»Die Dauer unserer Leidenschaften hängt so wenig von uns ab
wie die Dauer unseres Lebens«
La Rochefoucault

Mit dem Begriff der Leidenschaft wird ein ganzes Spektrum von Gefühlen und Verhaltensweisen bezeichnet. Geht man vom allgemeinen Sprachgebrauch aus und befragt seine Mitmenschen, was unter Leidenschaft verstanden wird, so ist eine fragmentarische Annäherung an diesen Begriff möglich:
   Leidenschaft geht mit Emotionen einher, die das Gemüt völlig ergreifen. Dazu gehören gesteigerte Formen von Liebe und Hass. Leidenschaft ist auch im religiösen und politischen Enthusiasmus und Fanatismus zu finden. Der intensive Hang, einseitige Ziele zu verfolgen, wie das Sammeln von Kunst oder das Betreiben eines Hobbys, wird auch mit diesem Begriff bezeichnet.
   Der Begriff der Leidenschaft hat aber auch den Beigeschmack des Destruktiven. Zur Leidenschaft gehört etwas, das im wahrsten Sinne des Wortes Leiden schafft. Ein von Verbohrtheit oder von Vergeltung und Hass geleiteter Drang will sich gegen jeden Widerstand durchzusetzen, auch wenn dieser Drang zur Zerstörung des eigenen oder des Lebens anderer führt.
   Viele Bereiche des menschlichen Lebens werden durch Leidenschaften beeinflusst. Nach der psychoanalytischen Theorie geht es um sogenannte negative Affekte, die in der Trieb- und Affektpsychologie beschrieben werden. Diese Affekte sind oft mit Ich-Ideal- und Über-Ichkonflikten verbunden. Solche negativen Affekte in übersteigerter Form treten bei ich-strukturellen Störungen auf und werden mit den Konzepten der Spaltung und der paranoid-schizoiden Position verständlicher. Es geht dann immer um die mangelnde Kontrolle von Trieben und Affekten.
   Freud ging davon aus, dass bei Vorstellungen, die anstößig und unerträglich sind, der Affekt(betrag) von diesen abgetrennt wird. Die Entsorgung dieser Affekte, so Krause (1978), geschieht in der Hysterie durch ihre Abfuhr in den Körper und bei der Phobie und Zwangsneurose durch Verschiebung auf andere psychische Vorstellungen. Es kann aber auch zu Transformationen von Affekten kommen, die zur Angstneurose oder zur Melancholie führen.
   Nach diesem psychoanalytischen Affektkonzept sind unterschiedliche psychodynamische Vorgänge für die Entstehung solcher Emotionen verantwortlich:

  • narzisstische Affekte bei Scham-, Stolz- und Schuldkonflikten,

  • Affekte nach traumatischen Erfahrungen und

  • Affekte, die vor allem in nahen Beziehungen entstehen. Zustände wie Freude, Wut, Ekel, Angst, Trauer und Verachtung können bei anderen ebenfalls starke emotionale Wirkungen hervorrufen. Psychoanalytisch wird dieser Beziehungsaspekt häufig im Kontext von Übertragung und Gegenübertragung reflektiert.

Leidenschaften, insbesondere verbotene, berühren auch Vorstellungen von Religion, Ethik und Moral und tangieren Geschlechterklischees, Geschlechterrollen und soziokulturelle Normen. Leidenschaften, die einem Tabu unterliegen und mit negativen Affekten einhergehen, werden oft mit Sünde und Schuld in Verbindung gebracht. Im aufgeklärten Kontext spricht man eher von fehlender political correctness.
   Was hat das alles mit alten Menschen zu tun? Fragt man so, dann kann man Antworten bekommen, wie: »Gar nichts. Denn im Alter lassen Affekte und Triebe nach«. Sexualität bei Älteren wird kritisiert und mit Sprüchen lächerlich gemacht, wie: »Je öller, je döller«, oder: »Alte Scheuern brennen schneller«. So wird das Bild vom Lustgreis bemüht.
   Das traditionelle Klischee vom weisen Alten führt aber auch zu Denkverboten und Tabus: Für ältere Menschen hat danach das Bewusstwerden der abnehmenden Lebenszeit und des nahenden Todes im Vordergrund zu stehen. Es sei nun Aufgabe, sich auf der Basis religiöser und spiritueller Leitbilder allmählich aus den Beziehungen, Aufgaben und Funktionen zu lösen und einen selbstlosen Weg der kontemplativen Besinnung einzuschlagen. Vielfach wird dies auch als psychotherapeutische Aufgabe angesehen. Es geht aber in der Psychotherapie nicht darum, alte Menschen mithilfe von Spiritualität und Religiosität in einen abgeklärten Zustand jenseits von Gut und Böse zu überführen, womit konkret die Unterdrückung von sexuellen, aggressiven und narzisstischen Triebimpulsen gemeint ist. Solche Vorstellungen resultieren oft aus einseitig verstandenem konventionellem Christentum. Gegen die christliche Tugendlehre als Leitlinie einer Wertorientierung ist nichts einzuwenden. Ein davon abgeleitetes einseitiges Ideal vom Alter, das weder realistisch noch menschenfreundlich ist, wird reflexhaft zur Verleugnung von Leidenschaften im Alter missbraucht.
   Da sich ältere Patienten aber mehr oder weniger bewusst mit diesem Klischee identifizieren, lohnt es sich, diese missverstandene traditionelle Tugendlehre, die in Älteren über-ichhaft wirksam sein kann, für jüngere Therapeuten darzustellen.

