5. Jahrgang 2008,
Heft 2: Eine Institution stellt sich vor
Alexis Matzawrakos & Martin Enge:
Gerontopsychiatrische und psychotherapeutische Station für affektive Störungen im Alter der Landesnervenklinik Sigmund Freud in Graz
Die Landesnervenklinik Sigmund Freud (LSF) ist eine öffentliche Sonderkrankenanstalt mit rund 780 Betten. Sie gliedert sich in 7 bettenführende Abteilungen: drei allgemeinpsychiatrische, eine gerontopsychiatrische, eine für Abhängigkeitserkrankungen, eine für neuropsychiatrische Kinder- und Jugendmedizin sowie eine für Neurologie. Als Spezialeinrichtungen gibt es gemeinsame Einrichtungen für Schlafmedizin, manuelle Medizin, Innere Medizin und ein ausgelagertes Beratungszentrum.
Die Schwerpunktstation GER 4 der Abteilung für Gerontopsychiatrie wurde 2004 unter dem Primar Dr. Farhoud Yazdani und der damaligen Oberärztin Dr. Erika Richter gegründet. Sie besteht aus 28 Betten in Zwei- und Vierbettzimmern. Da die Landesnervenklinik Sigmund Freud einen Akutversorgungsauftrag hat, beschränkt sich die durchschnittliche Aufenthaltsdauer der Patienten auf drei bis vier Wochen. Unser Einzugsgebiet erstreckt sich über die ganze Steiermark und das südliche Burgenland. Wir arbeiten mit sämtlichen psychosozialen Institutionen und Pflegeeinrichtungen dieser beiden Bundesländer zusammen.
Unser Schwerpunkt
Die gemischte Station GER 4 für affektive Störungen im Alter hat einen psychotherapeutisch orientierten Schwerpunkt mit einer verhaltenstherapeutischen und systemischen Ausrichtung. Das Stationskonzept hat sich ursprünglich aus einer tiefenpsychologischen Tradition entwickelt, auch diese Orientierung fließt in die Betrachtung und Behandlung unserer Patienten ein.
Wir behandeln in erster Linie Patienten mit depressiven und wahnhaften Zustandsbildern, Somatisierungsstörungen, Angststörungen, psychosomatische Erkrankungen und Patienten in akuten psychosozialen Krisensituationen. Die Station wird offen geführt. Nur sehr selten werden Patienten in suizidalen Krisen vorübergehend mittels Krisenblatt (eine Art Antisuizidpakt) hier behandelt.
Zur Station gehört eine Ambulanz für affektive Störungen, die auch als Nachsorgeambulanz dient. Termine können telefonisch vereinbart werden.
Die angewandten Methoden sind:
Kurztherapien,
Autogenes Training und Progressive Muskelrelaxation nach Jacobson,
Kognitive Verhaltenstherapie und
Systemische Therapie in Form von in Einzel- und Gruppentherapien.
Unser Ziel besteht in der Wiederherstellung des Selbstwertgefühls durch Ich-Stärkung zur:
Bewältigung drohender oder realer Verluste,
Trauerbewältigung, Auseinandersetzung mit Sterben und Tod,
Angstbewältigung,
Vergangenheitsbewältigung,
Akzeptanz des Alterungsprozesses und der oft damit verbundenen Erkrankungen,
Sinn- und Selbstfindung,
Verbesserung der Kommunikationsfähigkeit,
Besserung der Lebensqualität und
Verbesserung der Alltagskompetenz
Wir bieten folgende therapeutische Aktivitäten an:
Gruppen- und Einzelpsychotherapie,
Kreativtherapie: Malgruppe, gemeinsames kreatives Arbeiten mit Kindern (Alt trifft Jung), Musikgruppe, Kreativgruppe, Ergotherapie, Kochgruppe, Genuss-Gruppe,
Körperorientierte Therapien wie Physiotherapie, Sporttherapie, Walking, konzentrierte Wirbelsäulengymnastik und Aktivierungsgruppe,
Coping-Gruppe,
Entspannungsgruppe,
Biofeedback,
Lichttherapie,
Psychopharmakotherapie,
Psychoedukation,
Angehörigenberatung und Familiengespräche,
Soziotherapie, Verbindung zu psychosozialen Einrichtungen und den
Morgenkreis.
Ganz im Sinne der Psychoedukation ist es unser Bestreben, gezielt zur Teilnahme an den (an sich freiwilligen) Therapieangeboten zu motivieren. Einige dieser therapeutischen Aktivitäten sollen hier näher beschrieben werden.
