7. Jahrgang 2010,

Heft 1: Eine Institution stellt sich vor

Dietmar Köster:

Das Forschungsinstitut Geragogik (FoGera)

»Bildung ist konstituierender Faktor für die gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die demografische Alterung zu gestalten«, schreibt Elisabeth Bubolz-Lutz (2007). Andreas Kruse (2005) spricht im Zusammenhang mit dem 5. Altenbericht über die Pflicht zur Bildung im Alter. Hier ist aber nicht der Platz, um sich ausführlich mit der kontrovers zu diskutierenden Frage der Bildungspflicht im Alter auseinanderzusetzen (Gösken et al. 2007). Festzuhalten ist, dass sowohl Bubolz-Lutz als auch Kruse damit die wachsende Bedeutung von Lern- und Bildungsprozessen im Alter betonen.
   Nach einer internationalen Studie des International Institute for Applied Systems Analysis in Laxenburg bei Wien (IIASA) mit dem Wiener Institut für Demographie (VID) (Bilal et al. 2009), beeinflusst Bildung:

  • die demografische Entwicklung (Die Kinderzahl sinkt in Gesellschaften mit zunehmender Bildung),

  • die Lebenserwartung,

  • die Gesundheit und

  • das ökonomische Wachstum.

Bildung versetzt ältere Menschen in die Lage, die Herausforderungen der nachberuflichen Lebensphase zu bewältigen, persönlich bedeutsame Ziele zu erreichen und ihr Leben aktiv zu gestalten. Daher muss Bildung im Alter im Besonderen mehr sein als die Vermittlung überprüfbaren Wissens. Bildung hat auch das Ziel, Menschen die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen.
   Auch die neurologischen Befunde sind eindeutig: »Die lebenslange mögliche Bildung neuer Nervenzellen hat eine aktive Lebensführung zur Bedingung. Die Verbindungen zwischen den Nervenzellen, die Synapsen, verändern sich mit Erfahrungen und es entstehen neue ›Spuren‹ im Gehirn. Langfristig können sich auch ganze ›Landkarten‹ verändern, die durch Erfahrungen neuronal gebildet werden. Umweltinduzierte Plastizität und Adaptivität stehen für Vorgänge, die auf sensorischer, motorischer und kognitiver Ebene gleichermaßen feststellbar sind« und für den gesamten Lebenslauf gelten. Freiwilligkeit, Spaß, Bewegung und Aktivitäten sowie die Förderung der sozialen Gemeinschaft wirken unterstützend (Meyer 2009, 123f.).
   Die Ergebnisse der Interventionsforschung sprechen dafür, körperliche und geistige Aktivitäten in Bildungskonzepten zu verschränken (Kruse 2008, 32ff.). Der Einfluss körperlichen Trainings auf die kognitive Leistungsfähigkeit ist erkennbar. Trotz dieser positiven Befunde sind wir noch weit davon entfernt, das Zusammenspiel (Emergenz) von Lernen, Bildung, Potenzialen und der demografischen Alterung zu erschließen. Wir fangen gerade mal an.
   Nach wie vor nimmt nur eine Minderheit älterer Menschen an Bildung teil. Obwohl damit zu rechnen ist, dass die kommenden Kohorten aufgrund eigener Bildungskarrieren sich nicht so einfach von Bildungsprozessen ausschließen lassen (Tippelt et al. 2009). Die steigende Bedeutung der Geragogik und ihre Herausbildung als eigene Wissenschaftsdisziplin (Köster 2005) spiegelt sich auch in der Debatte der Deutschen Gesellschaft für Geriatrie und Gerontologie (DGGG) wider. Hier ist mittlerweile der AK Geragogik als Teil der Sektion IV die stärkste Gruppe in der DGGG, die jährlich zu Beginn des Jahres am Universitätskolleg der TU Dortmund in Bommerholz mit ca. 30 Wissenschaftlern aus Europa zusammenkommt, um aktuelle Fragen der Geragogik zu diskutieren. Aus diesem Arbeitszusammenhang entstanden die Überlegungen, die Geragogik stärker zu institutionalisieren. So gründeten am 29. Oktober 2002 acht an der Geragogik Interessierte den Verein »Forschungsinstitut Geragogik« an der Universität in Essen. Nach der Satzung wird angestrebt, Modellversuche mit Schwerpunkten in der Geragogik wissenschaftlich zu begleiten sowie eine wissenschaftlich fundierte Beratung in geragogischen Fragen bei öffentlichen, gemeinnützigen und privaten Trägern durchzuführen. Zudem geht es um Aus-, Fort- und Weiterbildungsmaßnahmen für Träger der Altenarbeit insbesondere zur Qualifizierung der Ausbilder. Zur Direktorin wurden Elisabeth Bubolz-Lutz von der Universität Essen, zu ihrer Stellvertreterin Renate Schramek und zum Geschäftsführer Dietmar Köster gewählt – die Letzteren sind auch Lehrbeauftragte der TU Dortmund.
   Inhaltlich hatte Elisabeth Bubolz-Lutz in ihrem Standardwerk zur Bildung im Alter für die Arbeit wichtige Grundlagen gelegt (Petzold u. Bubolz 1976). Renate Schramek hatte bei dem Nestor der Geragogik Ludger Veelken zum Thema Altersbildung und Schwerhörigkeit promoviert (Schramek 2002) ebenso wie Dietmar Köster, der bei Ludger Veelken und Gerd Naegele eine Dissertation zum Thema »Kritische Geragogik« (Köster 2002) vorgelegt hatte.
   Die Umsetzung der Zielsetzung findet in folgenden Projekten ihren Ausdruck:

