Bertram von der Stein: Editorial zum Themenheft

“Spiritualität”

Spiritualität und Alter – Hindernis oder Hilfe in der Therapie?

Was ist eigentlich Spiritualtiät? Zunächst einmal ein undeutlicher, vielfältiger, vielschichtiger und veränderlicher Begriff, der oft mit Religion gleichgesetzt wird. Der Versuch einer eindeutigen Definition bleibt Stückwerk und wäre nur pseudopräzise. Ich möchte deshalb zunächst folgendes Stimmungsbild zeichnen:

Mit der Spiritualität könnte es sich so verhalten, wie mit der Wirkung einer orthodoxen Kirche auf einen Besucher. Der Innenraum, meist mit einem kreuzförmigen Grundriss, ist vielgestaltig und wirkt verwinkelt, er ist in seiner Gesamtheit darauf ausgerichtet, das Gegenständliche zu überhöhen. In diesem illusionären Raum, der eine Vorstellung vom Himmel vermitteln soll, dient alles der Gefühlssteigerung. Wände, Kuppeln und Gewölbe sind mit prachtvollen Fresken und Mosaiken verziert; Gold und Silber glänzen im mystischen Wechsel von Hell und Dunkel. Das Allerheiligste bekommt der Kirchenbesucher nicht zu sehen; die Ikonostase schirmt es mit ihren Bildern von der Gemeinde ab, ähnlich wie in manchen katholischen Kirchen der Lettner, der das einfache Volk im Kirchenschiff vom Altarraum trennt. Die Tür bleibt verschlossen, der Raum dahinter ist tabu, er bleibt ein „Übergangsraum“ für Spekulationen, für Erhabenheit, Gott und Ewigkeit, zumindest aber für eine erhabene überpersonale Idee – oder für Leere und Nichts?

Um bei Architektur zu bleiben: Ist es ein Zufall, dass Motive mystischer Überhöhung wie Zitate von Sakralbauten sich in den Bahnhofsbauten des 19. Jahrhunderts in amerikanischen Wolkenkratzern, in Moskauer Metrostationen und stalinistischer Zuckerbäckerarchitektur zeigen? Gibt es auch eine Spiritualität nichtreligiöser Art, eine Spiritualität des Vernunftglaubens, des Positivismus, des Konsums, des Kommunismus und anderer Ideen, die als spirituelle Sinngebungsversuche für die menschliche Existenz dienen? Ich meine ja! Solche Einstellungen erheben, ebenso wie Religionen, häufig einen Absolutheitsanspruch.

Spiritualität (lateinisch: Spiritus, Geist, Rauch) bedeutet im weitesten Sinne eine Form von Geistigkeit, in der alles Wirkliche Geist und Erscheinungsform des Geistes ist. Spiritualität steht für die Verbindung zum Transzendenten oder zur Unendlichkeit. Transzendenz weist nach herkömmlichem Verständnis auf einen Bereich hin, der über das empirisch Erfahrbare hinausgeht und über den in der Metaphysik philosophiert wird. Religiöse Spiritualität manifestiert sich aber auch in der Lebenspraxis. Spiritualität in diesem Sinne geht davon aus, dass die menschliche Seele ihren Ursprung einer göttlichen oder transzendenten Instanz verdankt oder zu einer höheren Wirklichkeit in Beziehung steht. Spiritualität hat so Auswirkung auf die Ausgestaltung des individuellen Lebens. Hier gibt es eine Vielzahl von Bedeutungsnuancen, die sich teilweise überschneiden. In Nachschlagewerken werden Spiritualität mit Frömmigkeit häufig gleichgesetzt.

Heute ist Spiritualität darüber hinaus zu einem Modewort einer Bewusstseinshaltung geworden, die mit Begriffen wie Esoterik, Lebenshilfe, New Age und alternativer Heilkunde in Verbindung steht.

Spiritualität kommt auch in Gebet, Meditation, Gottvertrauen, Geborgenheit, Erkenntnis, Weisheit, Einsicht, Transzendenz, Mitgefühl, Toleranz, Ehrfurcht und Dankbarkeit aber auch im bewussten Umgang mit anderen und sich selbst zum Ausdruck. Spirituelle Erfahrungen werden oft als mystische Erleuchtung, Selbst– und Gottesrealisation, ahnungsvolle Schau, ergreifende Erfahrung und als religiöses Evidenzerlebnis beschrieben. Spiritualität ist auch die gelebte praktische religiöse Erfahrung in allen Religionen. Mit einer spirituellen Einstellung wird versucht, das persönliche Leben in Einklang mit dem Weg der Lebenskraft zu vollziehen, oft verbunden Verschmelzungsfantasien, in denen man sich mit der ganzen Welt verbunden fühlen kann.

