Übersichten zum Themenheft
“Sterben, Endlichkeit und Tod”
Reiner Sörries:
Das Museum für Sepulkralkultur und die neue Gesprächsfähigkeit über Sterben, Tod und Trauer (Abstract)(PDF)
Die gesellschaftliche Diskursbereitschaft über Sterben, Tod und Trauer hat sich in den letzten 20 Jahren wie zu keiner anderen Zeit gewandelt. Mitte der 1980er Jahre etablierten sich unabhängig voneinander zwei gesellschaftliche Bewegungen, die Hospizbewegung und die der Mütter und Väter, die ihr Recht auf Trauer um totgeborene Kinder einklagten. Auch die Bestattungskultur wandelte sich. Öffentliche Meinung und Politik folgen diesem Wandel und stützen Eigenverantwortlichkeit und Selbstbestimmung, die auch in diesem Bereich einen immer höher werdenden Stellenwert einnehmen. Das 1992 eröffnete Museum für Sepulkralkultur ist selbst ein Ergebnis dieser sich verändernden Einstellung.
Hartmut Raguse:
Das Bild des Todes in barocken Chorälen und Kantaten. Gedanken zu Roger Money-Kyrles drittem Analysenziel »Annahme des Todes« (Abstract) (PDF)
Der Vortrag geht aus von einer Formulierung der Ziele einer Psychoanalyse durch Roger Money-Kyrle, in der er als drittes Ziel die Annahme des Todes und die Bearbeitung der Todesangst nennt. Es wird dann gefragt, wie der Umgang mit dem Tod in den Kantaten zum Totensonntag von J. S. Bach gestaltet ist. Drei Formen werden hier an Beispielen gezeigt: Tod als Vergänglichkeit, als verfolgendes Gericht und schliesslich die Annahme des Todes in einer mehr oder weniger gelingenden Verbindung von Verzweiflung und Erlösung. Als theoretischer Hintergrund wird auf die Formulierung der paranoid-schizoiden und der depressiven Position hingewiesen.
Es wird weiterhin der Frage nachgegangen, wie wohl die damaligen Hörer im Gottesdienst auf die Kantaten reagiert haben, und eine Analogie in der Wirkung dramatischer Predigten gesucht, wie sie im autobiographischen Roman »Anton Reiser« von K. Ph. Moritz beschrieben wird.
Helmut Luft:
Altern und Sterben in der Literatur - die Ödipusdramen des Sophokles (Abstract) (PDF)
Da Sophokles die Ödipus-Tragödien im Alter von 70 und 90 Jahren geschrieben hat, enthalten sie altersspezifische Themen. Ödipus rex erscheint so auch unter dem Aspekt einer Lebenskrise, die das Altern einleitet. Ödipus war der Revolutionär, der den Generationswechsel forciert hatte. Nach dem Tod seines Vaters wird der Verlust seiner Mutter zum kumulativen Trauma, das ihn in archaischen Hass regredieren lässt. Mit dem Sich-Blind-Machen wehrt er die Einsicht in die unerträgliche Realität ab. In »Ödipus auf Kolonos« wird er als Greis dargestellt, der die Verantwortung für sein Schicksal den Göttern zuweist. Als Abwehr bleibt ihm die grandios-narzisstische Identifikation mit den Göttern und die primärnarzisstische Fantasie der Rückkehr in einen elementar überhöhten Mutterleib. Auf Unterschiede zu dem moderneren Alterstypus des Prospero von Shakespeare wird hingewiesen.
The Museum of Sepulchral Culture and the New Ability to Talk about Dying, Death, and Mourning (English Abstract)
Society's willingness to discourse about dying, death, and mourning has changed in the last 20 years as at no other time. In the mid-1980s, two social movements established themselves independently, the hospice movement and that of mothers and fathers who claimed their right to grieve for stillborn children. Funeral culture was also changing. Public opinion and politics followed this change and supported personal responsibility and self-determination, which also became increasingly important in this area. The Museum für Sepulkralkultur, which opened in 1992, is itself a result of this changing attitude.
The Image of Death in Baroque Chorales and Cantatas. Thoughts on Roger Money-Kyrle's third analytical goal "Acceptance of Death" (English Abstract)
The lecture starts from a formulation of the goals of a psychoanalysis by Roger Money-Kyrle, in which he mentions as a third goal the acceptance of death and the treatment of the fear of death. It will then be asked how the handling of death in the cantatas for Totensonntag by J. S. Bach is shaped. Three forms are shown by examples: death as transience, as persecuting judgment, and finally the acceptance of death in a more or less successful combination of despair and redemption. As theoretical background, the formulation of the paranoid-schizoid and the depressive position is pointed out. It is further examined the question how probably the listeners at that time reacted to the cantatas in the church service, and an analogy is sought in the effect of dramatic sermons as described in the autobiographical novel "Anton Reiser" by K. Ph. Moritz.
Aging and dying in literature - the Oedipus dramas of Sophocles (English Abstract)
Since Sophocles wrote the Oedipus tragedies at the ages of 70 and 90, they contain age-specific themes. Oedipus rex thus also appears under the aspect of a life crisis that ushers in aging. Oedipus was the revolutionary who forced the generational change. After the death of his father, the loss of his mother becomes a cumulative trauma that causes him to regress into archaic hatred. By blinding himself, he fends off insight into the unbearable reality. In "Oedipus at Colonus" he is portrayed as an old man who assigns responsibility for his fate to the gods. As a defense, he is left with the grandiose narcissistic identification with the gods and the primary narcissistic fantasy of returning to an elementally exaggerated womb. Differences to the more modern age type of Shakespeare's Prospero are pointed out.