  • Im beachteten bundesweiten Modellprojekt »Pflegebegleiter«, gefördert vom Spitzenverband der Pflegekassen, wurden Freiwillige zu »Pflegebegleitern« qualifiziert, die pflegende Angehörige psychosozial begleiten. In dem fünfjährigen Projekt sind 200 Multiplikatoren und 2100 Pflegebegleiter ausgebildet worden (Bubolz-Lutz u. Kricheldorff 2006). Unter dem Aspekt der Pflege werden die Projekte »Care-Support« in Kooperation mit der Firma Henkel (Düsseldorf), »Demenzbegleiter« innerhalb von BELA III in Baden-Württemberg und »Patientenbegleiter« in Nordrhein-Westfalen wissenschaftlich begleitet.

  • Im Projekt »Qualitätsziele in der Gemeinwesenorientierten SeniorInnenarbeit und Altersbildung«, gefördert von der Stiftung Wohlfahrtspflege NRW, wurden 12 Qualitätsziele aus der Sicht der SeniorInnen entwickelt (Köster et al. 2008). In einer Qualitätsinitiative unter Federführung des MGFFI in NRW haben sich mittlerweile die Wohlfahrtsverbände, die kommunalen Spitzenverbände, die Landesseniorenvertretung und die Stiftung Wohlfahrtspflege in einem gemeinsamen Papier darauf verständigt, die SeniorInnenarbeit auf der Basis dieser Qualitätsziele fortzuentwickeln.

  • FoGera führt auf der Basis des Handbuchs der Landeseniorenvertretung »Altengerechte Stadt« (Grymer et al. 2005, 2008) das Projekt »Partizipation im Alter in den Kommunen Nordrhein-Westfalen« durch, das vom MGFFI finanziert wird. In Gladbeck, Bergheim, Troisdorf und Tönisvorst werden modellhaft die Partizipationsmöglichkeiten älterer Menschen in den Kommunen erprobt.

  • Im Projekt SEELERNETZ (SeniorInnen in Europa lernen in Netzwerken), finanziert von der EU im Rahmen des Programms für lebenslanges Lernen, werden sozial- und bildungsbenachteiligte SeniorInnen über die Bildung von Netzwerken an Lern- und Bildungsprozesse herangeführt. Partner sind hier die Universitäten Wien und Gabrovo sowie die Forschungsinstitute IREA in Timisoara und 50+Hellas in Athen.

Ein weiterer Schwerpunkt liegt in der Arbeit mit Kommunen zur Entwicklung von Sozialplänen im Alter.
   Grundlage der Arbeiten von FoGera ist ein Leitbild, in dem es heißt:
   »Eine humane alternde Gesellschaft braucht eine kompetente und handlungsfähige ältere Generation, die bereit ist, neue Verantwortungsrollen für sich selbst und die Gesellschaft zu übernehmen. Voraussetzung dafür ist, dass ältere und alte Menschen zu Lernen und Weiterbildung Gelegenheiten bekommen. Nach wie vor bleiben die gesellschaftlichen Ermöglichungsstrukturen auch in den Bereichen von Bildung und Lernen weit hinter den Erfordernissen eines erfüllten und emanzipierten Alters zurück.«
   Zur Überwindung dieses Widerspruchs zwischen den Potenzialen des Alters und den gesellschaftlichen Bedingungen leistet FoGera systematisch und kontinuierlich einen eigenen Forschungs- und Entwicklungsbeitrag in der Altersbildung (Bildung im Alter und für das Alter). Ziel ist es, Organisationen und Personen zu befähigen, durch Bildungsprozesse die Lebensqualität im Alter zu verbessern. FoGera richtet sein Forschungsinteresse auch auf die Gruppe sozial ausgeschlossener älterer Menschen. In den Forschungsvorhaben kommt generell eine differenzierende Geschlechterperspektive zum Tragen. Zentrale Grundprinzipien sind dabei u.a.:

  • FoGera unterscheidet und macht transparent: Empirische Forschung ist wertfrei. Die Auswahl von Forschungsfragen und die Interpretation der empirischen Daten sind wertbezogen.

