Eike Hinze: Editorial zum Themenheft
“Sterben, Endlichkeit und Tod”
Editorial Sterben, Endlichkeit und Tod
»Sterben, Endlichkeit und Tod« – so hieß das Thema des 19. Kasseler Symposiums über Psychoanalyse und Altern. Die Druckversionen der dort gehaltenen Vorträge bilden den Inhalt dieses Heftes. Warum wurden in den bisherigen 18 Symposien Sterben und Tod noch nie ausführlich behandelt? Man könnte doch erwarten, dass bei älteren Patienten mit ihrer höheren Sterbewahrscheinlichkeit, Sterben und Tod häufiger Thema in Psychotherapien sind als bei jüngeren Patienten. Eine Erklärung für dieses auffällige Fehlen könnte sein, dass man sich in den Anfangsjahren der sich etablierenden Alternspsychotherapie eher mit den Entwicklungsmöglichkeiten im Alter befasste und weniger mit den Begrenzungen und dem Tod, um sich von den bis dahin vorherrschenden Altersstereotypien der Stagnation und des Verfalls zu lösen. Auch standen bisher die über 60- und 70-Jährigen im Mittelpunkt unserer Aufmerksamkeit, also Menschen im sogenannten dritten Lebensalter. Patienten des vierten Lebensalters, also jenseits des 80. Lebensjahres, in dem das Alter oft zum Leiden werden kann und von dem der Altersforscher Paul Baltes sagte, es sei am besten, gar nicht erst in die Jahre dieser Lebensphase hineinzuleben, standen noch sehr wenig im Blickwinkel der Alterspsychotherapeuten. Der Ausspruch von Baltes (Etzold 2003) in einem Zeitungsinterview macht den emotionalen Widerstand deutlich, den wir alle bei Annäherung an dieses vierte Lebensalter spüren. Er zeigt aber auch, dass es notwendig ist, zwischen Sterben und Tod zu differenzieren. Baltes spricht ja gerade nicht von dem Schrecken des Todes, sondern von der Angst vor Hilflosigkeit und Siechtum.
Die alten Patienten in meiner Praxis schreckt weniger der Tod als vielmehr die Aussicht auf ein elendes Siechtum und die möglicherweise qualvollen Umstände des Sterbens. Aber ist es wirklich so einfach, wie Pollock (1982) sagt, dass »anders als jüngere Patienten der alte Patient den Tod nicht fürchtet«? Kein Mensch kann sich einen Zustand vorstellen, in dem es ihn als denkendes und erlebendes Wesen nicht mehr gibt, das eine wie auch immer geartete Beziehung zu einer Umgebung aufrechterhält. Diesem Dilemma der Un-Denkbarkeit bzw. Nicht-Symbolisierbarkeit des Todes wirkt die Vorstellung von einem Weiterleben nach dem Tode entgegen. Das Sterben kann ängstigen, während der eigene Tod vielleicht eher die grundlegende Kränkung impliziert, nicht mehr zu existieren. Die Beiträge dieses Heftes beschäftigen sich also mit Themen, die sowohl bei Therapeuten als auch bei Patienten Angst, Unlust und Widerwillen wachrufen und zur Verleugnung einladen können.
Die Diskussionen der einzelnen Vorträge gestalteten sich außerordentlich lebhaft und emotional. Das ist zum einen den Vortragenden zu verdanken, zum anderen aber auch der Gelegenheit, über emotional hoch besetzte, aber meist tabuisierte Themen sprechen zu können. Sörries spricht zwar davon, »dass die alten Tabus, nicht über Sterben, Tod und Trauer zu sprechen, zerbrachen.« Aber er betont auch, »dass die im öffentlichen Diskurs überwunden geglaubte Tabuisierung des Todes wieder dominiert, sobald das Antlitz des Todes in unserem persönlichen Umfeld sichtbar wird«. Die einzelnen Beiträge bieten sehr vielfältige Blickwinkel auf die Themen des Symposiums. Sie seien hier nur stichwortartig angeführt: Suizid (Altenhöfer), psychoanalytische Reflektionen (Biermann), unbewusste Körperwahrnehmungen bei letalen Erkrankungen und Gegenübertragung in der Altenpflege (Junkers), Demenz (Kojer), Literatur (Luft), Religion, Musik (Raguse), Bestattungsriten (Sörries), Narzissmus (Teising), Religion (von der Stein).
