen und durch Erarbeitung einer »Freudenbiographie« zu einer verbesserten aktuellen Stimmung und zu einem besseren Selbstwertgefühl kommen. Dabei soll Vergangenes nicht mit heutigen Maßstäben bewertet werden. Wir müssen unseren Patienten helfen, Dinge, die vor 60 Jahren geschehen sind, nicht auf der Grundlage ihres heutigen Wissens und ihrer heutigen Erfahrungen zu bewerten, zu entwerten oder gar zu verurteilen. »Auch die Aspekte der Lebensgeschichte, die schwierig sind, mit einem freundlicheren und empathischeren Blick für sich selber neu zu erzählen«, um »sich mit dem Leben zu versöhnen«, sind wichtig. Die Erarbeitung einer Freudenbiographie weckt »Freude und gehobene Emotionen, die zur Zufriedenheit im Alter beitragen«. Kast betont weiter, dass Erinnerungen »durch die mit ihnen verbundenen Vorstellungen in ein aktuelles emotionales Erleben verwandelt« werden können. Hilfreich sei vor allem ein konkretes Nachfragen nach positiven biographischen Episoden. »Um Freuden wieder zu reaktivieren, ist es wichtig, präzise nach ihnen zu fragen. Was hat Ihnen gestern oder heute Freude gemacht? Wie hat es sich angefühlt, wie hat es auf Ihre Stimmung gewirkt und wie hat es Ihr Verhalten verändert?« Die Erstellung der eigenen Freudenbiographie scheint im Kontext einer beginnenden Demenz bedeutsam vor allem im Hinblick darauf, dass Details biograpischer Geschichte zuerst verloren gehen, der zugehörige Affekt aber bis ins fortgeschrittene Stadium der Demenz erhalten bleibt und als quälend empfunden werden kann. Es scheint eine große Ressource darzustellen, gemeinsam mit Demenzpatienten eine Freudenbiographie zu erarbeiten, solange dies noch möglich ist, um diese in späteren Stadien der Demenz zur gezielten Herstellung positiver affektiver Zustände und eines positiven Selbstbildes zur Verfügung zu haben. Frau Kast betont »Gute Geschichten erzählen wir allerdings nur, wenn andere Menschen uns gut zuhören. Dann aber wird in unseren Geschichten unsere Vorstellungsfähigkeit wach, werden unsere Gefühle geweckt - Vergangenes wird vergegenwärtigt, aktualisiert und belebt uns.« Wir sollen »Freuden aus der eigenen Lebensgeschichte über die Imagination zurückholen.« »Das Erstellen einer Freudenbiographie ist in jedem Alter sinnvoll und möglich.«
   Ich wünsche Ihnen mindestens ebenso viele fruchtbare Impulse beim Studium dieser Ausgabe, wie ich sie bei der Auseinandersetzung mit den Texten für die Formulierung dieses Vorwortes erfahren durfte.

Peter Bäurle (Münsterlingen)

Literatur

Bower GH (1981) Mood and memory, American Psychologist 36: 129-148.
Calero-Garcia MD, Navarro-Gonzalez, Munoz-Manzano L (2007) Influence of level of activity on cognitive performance and cognitive plasticity in elderly persons. Arch Gerontol Geriatr. 2007 (Epub ahead of print)
Dinse HR (2006) Cortical reorganization in the ageing brain. Prog Brain Re., 157:57-80.