  • FoGera richtet sich an den Werten der Humanisierung und Demokratisierung der Gesellschaft aus, die die Partizipation und Selbstbestimmung älterer Menschen fördern. FoGera steht für das selbstorganisierte, selbstbestimmte und partizipative Lernen, das handlungs- und praxisorientiert ist.

  • FoGera arbeitet praxeologisch: Jede empirische Untersuchung ist praxisbezogen und zugleich theoretisch durchdrungen. Die Theoriewirksamkeit hat sich an ihrer praktischen Problemlösungskompetenz zu beweisen.

  • FoGera arbeitet interdisziplinär auf der Basis aktueller gerontologischer und geragogischer Erkenntnisse.

  • FoGera setzt sich dafür ein, die Geragogik als eigene Wissenschaftsdisziplin in Theorie und Praxis weiter zu begründen und auszubauen – wie zum Beispiel im Arbeitskreis Geragogik der Sektion IV der Deutschen Gesellschaft für Geriatrie und Gerontologie. Es gilt, Geragogik an den Universitäten/Hochschulen noch stärker als bisher zu verankern.

Mit diesem letzten Punkt ist zugleich der Aspekt der Perspektiven angesprochen: Die Wissenschaft der Geragogik braucht eine feste Verankerung als eigenen Lehrstuhl an einer Universität. Wer es ernst meint, Potenziale des Alters zu fördern und eine Gesellschaft des langen Lebens zu gestalten, die ein gelingendes Altern für jeden Einzelnen verfolgt, muss auch der Geragogik ihren Stellenwert an den Universitäten einräumen. Hier ist die Wissenschaftspolitik gefordert.
   Wichtige künftige Fragen werden sein, wie die Geragogik mit der Weiterbildung älterer Arbeitnehmer verknüpft werden kann. Ein Teil ist dabei die Ausbildung von Pflegefachkräften.
   FoGera wird sich weiter an diesen Vorhaben beteiligen und die Wissenschaft der Altersbildung in Theorie und Praxis fortentwickeln. Denn die Gestaltung der demografischen Alterung bedingt die Ausweitung von Lernen im Alter.

Literatur

Barakat B, Goujon A, Samir KC, Lutz W (2009) Bildung ist der Schlüssel. In: Vaupel JW, Lutz W, Doblhammer G (Hg) Demografische Forschung aus 1. Hand 6(1):1–2.
Bubolz-Lutz E (2007) Geragogik – Eine Bestandsaufnahme. Wissenschaftliche Disziplin und Feld der Praxis. Erwachsenenbildung 53(4): 178–181.
Bubolz-Lutz E, Kricheldorff C (2006) Freiwilliges Engagement im Pflegemix. Neue Impulse. Freiburg. (Lambertus).
Gösken E, Köster D, Kricheldorff C (2007) Altersbildung – mehr als die Nutzung von Bildungsangeboten. Profilschärfung und Weiterentwicklung fachlicher Positionen des 5. Altenberichts. forum Erwachsenenbildung (2): 39–44.
Grymer H, Köster D, Krauss M, Ranga MM, Zimmermann JC (2005 und 2. Aufl. 2008) Altengerechte Stadt – Das Handbuch. Partizipation älterer Menschen als Chance für die Städte. Münster.
Köster D (2005) Bildung im Alter … die Sicht der kritischen Sozialwissenschaften. In: Klie T, Buhl A, Entzian H, Hedtke-Becker A, Wallrafen-Dreisow H (Hg) Die Zukunft der gesundheitlichen, sozialen und pflegerischen Versorgung älterer Menschen. Frankfurt a.M. 95–109.
Köster D (2002) https://eldorado.uni-dortmund.de/bitstream/2003/2938/2/koestergesunt.pdf. Universität Dortmund.
Köster D, Schramek R, Dorn S (2008): Qualitätsziele moderner SeniorInnenarbeit und Altersbildung. Das Handbuch. Oberhausen (Athena-Verlag).