Göttliche Tugenden

Glaube (Fides)

Der ideale Alte soll frei von Zweifeln sein. Er soll keine Angst vor dem Tod haben und im Glauben an das Gute und die kommende Ewigkeit gefestigt sein.

Hoffnung (Spes)

Die Hoffnung auf die kommende Welt möge stärker sein als alle Zweifel und Ängste. Im Angesicht des Todes soll man durch ideale letzte Worte den Jungen Zuversicht schenken und vermitteln, wie man Krisen überstehen kann.  

Liebe (Caritas)

Die Liebe des weisen Alten ist stärker als der Hass. Er soll seine Liebe der Nachwelt zeigen ohne Wut, sterben zu müssen, und ohne Neid auf Jüngere. Er soll auch nicht kleinlich mit dem Schicksal hadern und jenen, die ihm Böses getan haben, großzügig verzeihen.

Kardinaltugenden

Klugheit (Prudentia)

Der weise Alte hat die Fähigkeit, Gut und Böse zu unterscheiden. Weitsicht soll sich bei ihm mit abgeklärter Güte paaren, Emotionen sind bei ihm allenfalls wohltemperiert, keinesfalls aber heftig wie bei jugendlichen Heißspornen. Gelingt es dieser Tugend zu folgen, sollen auch keine kognitiven Defizite oder gar demenzielle Einschränkungen auftreten.

Gerechtigkeit (Iustitia)

Der weise Alte ist frei von Vergeltungssucht und sorgt in seinem Umfeld für Gerechtigkeit. Er verteilt sein Erbe gerecht und schafft für seine Nachkommen dauerhaften Frieden. Rigide Über-Ich-Positionen soll er also überwunden haben und verzeihend all jene segnen, die ihm Unrecht getan haben.

Tapferkeit (Fortitudo)

Alte Menschen sollen mit hoher Frustrationstoleranz die Leiden des Alterns hinnehmen, tapfer und ohne Angst die Endlichkeit des Lebens anerkennen und möglichst mit druckreifen letzten Worten einen guten Tod inszenieren. Schmerzen und Leiden gelassen hinzunehmen, adelt und erhöht den alten Menschen.

Mäßigung

Der weise Alte hat seine Triebe unter Kontrolle. Aus dieser Sichtweise gibt es nichts Unwürdigeres als den Lustgreis. Noch schlimmer ist es, wenn eine ältere Frau versucht, sexuellen Gelüsten nachzukommen. Geilheit, Völlerei und Trunksucht sind dem würdigen Greise ein Gräuel.

Die psychische Realität alter Menschen sieht meist anders aus. Während die geschilderten Tugenden nur sehr unzureichend von Durchschnittsmenschen erreicht werden, werden Sekundärtugenden wie Ordnung, Sauberkeit, Pünktlichkeit, Zuverlässigkeit, Disziplin, Ehrlichkeit, Ausdauer, Treue und Pflichtbewusstsein jedoch oftmals halbwegs erfüllt. Diese Sekundärtugenden stellen den kleinbürgerlichen Abglanz der heroischen Tugendlehre dar. Manche Älteren fordern eine solche Einstellung auch von Jüngeren ein, ohne dass sie vielleicht selbst früher fähig waren, diese im Leben zu verwirklichen. Manch alter Mensch trat in der Jugend mit dem Enthusiasmus heroischer Motive an, scheiterte am überhöhten Ich-Ideal und entwickelte sich dann zum verbitterten zynischen Philister. Bei einem solchen Lebensschicksal werden eigene Defizite bei anderen oft unerbittlich bekämpft; Angst, Wut, Trauer, Zorn und Neid werden abgewehrt und projektiv beispielsweise auf die fragwürdige Erkenntnis verschoben, dass die Jugend heute nichts mehr tauge.