Noch vor wenigen Jahren waren Themen wie Spiritualität und Alter in Psychoanalyse und Psychotherapie Außenseiterthemen. Die Ursachen hierfür sind vielfältig. Radebold (1994, 1997) wies auf Freuds eigene Widerstände hin sich mit dem Alter zu beschäftigen. Die Trennung von Religion und Wissenschaft in der Aufklärung und die Dominanz der Naturwissenschaften führten zur Deutungshoheit von Medizin, Psychologie und Sozialwissenschaften über Körper, Geist und Seele. Die Religionskritik im 19. Jahrhundert hat die dualistischen Vorstellungen der Trennung von Leib und Seele in Frage gestellt. Deshalb beschäftigen sich Psychoanalyse und Psychosomatik nicht mit der Erforschung einer im Leibe wohnenden unsterblichen Seele, sondern mit dem Menschen als einer bio-psycho-sozialen Einheit.

Feuerbach, Marx, Nietzsche und Freud vertraten Sichtweisen, wonach Vorstellungen von Gott Projektionen menschlicher Beziehungen, Wünsche und Konflikte seien. Freuds religionskritische Untersuchungen führten bei vielen Psychoanalytikern dazu, religiöse Phänomene in den Bereich des Infantilen und Pathologischen zu verweisen. In „Zwangshandlungen und Religionsausübung“ (1907) entdeckte er den Zusammenhang zwischen neurotischen Ersatzhandlungen und religiöser Praxis unter dem Aspekt individueller und kollektiver Schuldendlastung. Seine Argumentationsrichtung zielte in „Zukunft einer Illusion“ (1927) darauf ab, Religion als magische, allgemeinmenschliche Zwangsneurose zu verstehen, die allein durch Wissenschaft überwunden werden kann.

Ein zweiter Argumentationsstrang Freuds in „Totem und Tabu“ (1912) und in „Der Mann Moses und die monotheistische Religion“ (1938) betont die ontogenetischen und phylogenetischen Aspekte von Religionen im Hinblick auf ihre Wirkung als gesellschaftlicher Ordnungsfaktor durch Triebverzicht. Nach Freud leitet sich eine Illusion aus menschlichen Wünschen ab die nicht realisiert werden können, sie muss aber nicht notwendigerweise falsch sein oder im Widerspruch zur Realität stehen.

Der Glaube, dass Religion und Spiritualität sich restlos im psychoanalytischen Denken auflösen lassen, das auf Vernunft basiert und der Wissenschaft den Weg bahnt, hat sich schon nach der Auffassung von Pfister (1928) selbst als eine fromme Illusion herausgestellt. Freud musste sich aber am Anfang des 20. Jahrhunderts noch im Streit zwischen wissenschaftlicher Aufklärung und den Denkverboten mächtiger Kirchen behaupten. Diese religiösen Denkverbote gelten heute kaum mehr; der äußere Konflikt hat sich in einen individualisierten transformiert, der intrapsychisch ausgetragen werden muss. Es stellt für viele aufgeklärte Menschen ein Tabubruch dar, sich mit spirituellen Themen zu beschäftigen - die Angst dem Okkultismus zu erliegen ist groß.

Spirituelle Wertesysteme in Therapien unterliegen oft einem Tabu, Patienten sprechen unbefangener über Sexualität als über solche Themen. Die schamhafte Ausklammerung religiöser Fragen führt dazu, dass ihr Einfluss unterschätzt wird, es besteht dann die Gefahr, dass sie ein unintegriertes und destruktives Eigenleben führen und dass Patienten oft mit brennenden Fragen und Ängsten alleine gelassen werden. Dass angesehene Psychoanalytiker undogmatisch auf die Vereinbarkeit von religiösen Überzeugungen mit der eigenen psychoanalytischen Identität hingewiesen haben (Kernberg 2000; Chasseguet-Smirgel 1984; Rezzuto 1979; Zilboorg 1958), hat seit längerer Zeit eine offene Diskussion angestoßen, die notwendig ist, um heutigen Therapieanforderungen gerecht zu werden.

Menschen werden heute deutlich älter als vor hundert Jahren. Für die Behandlung Älterer gilt, dass der beschleunigte Kulturwandel während ihres Lebens von ihnen eine hohe Umstellungsfähigkeit fordert. Ältere werden gleichzeitig immer mehr mit Ungleichzeitigen konfrontiert. Technischer Fortschritt, Globalisierung und Migration eröffnen neue Möglichkeiten und schaffen gleichzeitig neue Unsicherheiten. Dazu gehört auch – für viele Ältere höchst irritierend – ein Durchlässigwerden traditioneller Herkunftsmilieus und eine Fremdheit in vermeintlich vertrauter Umgebung. Entlastende Funktionen durch Routine, Riten und Traditionen sind heute stärker denn je in Frage gestellt; dementsprechend ist das Ideal der Altersweisheit als ein den Selbstwert stabilisierendes Moment für viele Ältere kaum erreichbar. Verluste, Krankheiten und bilanzierende Gedanken über verpasste Chancen drängen sich vielmehr ins Bewusstsein und lassen manchen alten Menschen verzweifeln und verbittern.

Die Nähe zu existenziellen Tatsachen, nämlich dass es im Leben ungerecht zugeht, dass man Leid und Tod nicht entfliehen kann, dass selbst die intensive Nähe zu anderen Menschen eine grundsätzliche Einsamkeit nicht überwindet, könnte, vordergründig betrachtet, alte Menschen der Religion und Spiritualität näher bringen. Wohin bewegen sich die Älteren? Flüchten sie in den Konsum? Andererseits: Ist Spiritualität für Ältere nicht eine konkrete Lebenshilfe? Kann sie helfen bisher ungelöster Konflikte durchzuarbeiten und reale Verluste zu betrauern oder führt sie zur Realitätsverleugnung?

