So wenig Generationenkonflikt - so wenig Zorn - war nie!?

Uschi Obermaier und Alice Schwarzer betonten kürzlich im Rückblick auf die 1960er Jahre1, wie einfach es damals gewesen sei, die Elterngeneration zu provozieren. Denn damals war alles neu: die Musik (Beat, Rock), die Mode (Haartracht, Minirock), die Pille, die politische Linke usw. Wie schwer ist es hingegen heute: Was Erwachsene provoziert, das übernehmen sie kurzerhand in ihr Repertoire: bauchfreie Tops, Technomusik, Abschottung durch Kopfhörer, Simsen, Rollerblades und vieles andere mehr.
   Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass die elterliche, vor allem die väterliche machtvolle Position der letzten Jahrhunderte inzwischen von einer anderen Beziehungskultur abgelöst wurde, von einer Art von Geschwisterlichkeit zwischen Eltern und Kindern. Eltern wollen heute lieber Freunde ihrer Kinder sein statt Autoritätsfiguren in einer hierarchisch übergeordneten Position; möglicherweise aus Angst, den Kontakt zu ihren erwachsen werdenden Kindern zu verlieren. Vor allem wenden sie wohl ihren antiautoritären Anspruch aus der 68er Zeit auch auf sich selbst an, obwohl sie mit ihrer Rolle wenig zufrieden sind und von ihren Kindern oft nicht ganz ernst genommen werden.
   Ob es sich dabei, wie der Soziologe Heinz Bude (2009, 278) vermutet, um eine »spannungslose Entspanntheit« im Verhältnis zwischen Kindern und ihren 1968er Eltern, also den Eltern, die in den 1960er Jahren selbst Kinder oder Jugendliche waren, handelt, möchten wir in Frage stellen. Bude hat vermutlich ähnliche Phänomene vor Augen wie Uschi Obermaier und Alice Schwarzer: »Man teilt die gleichen Popikonen und nutzt die gleichen Fahrradwege. « Und er fährt fort: »Wenn die Kinder im Generationenverhältnis
an etwas leiden, dann an der unmöglichen Rebellion.«
   Möglicherweise ist die Rebellion aber auch nur weniger sichtbar als früher, weil sie sich weniger in Auseinandersetzungen und Kämpfen zeigt. Zum einen ist vieles vom Wertesystem der 68er inzwischen selbstverständlich geworden, anderes wird von der Generation der Kinder als irrelevant angesehen. Dies vermitteln sie zum Beispiel in einer Haltung, dass es unsinnig sei, sich den Kopf über bestimmte Probleme zu zerbrechen. Zum anderen haben sich die sozialen Umstände geändert: Kinder aus Ein- bis Zweikind-Familien können sich heute, auch wenn sie noch nicht erwerbstätig sind, von den Eltern zurückziehen, sich im eigenen Zimmer verbarrikadieren mit Beibehaltung des »Hotels Mama«; oder sie suchen sich frühzeitig eine eigene Wohnung und schließen sich vielleicht Gruppierungen an, von denen die Eltern sie immer fernhalten wollten.
   So wie es diverse Gründe und Möglichkeiten aufseiten der Kinder gibt, offene Konflikte zu vermeiden, gibt es sicher auch diverse Gründe, weshalb Eltern dies tun: Nicht selten werben getrennt lebende Elternteile rivalisierend um die Zuneigung ihrer Kinder, was die Austragung von Konflikten erschwert, wenn nicht gar verunmöglicht. Andere Eltern wiederum bemühen sich erfolgreich um eine bessere und konstruktivere Ablösung, als sie es bei ihren eigenen Eltern erlebt haben; es gibt vielfach sogar mehr Austausch mit den Kindern, mehr gegenseitiges Verständnis, das Familienleben verläuft recht harmonisch und tolerant, es wird mehr kommuniziert, bisweilen aber auch »psychologisiert«.