   Solche Haltungen bei Älteren wahrzunehmen und anzusprechen, verstößt gegen ein Tabu. Es ist uns von Kindheit an anerzogen, Eltern und Ältere nicht kritisieren zu dürfen. Das vierte Gebot (Du sollst Vater und Mutter ehren, damit du lange lebest auf Erden.) wird oft als Forderung nach kritiklosem Respekt vor alten Menschen missverstanden. Dieses Gebot fordert aber nicht dazu auf, Kritik zurückzuhalten und alte Menschen zu idealisieren.

   In der Tradition wird dies oft anders interpretiert. Es kommt auch in einem Märchen zum Ausdruck: »Es war einmal ein Kind, das Vater und Mutter schlug. Als das Kind tot war, bestrafte es der liebe Gott und ließ dessen Hand aus dem Grab herauswachsen«. Identifizieren sich ältere und jüngere Menschen mit solchen Vorstellungen, so ist es schwierig, über sogenannte verbotene Leidenschaften zu reflektieren. Hinzu kommt, dass manche dieser Patienten libidinöse und sogenannte negative Affekte, wie Neid, Wut und Zorn, als Sünde ansehen und sie in der Therapie verleugnen. Neben dem Versuch, empathisch in der Psychotherapie zu reagieren, ist es notwendig, libidinöse und destruktive Tendenzen nicht der Verleugnung anheimzustellen, sondern sie anzusprechen und unbewusste Strategien der Moralisierung zu deuten. Betont moralisierendes Verhalten, euphemistische Verleugnung von Missständen und Konflikten, naive Harmonisierung, Bertroffenheitskitsch, fromme Sprüche und Beschwichtigungsformeln kennzeichnen die Sprache des Gutmenschen und verhindern eine therapeutische Begegnung. Übertrieben demonstrierte Nächstenliebe kann als Reaktionsbildung im Sinne einer subtilen Form von Hass verstanden werden.

   Viele in der Altenpflege tätigen Menschen laufen Gefahr in diese Falle zu tappen. Sind Mitarbeiterinnen aus Altenpflegeheimen selbst Patientinnen in psychosomatischen Kliniken, so kann man bei ihnen häufig erkennen, dass sie in ihrem Beruf angesichts defizitärer und traumatischer Elternerfahrungen immer noch unbewusst versuchen, von ihren Betreuten, ihren imaginären Eltern, doch noch etwas Liebe zu bekommen.

   Doch Vorsicht: Sind es immer nur die anderen? Gibt es nicht auch bei uns Psychotherapeuten diese Tendenz der Harmonisierung? Heuchelei könnte man definieren als eine Haltung, bei der ein Mensch nach außen hin ein Bild vermittelt, das nicht seinem realen Selbst entspricht, sondern eine Annäherung an sein Idealselbst vermitteln soll. Besteht nicht auch für reflektierte und aufgeklärte Menschen die Gefahr, angesichts brisanter Themen in eine subtile Verleugnungshaltung zu verfallen?

   Für die Praxis der Psychotherapie mit älteren Patienten ist es wichtig, auf konkrete intergenerationelle Konfliktlagen hinzuweisen, die oft heftige Affekte oder Leidenschaften auslösen. Wegen der umgekehrten Übertragung zwischen jüngeren Therapeuten und alten Patienten sind Konflikte, die sich auch in der Gegenübertragung von Affekten und Trieben entwickeln, für viele Behandler schwer handhabbar, und die Verwicklungsgefahr ist groß. Die Altersdifferenz stellt zumindest initial ein mächtiges eigenes Angebot in Bezug auf Elternübertragungen dar. Im Lauf der Therapie kann sich, so Radebold (1973), eine klassische Übertragung einstellen. Es gilt, diese Schwierigkeiten zu erkennen und auszuhalten und die manchmal erst später auftretenden oralen Ansprüche oder analen Machtkämpfe produktiv zu bearbeiten (Peters 2006).
   Will man ältere Patienten in Therapie nehmen, muss man sich klar machen, dass Triebwünsche bis ins Alter fortbestehen und zeitlos sind, unabhängig davon, ob sie gelebt werden oder nicht. Diese Wünsche machen vor der Therapie und dem Therapeuten nicht Halt. So kann die Übertragungsliebe einer älteren Frau dem Psychotherapeuten gegenüber bei diesem Inzestängste reaktivieren und ein destruktives Gegenübertragungsagieren auslösen. Lässt man sich aber auf die therapeutische Beziehung ein, begegnen uns – oft leidenschaftlich geführt – folgende konkrete intergenerationelle Konfliktlagen: 