Der Morgenkreis
Im täglichen gemeinsamen Erzählen können schöne und positive Erfahrungen wieder erlebt und ausgetauscht werden. Diese spezielle Art der Biografiearbeit ermöglicht ein neues Verständnis der eigenen Lebensgeschichte und gibt die Möglichkeit, sich mit der eigenen Vergangenheit auszusöhnen. Biografiearbeit ist eine niederschwellige »natürliche« Psychotherapie, die von Älteren leichter als andere Formen der Psychotherapie akzeptiert wird.
Ältere Mensch finden durch die Gruppe Verständnis, Interesse und Wertschätzung, aber auch Spaß und Unterhaltung. Die Gruppe erweitert die Kontaktmöglichkeiten und fördert auch kreative Leistungen.
Alt trifft Jung
Dieses Projekt entstand in Zusammenarbeit mit dem anstaltseigenen Kindergarten. Einmal pro Woche kommt eine Kindergärtnerin mit einer Gruppe 4–6-jähriger Kinder auf die Station, um gemeinsam mit unseren Patienten im Beisein einer Therapieschwester zu basteln. Eine ähnliche Zusammenarbeit ist mit einer Volksschule im Entstehen. Zu besonderen Anlässen (Fasching, Ostern, Advent, Weihnachten) werden von den Kindern Lieder oder kleine Theaterstücke auf der Station aufgeführt.
Aus der Begegnung der Generationen entstehen für beide Seiten Vorteile. Interesse am Zusammensein von Alt und Jung wird geweckt und der Austausch der Generationen gefördert. Man kann voneinander lernen, gegenseitige Vorurteile werden abgebaut. Projekte, wie diese, können damit eine Antwort auf veränderte Familienstrukturen darstellen. Viele unserer Patienten haben den Kontakt zu ihren Enkel- und Urenkelkindern verloren, und viele Kinder den Kontakt zu ihren Großeltern.
Bei Älteren werden durch diese Kontakte Erinnerungen an die eigene Kindheit und Schulzeit, ergänzend zur Biografiearbeit im Morgenkreis, geweckt. Selbst schwer Depressive, die für die Ergo- oder Maltherapie zunächst keinen Antrieb entwickeln, lassen sich – fast wie selbstverständlich – von den Kindern zum gemeinsamen Basteln oder Malen animieren. Die Kinder erhalten die Möglichkeit, Respekt und Anerkennung für Ältere zu entwickeln. Sie erleben bei den älteren Patienten, dass auch Erwachsene »nicht mehr Alles können«, was sie selten im Privatbereich erfahren. Von Seiten der Leitung des Kindergartens und der Volksschuldirektorin werden diese Form des sozialen Lernens hoch geschätzt. Weitere Schulprojekte (Interviews mit Patienten, Aufsätze etc.) sind deshalb geplant.
Walking-Gruppe
Täglich gehen die Patientinnen und Patienten begleitet von Pflegepersonal für eine halbe Stunde durch den großen Park unsere Klinik, bei Sonne und bei Nebel, an warmen und an kalten Tagen; einmal in der Woche findet das Walking auch in der Begleitung eines Arztes oder einer Ärztin statt.
Schon beim Verlassen des Gebäudes scheint eine Veränderung bei den Patienten vorzugehen. Sie zeigen sich als Menschen, die ihre besonderen Erfahrungen in der Natur haben. Das Erdbeerfeld beispielsweise lässt manche an Erinnerungen an die frühere Arbeit in der Landwirtschaft anknüpfen; Gedanken, wie es den Blumen daheim jetzt wohl gehen mag, kommen hoch. Das Gehen in der Gruppe, das Vorausgehen oder dann wieder das Warten um zusammenzukommen, bringt neben körperlichen Erfahrungen eine Umstimmung der Wahrnehmung und der Fokussierung. Zuweilen ergeben sich Themen, die bei Einzelgesprächen im Sitzen nicht auftauchen. Bewegung, körperliches Training und bei Schönwetter eine natürliche Lichttherapie ergeben sich nebenbei.
Der Name wurde in Anklang an die nordic walking Bewegung gewählt, um diese Gruppe aufzuwerten. Die Akzeptanz durch die Patientinnen und Patienten ist hoch.
Das multiprofessionelle Team besteht aus:
Ärzte und Ärztinnen (mit einer gerontopsychotherapeutischen Ausbildung),
einer Psychologin mit psychotherapeutischer Ausbildung,
einer Sozialarbeiterin,
Ergotherapeutinnen und Physiotherapeutinnen sowie aus dem
Pflegepersonal
Im Pflegeteam sind fünf Personen fest im abwechselnden Wochendienst eingeteilt, die unser Therapiekonzept unterstützen. Sie sind die ersten Ansprechpartner für die Patienten, betreuen die Kreativgruppe, organisieren die Teilnahme der Patienten am individuellen Therapieprogramm und sind bei allen Therapien (ausgenommen Einzeltherapien) anwesend.