   Florian Illies konstatiert in Bezug auf den Mangel an Konflikten: 100 Jahre nach Sigmund Freuds »Totem und Tabu« (1912) gerate eine kulturelle Grundkonstante in Vergessenheit, »dass nämlich die Kulturgeschichte mit der Ermordung des tyrannischen Vaters der Urhorde durch die Söhne ihren Anfang nimmt« (DIE ZEIT 28.01.2010, 41). Das bedeutet, »dass wirkliches Wachstum immer aus dem Dreiklang von Adaptation, Simulation und Überwindung entstand« (ebd.). Aus entwicklungsorientierter Perspektive ist also weniger der mangelnde Brückenschlag zwischen den Generationen ein Dorn im Auge, sondern das Zuviel davon, die fehlende Reibung und Herausforderung, der Mangel an entwicklungsfördernder Spannung zwischen den Älteren (»68er«) und ihren Kindern. Dementsprechend provokant lautet der Titel von Illies Beitrag: »Aufruf zum Vatermord«!
   In der Familientherapie wird die familiäre Entwicklung als ein spiralförmig sich fortentwickelnder Prozess modelliert, der die Reziprozität phasenspezifischer Entwicklungsaufgaben unterschiedlicher Generationen betont. Die familiäre Entwicklung oszilliert diesem Prozess zufolge zwischen familiärer Kohäsion und Loslösung (zentripetale und zentrifugale Perioden), zwischen der Bewältigung von Entwicklungsaufgaben, die ein hohes Maß an Bindungsverhalten erfordern, und Aufgaben, bei denen Identitätsfindung und Autonomiebestrebungen der Familienmitglieder im Vordergrund stehen. Dieser Prozess der familiären Entwicklung verläuft in der Regel nicht reibungslos: Extreme Verhaltensweisen einer Generation (mit denen versucht wird, die Geschichte der eigenen Eltern zu korrigieren) provozieren bei den Kindern häufig Verhaltensweisen in einem anderen Extrem. Wenn Kinder beispielsweise versuchen, mehr oder weniger bewusst das zu verwirklichen, was die Eltern nicht gelebt haben, können – unter ressourcen-orientierter Perspektive – Extreme ergänzt werden und der familiären Entwicklung wird ihre Einseitigkeit genommen. Auf diese Weise kann ein oppositionelles Verhalten der Kinder der Familie als Ganzer dienen: Mithilfe der Kinder werden auf diese Weise Konflikte re-inszeniert, die in den vorhergehenden Auseinandersetzungen der Familie ausgeklammert blieben. Diese Re-Inszenierung birgt die Chance, dass Konflikthaftes deblockiert und Kräfte für eine neue Entwicklung frei werden.
   Soweit der Interpretationsrahmen der Familientherapie, soviel zu ihrem Entwicklungsmodell, das bisher zumindest noch Gültigkeit beansprucht. Wenn es weiterhin gilt, wie lässt sich dann aber die mangelnde Auseinandersetzung begreifen? Ist diese eventuell deswegen weniger sichtbar, weil sie »innerlicher« verläuft? Weil die Auseinandersetzungen über das, was Erwartungen von Eltern und Kindern sind, heute mehr auf der inneren als auf der äußeren Bühne inszeniert werden? In jedem Fall sind die Veränderungen im intergenerationellen Dialog immer im erweiterten Kontext zu verstehen, zu dem nicht nur die gesellschaftlichen Verhältnisse, sondern ganz unmittelbar
auch die dritte oder sogar die vierte Generation gehören.
   Die Vertreter der heutigen Generation 50+ befinden sich in einer Position zwischen ihren Kindern auf der einen Seite, mit denen sie, autoritäre Rollen vermeidend, eher geschwisterlich verbunden sind, und den über 75-jährigen Alten auf der anderen Seite, gegen die sie früher opponiert haben. Während die Beziehung zu den Jüngeren eher konfliktarm ist, sind die Beziehungen zu den Alten oft konfliktreich geblieben. Deswegen wird die Notwendigkeit des Brückenschlags zwischen der Generation 50+ und den Alten momentan viel beschworen und herbeigesehnt. Ob und in welcher Weise die dritte Generation der Enkel oder sogar die vierte Generation bei diesem Brückenschlag in die Betrachtung einbezogen werden muss, bleibt eine spannende Frage. Zumindest würde eine Familientherapeutin davon ausgehen, dass der vielbeschworene Brückenschlag erleichtert würde, wenn die dritte oder sogar vierte Generation einbezogen werden!
