Peter Bäurle: Editorial zum Themenheft
“Schmerz”
Schmerz und Alter
Ab dem 60. Lebensjahr entspricht das Lebensalter in etwa dem Prozentsatz derer, die an Schmerzen leiden (Gagliesi u. Melzack 1997). Das Bedrohliche ist, dass es sich um chronische Schmerzen handelt. Schmerzen haben ihre eigentliche Funktion als Warnsignale für eingetretene körperliche Schädigungen verloren und sich zu einem eigenständigen Krankheitszustand entwickelt.
Wird aber der chronische Schmerz gleich stark empfunden wie in jüngeren Jahren? Da mit zunehmendem Alter die akustischen, optischen und olfaktorischen Wahrnehmungsstärken geringer werden, bestünde die Hoffnung, dass auch das Schmerzempfinden im Alter geringer werden könnte. Nehmen die Nozirezeptorenbahnen ab und liegt die Schmerzschwelle höher? Die Studienlage dazu ist nicht eindeutig. Nach einigen Studien ist die Schmerzschwelle erniedrigt, nach anderen erhöht. Nach der Gesamtsicht der vorliegenden Studien muss davon ausgegangen werden, dass sich das Schmerzempfinden, zumindest was die Schmerzintensität betrifft, nicht wesentlich ändert (Harkins 1992). Hinsichtlich der Schmerztoleranz, also der Schwelle, von der an Schmerzreize nicht mehr toleriert werden, ist hingegen klar, dass sie im Alter erniedrigt ist (Edwards 2005). Auch die Diskriminationsfähigkeit für Schmerzreize nimmt mit dem Alter ab, jedoch wird dies auf die zunehmenden kognitiven Einschränkungen zurückgeführt (Basler 2007).
Die Vorstellung, im Alter an Schmerzen zu leiden, ist zumindest in der Schweiz für Ältere oft der Grund, sich einer Sterbehilfeorganisation anzuschließen. Allein die Vorstellung, im Alter unkontrollierbaren chronischen Schmerzen ausgeliefert zu sein, ist so bedrohlich, dass nur im Suizid eine Lösung gesehen wird. Insbesondere bei eingeschränkter oder aufgehobener Mobilität ist das Suizidrisiko höher. Möglicherweise spielt für eine solche Entscheidung die Angst vor Kontrollverlust und das Angewiesensein auf andere eine große Rolle. Autonomie und Selbstbestimmung haben in unserer Kultur gerade auch für ältere Menschen offensichtlich den höchsten Stellenwert. Darin besteht ein möglicher Grund, weshalb in der westlichen Zivilisation Suizidraten im Alter höher sind als in anderen Kulturen.
Für das Verständnis von Schmerzen im Alter ist es hilfreich, eine Schmerzbiografie zu erheben. Aus den schmerzhaften Vorerfahrungen, die oft mit emotionalen Ereignissen verbunden sind, kann das Ansprechen auf Schmerzreize verstärkt werden. Beim Erleben von Schmerzen spielt die emotionale Bewertung eine große Rolle. Kindliche Traumatisierungen beispielsweise durch Vernachlässigung, Missbrauch, Krieg oder Naturkatastrophen erhöhen das Risiko für ein späteres Schmerzerleben.
Das Schmerzgedächtnis ist im Kindesalter aber weniger ausgeprägt und nimmt erst im Verlauf der Jahre mit der Ich-Entwicklung zu. Dies zeigt sich auch darin, dass ich-nahe Schmerzen wie z.B. Verletzungen am Kopf und im Gesicht oder Zahnschmerzen eine andere Qualität und einen anderen Bedrohungscharakter haben als ich-ferne Verletzungen an Fingern oder Zehen.
Da sich für die Erklärung der Schmerzentstehung im Alter häufig körperliche Veränderungen anbieten, werden seelische Gründe oft nicht erkannt. Umgekehrt besteht die Gefahr, dass bei einer ausschließlich psychogenen Sichtweise körperliche Ursachen übersehen werden. Deshalb bedarf es einer psychosomatischen und einer somatopsychischen Perspektive.