Viele dieser Themen werden in den Beiträgen dieses Bandes berücksichtigt, eine einfache Antwort gibt es nicht. Es ist aber nicht möglich, das gesamte Spektrum der Überlegungen und Erfahrungen zur Spiritualität im Alter hier zu erfassen. Nach einem Überblick kommen Autoren zu Wort, die Spiritualität im Juden- und Christentum, also im Rahmen weitgehend kohärenter Sinngebungssysteme aus theologischer Sicht darstellen, während in den danach geschilderten therapeutischen Erfahrungen deutlich wird, welche Schwierigkeiten bei älteren Menschen bestehen, einen Zugang zu einer Halt gebenden Spiritualität zu bekommen.

In dogmatisch geschlossenen Sinngebungssysteme kommt es leicht zu formelhafte Antworten und idealisierenden Beispielen, Patienten mit ihren Zweifeln und Unsicherheiten werden kaum dort abgeholt, wo sie stehen. Es ist aber auch nicht hilfreich, wenn Psychotherapeuten die beunruhigende Dimension der Spiritualität ausklammern. Können sie dann andere Menschen überhaupt verstehen? Die Absicht dieses Bandes ist es, einen Beitrag zu einem Brückenschlag zu leisten. Es wäre für ältere Patienten hilfreich, wenn Seelsorge und Psychotherapie sich im Umgang mit alten und leidenden Menschen mehr ergänzen würden. Trotz aller historischer Vorbehalte und Vorurteile auf beiden Seiten ist es wichtig, wie Raguse (2000) vorschlägt, sich auf die gemeinsamen Wurzeln zu besinnen, nämlich auf das Gottes- und Menschenverständnis der jüdischen Tradition. Die hier publizierten Artikel zeigen aber, wie unterschiedlich die Denkweisen sind. Auf beiden Seiten gilt es, sich auf die spirituelle Lebenswelt der Patienten einzulassen und sich mit einer Spiritualität zu beschäftigen, die oft von unserem heutigen Lebensgefühl weit entfernt zu sein scheint. Die Wurzeln der religiösen Welt alter Menschen reichen bis ins 19. Jahrhundert zurück.

Abschließend möchte ich auf einen Gedanken Winnicotts (1953) hinweisen. Spiritualität ist sicher auch dann hilfreich, wenn man sie als illusionäre Übergangswelt auffasst, die den Ursprung von Kreativität, Phantasie und Religion darstellt und die dementsprechend therapeutisch genutzt werden kann. Eine intellektualisierte Endmythologisierungshaltung ist auch diesem Grund nicht hilfreich und gefährdet therapeutische Bündnisse. Der kreative Aspekt von Spiritualität kann ein wichtiger Verbündeter sein, um ältere Patienten auch in diesem Grenzbereich zu begleiten.

Bertram von der Stein (Köln)

 

Literatur

Chasseguet-Smirgel J (1984) Creativity and Perversion . New York (Norton)

Freud S (1907) Zwangshandlungen und Religionsausübung. GW VII. Frankfurt (Fischer 1972) 127-139.

Freud S (1912) Totem und Tabu. GW IX. Frankfurt (Fischer 2000).

Freud S (1927) Die Zukunft einer Illusion GW XIV. Frankfurt (Fischer 1972) 323-380.

Freud S (1930) Unbehagen in der Kultur GW XIV. Frankfurt (Fischer 1972) 419-506.

Freud S (1939) Der Mann Moses und die monotheistische Religion. GW XVI. Frankfurt (Fischer 1972) 101-246.

Kernberg O (2000) Einige Überlegungen zum Verhältnis von Psychoanalyse und Religion. In: Basler M (Hg) Psychoanalyse und Religion. Versuch einer Vermittlung Stuttgart (Kohlhammer) 107-134.

Pfister O (1928) Die Illusion einer Zukunft. Imago Heft 2/3

Raguse H (2000) Grenzübertritte zwischen Seelsorge und Psychoanalyse. In: Basler M (Hg) Psychoanalyse und Religion. Versuch einer Vermittlung Stuttgart (Kohlhammer) 53-65.

Rizuto AM (1979) The Birth of the living God. Chicago (University Press).

Radebold H (1994) Freuds Ansichten über die Behandelbarkeit Älterer. Z Psychoanal Theorie und Praxis 9: 247-259.

Radebold H (1997) Psychoanalyse und Altern. Zwei einander Fremde beginnen den Dialog. In: Radebold H (Hg) Altern und Psychoanalyse. Göttingen (Vandenhoek & Ruprecht).

Winnicott DW (1953) Übergangsobjekte und Übergangsphänomene. In: Winnicott DW (1979) Vom Spiel zur Kreativität. Stuttgart (Klett-Cotta) 10-36.

Zilboorg G (1958) Freud and Religion. London (Geoffry Chapman).