   Das vorliegende Themenheft konzentriert sich vor allem auf den Austausch zwischen der mittleren Generation und den Alten. Könnte sich im Konflikt zwischen diesen beiden Generationen auch noch ein entwicklungsförderndes Potenzial verbergen? Mit dem Austausch im Geben und Nehmen ist sowohl der materielle Transfer angesprochen als auch der immaterielle Austausch. Der transgenerationelle Austausch wird heutzutage überwiegend aus der Sicht der Jüngeren reflektiert und therapeutisch bearbeitet, die Perspektive der Älteren in der Beziehung kommt dabei häufig zu kurz. Es werden Bilder und Erwartungen beschworen, dass 50- bis 60-jährige Kinder etwas von dem zurückzugeben hätten, was die Eltern früher für sie geleistet haben. Es geht um vermeintliche Erwartungen, dass sich nun die intensive Zuwendung mit umgekehrten Vorzeichen wiederholen möge. Dabei ist eine Wiederholung der frühen Eltern-Kind-Beziehung mit umgekehrten Vorzeichen weder möglich noch sinnvoll, und es ist auch nicht klar, ob sich die Alten dies wirklich wünschen oder ob ihnen diese Wünsche nur unterstellt werden. Jedenfalls ist dank etablierter Pflegeversicherung und professionalisierter Altenpflege auch für pflichttreue Kinder ganz allmählich eine moralische Entlastung möglich. Ganz unabhängig von der Konfliktlage zwischen den Generationen hat Erich Kästner im ersten Kapitel seines Buches Als ich ein kleiner Junge war, den Gehalt der Generationenfolge in einem sehr schönen Bild beschrieben:
   »Wer von sich selbst zu erzählen beginnt, beginnt meist mit seinen Vorfahren. Das ist begreiflich. Denn ohne die Vorfahren wäre man im Ozean der Zeit, wie ein Schiffbrüchiger auf einer winzigen und unbewohnten Insel, ganz allein. Mutterseelenallein.  Großmutterseelenallein. Urgroßmutterseelenallein. Durch unsere Vorfahren sind wir mit der Vergangenheit verwandt und seit Jahrhunderten verschwistert und verschwägert. (…) Die Chinesen errichteten in früheren Zeiten ihren Ahnen Hausaltäre, knieten davor nieder und besannen sich auf die Zusammenhänge. Der Kaiser und der Mandarin, der Kaufmann und der Kuli, jeder besann sich darauf, dass er nicht nur der Kaiser oder ein Kuli, sondern auch das einzelne Glied einer unzerreißbaren Kette war und sogar nach seinem Tode bleiben würde. Mochte die Kette nun aus Gold, aus Perlen oder nur aus Glas, mochten die Ahnen Söhne des Himmels, Ritter oder nur Torhüter sein –, allein war keiner. So stolz oder so arm war niemand.«
   Dieses Zitat beinhaltet die wohltuende Vorstellung von Aufgehobensein in der Generationenfolge, oder ist es nur eine Idealisierung?

Literatur

Bude H (2009) Die Metamorphosen des Ödipus im Generationenverhältnis. In: Thomä D (Hg) Vaterlosigkeit. Geschichte und Gegenwart einer fixen Idee. Berlin (Suhrkamp), 269–279.
DIE ZEIT (2010) Aufruf zum Vatermord. 28.1.2010, Nr.5, S.41.
Freud S (1912) Totem und Tabu. GW Bd. IX, Frankfurt (Fischer).
Kästner E (1961) Als ich ein kleiner Junge war. Zürich (Atrium).

Astrid Riehl-Emde: Editorial zum Themenheft
“Generationsdialog-Geben und Nehmen”