  • Konflikte und Konfliktschicksale bei Persönlichkeitsstörungen und deren späte Dekompensation,

  • hirnorganische Veränderungen (z.B. bei Schlaganfall und Demenz). Durch solche Erkrankungen kommen bisher kontrollierte oder verdrängte Triebe und Affekte zum Vorschein und führen zu Verwicklungen mit Partnern und Kindern,

  • Machtverschiebungen in alten Ehen durch das Schwächerwerden eines Partners (meist des Mannes), was zum Ausleben von Rachegefühlen am abhängigen Partner führen kann,

  • destruktive Ehekonflikte und sexuelle Konflikte, wie Eifersucht beim Fremdgehen im späten Alter,

  • narzisstische Enttäuschung an den Kindern, die zu wenig erreicht haben oder subtiler Neid auf die Kinder, die erfolgreicher sind,

  • Enttäuschung durch die Kinder, die andere Wertvorstellungen haben. Dies kommt nicht selten bei alten Migranten vor,

  • eine generelle Wut auf Jüngere bei einem misslungenen Ausstieg aus dem Beruf und unterschwellige Aggressionen und Vorwurfshaltungen, wenn sie sich nicht trauen, gegen reale Missstände offen aufzubegehren.

  • Gewalt, die von Älteren ausgeht, kommt in wenig sublimiertem Neid und Hass auf Jüngere, in Klagen über die liederliche Jugend, in schikanösem Auftreten gegenüber Kindern, im aggressiven Verhindern von Aktivitäten Jüngerer und in Schikanen gegenüber pflegenden Verwandten und gegenüber Pflegepersonal zum Ausdruck.

Wenn sich bei einem älteren Menschen eine Demenz entwickelt, sind die Grenzen der Verantwortlichkeit für emotionale Reaktionen naturgemäß fließend, jedoch darf bei gewalttätiger Aggressivität und Enthemmung die zu Grunde liegende Persönlichkeitsstörung nicht übersehen werden. Nimmt man diese Seite nicht ernst, kann es bei unreflektiertem Gegenübertragungsagieren zu einer Spirale der Gewalt kommen.
   Aber auch Haltungen und Verhaltensweisen von Seiten der Jüngeren können zu Konflikten führen. Solche Konflikte entstehen bei: 

  • verleugneten Rachegefühlen von Ärzten und von Mitarbeitern der Pflege bei nicht entgifteten Konflikten, die diese mit den eigenen Eltern hatten,

  • unreflektierter Wut auf Ältere, die ihren Platz nicht räumen,

  • einer sexualfeindlichen Haltung erwachsener Kinder, die neue Partnerschaften bei den Eltern nicht akzeptieren wollen,

  • Übergriffen auf Eigentum und Vermögen Älterer seitens der Kinder,

  • passiver oder aktiver Vernachlässigung pflegebedürftiger alter Menschen, einhergehend mit einem mangelnden Verständnis für die Zumutungen in der Altenpflege (z.B. Verleugnung des Ekels),

  • Gewalt gegen Ältere. Solche Gewalt kommt in der Altenpflege und bei der Pflege älterer Verwandter vor,

  • Täter- und Opferkollusionen: Wenn beispielsweise Altenpflegerinnen polnischer oder russisch-jüdischer Herkunft mit Nazitätern oder alten Patienten mit latent brauner Gesinnung konfrontiert werden. Und

  • gerontophobe Einstellungen aus Angst vor dem eigenen Alter, der eigenen Hinfälligkeit und dem Tod.

Abgeklärtheit und Weisheit, Eigenschaften, die manchmal erfahrene ältere Psychoanalytiker und Psychotherapeuten sich selbst zuschreiben, sofern es sie überhaupt geben mag, haben nichts mit Leidenschaftslosigkeit zu tun. Die Zeitlosigkeit der Libido zu missachten und damit ein Übertragungsangebot zu übersehen ist ein psychotherapeutischer Kunstfehler. Bei den übrigen Berufsgruppen, die mit Älteren arbeiten, besteht in dieser Hinsicht großer Aufklärungsbedarf. Es ist notwendig, mit Respekt den Leidenschaften Älterer zu begegnen. Damit verbunden ist die Anerkenntnis der Triebnatur des Menschen in allen Lebensphasen. 

Bertram von der Stein (Köln) 

Literatur

Freud S (1923 b) Das Ich und das Es. GW 13, 237 – 289.

Bertram von der Stein: Editorial zum Themenheft
“Zorn, Neid und andere Leidenschaften”