Aus psychotherapeutischer Sicht können Schmerzen im Alter auch folgende Funktionen haben: Darstellung einer schmerzhaft erlebten Vergangenheit, Ausdruck von Trauer, Entlastung von Depression und Angst oder von Schuldgefühlen und Erhalt von bedrohten sozialen Kontakten. Da alte Menschen psychische Störungen oft besonders negativ bewerten und psychiatrische Erkrankungen oft mit eigenem Verschulden und gesellschaftlicher Ausgrenzung gleichgesetzt werden, ist mit dem Hinweis auf einen solchen Zusammenhang vorsichtig umzugehen. Es ist deshalb wichtig, zu Beginn einer Behandlung nicht auf einer psychogenen Verursachung von Schmerzen zu beharren, sondern dem Patienten anzubieten, gemeinsam nach Wegen zu suchen, wie die Schmerzen erträglicher werden. Seelische Ursachen können oft erst nach der Entwicklung einer tragfähigen psychotherapeutischen Beziehung thematisiert werden.
Welche therapeutischen Möglichkeiten bieten sich? Psychoedukation, Entspannungsverfahren, Sport und Achtsamkeitsübungen haben sich in der Klinik bewährt. Insbesondere Letzteren kommt eine besondere Bedeutung zu. Aus der Position eines freundlichen neutralen Beobachters kann eine Distanzierung zum Schmerz erreicht werden. Zugleich kann der Patient realisieren, dass er nicht nur unter Schmerzen leidet, sondern auch über andere Anteile verfügt und so aus der Position eines Beobachters den Schmerz als einen Teilaspekt von sich wahrnehmen kann. Die Erfahrung, dass es einen Beobachter gibt, der nicht identisch mit dem schmerzgeplagten Teil ist, ist dabei ausschlaggebend.
Die Schwierigkeit konzentrativer und kontemplativer Verfahren zur Schmerzbewältigung besteht allerdings darin, dass im Stadium des akuten Schmerzes oft die nötige Konzentration nicht aufgebracht werden kann, um sich mit dieser Technik aus der Schmerzsituation zu befreien. Hingegen können regelmäßig geübte Verfahren auch in Akutsituationen hilfreich sein, wenn auf eine konditionierte verinnerlichte Technik zurückgegriffen werden kann. Insofern stellen konzentrative Übungen, wie Achtsamkeitsübungen, nicht nur eine Möglichkeit dar, einen aktuellen Entspannungszustand hervorzurufen, sie sind auch als präventive Maßnahmen geeignet, um in Akutsituationen darauf zurückgreifen zu können.
Im praktischen Umgang mit Schmerzpatienten bewährt sich oft auch die Frage: Was würden Sie tun, wenn Sie keine Schmerzen mehr hätten? Bei der Beantwortung zeigt sich dann, welche Funktionen die Schmerzen haben, wenn beispielsweise Ziele geäußert werden, deren Erreichen nicht mehr möglich ist.
Eine weitere wesentliche Aufgabe bei älteren Patienten besteht auch darin, nach Schmerzen gezielt zu fragen. Underreporting of pain ist weitverbreitet, weil Ältere oft der Meinung sind, dass Schmerzen eben zum Alter gehören und folglich ertragen werden müssen. Aber auch aufseiten der Therapeuten werden Schmerzen oft dem Alter per se zugeschrieben. Ein kurzes Gespräch in der Praxis kann dies illustrieren:
Eine 87-jährige Dame kommt zum Arzt und beklagt sich über Schmerzen im rechten Kniegelenk. Nach einer oberflächlichen Untersuchung erklärt der Arzt, dass dieser Schmerz im rechten Kniegelenk doch altersbedingt sei. Daraufhin antwortet die Patientin: »Mein linkes Knie ist ebenfalls 87 Jahre alt und schmerzt nicht!«
Wir hoffen, mit dem vorliegenden Themenheft einen Beitrag für ein besseres Verständnis und damit auch für erfolgreichere Behandlungen von Schmerzen im Alter leisten zu können. Ein Teil der abgedruckten Beiträge stammt aus Referaten vom 6. Münsterlinger Symposium zur Alterspsychotherapie: Schmerzen im Alter – seelische Ursachen, seelische Folgen.
Peter Bäurle (Aadorf/Schweiz)
Literatur
Basler HD (2007) Schmerz und Alter. In: Kröner-Herwig B, Frettlöh J, Klinger R, Nilges P (Hg) Schmerzpsychotherapie. 6. Aufl. Heidelberg (Springer) 195–206.
Gagliese L, Melzack R (1997) Chronic pain in the elderly. Pain 70(1): 3–14.
Harkins SW, Price DD (1992) Assessment of pain and the elderly. In: Turk DC, Melzack R (eds) Handbook of pain assessment. New York (Guilford Press) 315–331.
Edwards R (2005) Age – associated differences in pain perception and pain processing. In: Gibson S, Weiner D (edts.) Pain in older persons. progress in pain research and management 35: 45–65.