Cornelia Kricheldorff & Angelika Trilling: Editorial zum Themenheft
“Bildung und lebenslanges Lernen”

Geragogik - Bildung und lebenslanges Lernen im Alter

Seine 25. Ausgabe – ein kleines und vom Herausgeberkreis nicht ohne Stolz vermerktes Jubiläum – widmet PiA dem Schwerpunkt Bildung. So wie die 25 für eine gewisse Reife steht, in der man dennoch weiter drängt und nach Neuem Ausschau hält, so stehen auch die Bildung und das lebenslange Lernen für den Anspruch auf Weiterentwicklung unter Anerkennung des bereits Geleisteten und Gelebten.
   Wer unter dem Stichwort Demografischer Wandel nur an Fragen der materiellen Absicherung im Alter und die Pflegeproblematik denkt, der blendet ganz wesentliche Dimensionen einer Gesellschaft des langen Lebens aus. Keiner kann bestreiten, dass weiter sinkende Geburtenzahlen bei steigender Lebenserwartung die Gesellschaft, die wir kennen, strukturell und kulturell tiefgreifend verändert. Doch darf bezweifelt werden, dass dies zwangsläufig in einer Katastrophe mündet, wie zuweilen in einer eigenartig provinziellen und geschichtsvergessenen Weltsicht orakelt wird.
   Das Privileg, in einer Gesellschaft des langen Lebens zu altern, sollte uns ermuntern, das Miteinander der Generationen und die Gestaltungsmöglichkeiten des Alters neu zu denken und zu erproben. Das fordert Kreativität und Mut und verlangt nach reflektierter Erfahrung ebenso wie nach der Entwicklung von neuartigen Produkten und ressourcenschonenden Verhaltensstilen. Enorme Aufgaben stehen also ins Haus, für die es sich zu rüsten und zu befähigen gilt, ganz unabhängig von Alter und Herkunft: Bildung ist gefragt. Auch der 5. Altenbericht der Bundesregierung (2006) bezieht Position gegen die Katastrophenszenarien und widmet sich den »Potenzialen des Alters in Wirtschaft und Gesellschaft«. Unter den fünf Leitbildern, die eine unabhängige Wissenschaftskommission der Bundesregierung anempfahl, wollen wir die Aussagen zum Leitbild des Lebenslangen Lernens genauer betrachten. Denn indem der 5. Altenbericht auf aktive Teilhabe und intergenerationelle Verantwortung setzt, wird die Bereitschaft zum lebenslangen Lernen nicht nur notwendige Voraussetzung, sondern geradezu Verpflichtung. Dies geschieht nicht per Dekret, sondern wird über eine »Verpflichtungsethik« transportiert, die das aktive und individuell zu gestaltende Alter zur Norm erhebt.
   Daraus werden drei zentrale Ziele abgeleitet:

  • der Erhalt der Beschäftigungsfähigkeit älterer Arbeitnehmer durch berufliche Bildung,

  • die Verbesserung der Lebensgestaltung und Lebensbewältigung im Alter durch Bereitschaft zu präventivem Verhalten und

  • die gesellschaftliche Integration und Partizipation.