Es ist interessant, dass sich zwei Beiträge (Raguse, Teising) auf die »facts of life« von Roger Money-Kyrle (1971) beziehen, insbesondere auf die Erkenntnis der Unvermeidlichkeit von Zeit und Tod. Nun beruht das Konzept der facts of life auf dem platonischen Denkhintergrund Bions mit seinen inneren Ideen bzw. Präkonzepten. Und das Bionsche Denken bildet gegenwärtig häufig die Basis für psychoanalytische Reflektionen. Man kann sich aber auch fragen, warum gerade diese »facts of life« so populär geworden sind unter Analytikern. Liegt es daran, dass sie eine Ergänzung für unser Theoriengebäude bilden, in dem vielleicht manchmal gewisse Lebenstatsachen gegenüber Hypothesen und Theorien zu kurz kommen? So ist die Erwähnung des Todestriebes inflationär geworden. Aber der reale Tod verschwindet dabei leicht aus dem Blick.
An zwei Themen entzündete sich die Diskussion besonders lebhaft, an Fragen des Glaubens und der Religiosität (Raguse, von der Stein) und an der Möglichkeit von Gewaltbereitschaft und ausagierter Gewalt in der Gegenübertragung bei der Pflege alter, hinfälliger, besonders auch dementer Menschen (Junkers, Kojer). In ihrer Mehrzahl sind Psychotherapeuten bzw. Psychoanalytiker eher glaubens- und religionsskeptisch. Mit den heute alten Menschen nahe ihrem Lebensende, die oft noch eine religiöse Sozialisation erlebt haben, begegnet der Therapeut aber häufig einer intensiveren Beschäftigung mit Glaubensinhalten bzw. auch Glaubenskonflikten. Sie zu vernachlässigen hieße die seelische Wirklichkeit des Patienten nicht vorbehaltlos anerkennen. Es zeigte sich, dass hier ein großer Diskussionsbedarf besteht, da diese Themen in der Fachliteratur kaum behandelt werden.
Besonders emotional gestaltete sich die Diskussion der Gewalt in der Altenpflege (Junkers, Kojer), erkennbar auch an manchen Missverständnissen und sprachliche Fehlleistungen. Dieses Thema überschreitet die Grenzen der Psychotherapie und betritt einen hochbrisanten gesellschaftlichen Raum. Vom Patienten ausgehende projektive Identifizierungen und charakterliche Prädispositionen auf Seiten von Pflegepersonen können eine unheilvolle Allianz bilden. Die Altenpflege stellt hohe persönliche und fachliche Anforderungen an das Personal. Dem damit verbundenen Kostendruck versucht man sich aber gesellschaftlich durch Problemverleugnung zu entziehen. Einem ähnlichen Phänomen begegnet man derzeit auch bei der Diskussion der außerfamilialen Kleinkindbetreuung, wo man sich gerne in Diskussionsschleifen verliert und dabei die hohen gesellschaftlichen Kosten verleugnet, die eine Bereitstellung von ausreichend vielen und genügend kompetenten Betreuungspersonen erfordern würde.
So ist es ein Charakteristikum des Symposiums und damit auch dieses Heftes, dass die Beiträge ein lebendiges Oszillieren ermöglichen zwischen einer detaillierten Untersuchung des therapeutischen Raumes und dem Übergang zu allgemeineren Fragen der Conditio humana, der Geschichte, der Kunst und der Gesellschaft.
Eike Hinze (Berlin)
Literatur
Etzold S (2003) Altersforschung. Der Rat der Greise. DIE ZEIT 33:24.
Money-Kyrle R (1971) The Aim of Psychoanalysis. Int J Psychoanal 52: 103–106.
Pollock GH (1982) On Ageing and Psychopathology. Int J Psychoanal 63: 275–281.