So sinnvoll diese Ziele sind, verkürzen sie doch den Anspruch an Bildung auf den Aspekt ihrer Nützlichkeit für bestimmte gesellschaftliche Bedarfslagen. Verschwunden ist damit nicht nur die Dimension der Selbstbestimmung, die in der aufklärerischen Tradition des Bildungsbegriffs wurzelt, ausgeblendet werden auch – angesichts der demografischen Verwerfungen – die dringend erforderlichen zivilgesellschaftlichen Aushandlungsprozesse und deren Rückwirkungen auf »Bildung«. Wo es allein um den Erwerb von Wissen, Kenntnissen, Qualifikationen, Fähigkeiten und Fertigkeiten geht, ohne die Perspektive des Subjektes zu thematisieren, kommt dem – dann scheinbar wert- und inhaltsneutralen – Lernen der Lernende abhanden. Damit fehlt die Instanz, die Inhalte erst reflektieren, wählen und werten könnte, Maßstäbe entwickelte und Stellung bezöge (Goesken et al. 2007).
   Wenn im Bericht dann doch noch »als umfassendes Ziel von Altersbildung« die »Schaffung der körperlichen, geistigen, emotionalen und moralischen Ganzheit des Menschen« (BMFSFJ 2006, 128f) benannt wird, bleibt dies merkwürdig unverbunden zu dem ansonsten dominanten Bildungsverständnis, dem es primär um die Instrumentalisierung des Menschen im Interesse wirtschaftlicher Erfordernisse zu gehen scheint.
   Bildung hingegen, verstanden als Auseinandersetzung des Menschen mit sich und seiner Welt, geht aus von dem sich bildenden Subjekt und beinhaltet Selbstaufklärung und verantwortliches Handeln. Als ein Prozess, der zwischen Individuum und Gesellschaft vermittelt, eröffnet Bildung dem Einzelnen sowohl Möglichkeiten der gesellschaftlichen Teilhabe wie individuell bestimmbare Spielräume.
   Die junge Wissenschaftsdisziplin der Geragogik knüpft an dieses Bildungsverständnis an und fragt nach den spezifischen Anliegen und Zielen von Bildung im Alter. Da ihr ein ganzheitlicher Bildungsbegriff zugrunde liegt, kann sie die gesamte Altersphase betrachten – also auch das hohe Alter. Der Geragogik geht es folglich um die Entfaltung von Identität angesichts der altersspezifischen Entwicklungsaufgaben und im Kontext der konkreten historischen Lebenssituation. Es geht um Selbstreflexivität, aber auch um (Selbst-)Erleben und um (Selbst-)Ausdruck. Nicht zuletzt spielt die Auseinandersetzung mit der eigenen Biografie eine wichtige Rolle bei der Neuorientierung und Sinnfindung (Kricheldorff 2005).
   Das Bildungsverständnis und die Bildungspraxis der Geragogik sind so bunt und facettenreich wie das Alter(n) selbst. Einen kleinen, längst nicht repräsentativen Ausschnitt bieten die Beiträge in diesem Heft. Nach einem Übersichtsartikel (Kricheldorff) wird Bildung im Alter aus gestalttherapeutischer (Bubolz-Lutz) und bildungspolitischer (Haring) Perspektive beschrieben. Neben Überlegungen zur kulturellen Bildung im Alter (Baumann u. Ermert) geht es um Lernen für und durch das Freiwilligenengagement (Steinfort) und um Weiterbildung im Interesse der Gesunderhaltung (Trilling). In einer Mischung aus professioneller und subjektiver Sicht wird schließlich nach dem »Warum und Wozu« des Lernens im Alter gefragt (Kipp).
   Deutlich wird in den ausgewählten Artikeln, dass Bildung im Alter im Verständnis der Geragogik höchst unterschiedliche Ansätze und Zugangsweisen umfasst – weit mehr, als die Angebote der etablierten Bildungsträger wie Volkshochschulen, Seniorenakademien und kirchliche Einrichtungen widerspiegeln mögen. So vielfältig wie das Alter ereignet sich auch das Lernen und findet seine Orte in Kultur und Sport, im bürgerschaftlichen Engagement und in der psychosozialen Arbeit.

Cornelia Kricheldorff (Freiburg) und Angelika Trilling (Kassel)

Literatur

BMFSFJ – Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (2006): Fünfter Bericht zur Lage der älteren Generation in der Bundesrepublik Deutschland, Berlin, online Dokument, www.bmfsfj.de/RedaktionBMFSFJ/Abteilung3/Pdf-Anlagen/fuenfter-altenbericht,property=pdf,bereich=,rwb=true.pdf, [23.10.2009].
Gösken E, Köster D, Kricheldorff C (2007) Altersbildung – mehr als die Nutzung von Bildungsangeboten. Profilschärfung und Weiterentwicklung fachlicher Positionen des 5. Altenberichts. In: forum Erwachsenenbildung 7(2): 39–44.
Kricheldorff C (2005) Biografisches Arbeiten und Lernen. Lebensgeschichtliche Prägungen als Ressourcen. Pflegemagazin 6(4): 4–12.