Was ist anders bei der Anwendung der kognitiven Verhaltenstherapie im Alter?
Jede psychotherapeutische Schule ist in der Arbeit mit älteren Menschen herausgefordert, etablierte Vorgehensweisen und erlernte Interventionen an die besonderen Bedürfnisse Älterer anzupassen. Bei dieser Anpassung werden gerne gerontologische Konzepte berücksichtigt, um eine wissenschaftlich plausible Modifikation des etablierten Vorgehens vornehmen zu können. Nachdem in früheren gerontologischen Modellen gewöhnlich ein Abwärtsverlauf betont und ein »Defizitmodell« vertreten wurde, vermittelten Gerontopsychologen in den letzten 20 Jahren oft ein zu einseitig positives »Kompetenzmodell« des Alterns. Erst in den letzten Jahren wurde ein nuancierteres Bild des Alterns gezeichnet, das wichtige begriffliche Unterscheidungen, theoretische Perspektiven und Modelle beinhaltet.
Für die Gerontologie ist nun zentral, dass die Entwicklungsdynamik im Alter auch durch eine Maximierung von Gewinnen und eine Minimierung von Verlusten gekennzeichnet ist. Im höheren Lebensalter verringert sich die Möglichkeit der Gewinnmaximierung zwar im Vergleich zu früheren Lebensphasen, sie ist aber nicht außer Kraft gesetzt. Als Gewinne werden dabei Anpassungs- und Kompensationsleistungen gesehen sowie die Ausbildung von neuen Verhaltensmerkmalen und die zunehmende Nutzung des soziokulturellen und technischen Fortschritts. Die Gewinne zeigen sich z. B. als Reife, lebenspraktische Intelligenz (Lebenswissen) oder Weisheit. Verluste im Alter sind Fähigkeitseinschränkungen und die Reduktion des sozialen Netzwerks, wobei Bewältigungsanforderungen durch Krankheiten und Behinderungen zunehmen, begleitet von Einschränkungen der individuellen Zukunftsperspektive.
Die Gewinn-Verlust-Perspektive liegt den meisten Modellen der modernen Interventionsgerontologie zugrunde und wird auch in verschiedenen psychotherapeutischen Richtungen auf jeweils eigene Weise berücksichtigt. Die Therapiemotivation älterer Patienten ist beispielsweise häufig besonders zielgerichtet aufgrund der Kombination der erwähnten psychologischen Gewinne mit der kürzeren Zukunftsperspektive. Diese Zielgerichtetheit wird durch das störungsspezifische Vorgehen der kognitiven Verhaltenstherapie unterstützt (Maercker et al. 2004).
Als Psychoanalytiker unterstrich auch Radebold (1997) den Stellenwert von Kurzzeitpsychotherapien bei der Behandlung älterer Menschen. Die Empfehlungen zur Modifikationen in der Alterspsychotherapie entsprechen sich weitgehend, ob man nun in ein psychoanalytisches (z. B. Heuft et al. 2006) oder in ein kognitiv-verhaltenstherapeutisches (z. B. Forstmeier u. Maercker 2008) Lehrbuch blickt: langsameres Vorgehen, Verwendung von Gedächtnishilfen, unkonventionelle Settings (z. B. am Bett des Patienten), explizite Berücksichtigung vorhandener Ressourcen sowie eine enge Rückkopplung mit medizinischen Kollegen.
Unterschiedlich ist aber der Grad der Strukturiertheit des therapeutischen Vorgehens: Lebensrückblicksinterventionen, wie sie von Knaevelsrud et al. beispielsweise im vorliegenden Heft beschrieben werden, sind deutlich strukturierter als in psychodynamischen Varianten (Lohmann u. Heuft 1995).
Wenn kognitive Verhaltenstherapeuten altersbezogene Modifikationen des therapeutischen Vorgehens begründen, rekurrieren sie häufig auf das Modell der selektiven Optimierung mit Kompensation (SOK-Modell nach Baltes u. Carstensen 1996, z. B. Geyer u. Daibel in diesem Heft). Nach diesem Modell werden erfolgreiche psychische Anpassungsprozesse im Alter durch Selektion, Optimierung und Kompensation erreicht.
Selektion bezieht sich auf die Auswahl von Zielen und Verhaltensbereichen, die mit den begrenzter werdenden Ressourcen noch erfolgreich erreicht werden können. Beispielsweise lernen Angehörige von Schlaganfall- und Demenzerkrankten, ihre eigenen Ansprüche im Umgang mit dem Erkrankten an dessen Leistungsniveau anzupassen (siehe z. B. Schinköthe et al. und Favre et al. in diesem Heft).
Optimierung bezieht sich auf die Stärkung und Nutzung vorhandener zielrelevanter Handlungsabläufe und Ressourcen. Das Trainieren von Fertigkeiten – z. B. von Kommunikation, sozialer Kompetenz und Problemlösung – hat in der Verhaltenstherapie eine lange Tradition. Die gerontologische Interventionsforschung hat gezeigt, dass die meisten älteren Menschen eine beträchtliche mentale Reserve besitzen, die durch Übung und Lernen aktiviert werden kann. In diesem Heft zeigt sich dies besonders im Fallbeispiel von Weusthoff und Hahlweg sowie in der Studie von Werheid et al. Auch im Aufbau angenehmer Aktivitäten in der Behandlung von depressiven und dementen Patienten werden Optimierungsstrategien angewandt (siehe z. B. Geyer u. Daiber sowie Thöne-Otto u. Hartwig in diesem Heft).
Kompensation schließlich zielt auf die Schaffung, das Training und die Nutzung neuer Handlungsmittel ab, um Einschränkungen und Verlusten entgegenzuwirken. Kompensationsstrategien richten sich vor allem auf die physikalische Umwelt (z. B. Gestaltung des Wohnraums und der Treppen, altersgerechtes Wohnen usw.) und auf den Einbezug von Diensten und Serviceleistungen der Familie, der Partner und der Gemeinde (z. B. Essensdienste, Pflegedienste, Einkaufshilfen).
Dieses Heft zur kognitiven Verhaltenstherapie im Alter wurde in der Hoffnung zusammengestellt, dass die Breite und Vielfalt kognitiv-verhaltenstherapeutischer Interventionen in der Alterspsychotherapie deutlich sichtbar wird. Solche Interventionen sollten mehr und mehr Eingang in die konkrete Arbeit mit älteren Menschen finden. Sie sind bei einer Vielzahl von Störungen (z. B. Posttraumatische Belastungsstörung, Angststörungen, Anpassungsstörungen, beginnende Demenz, Depression), Settings (Einzeltherapie, Gruppentherapie, Paartherapie) und Einrichtungsformen (ambulant, stationär) einsetzbar. In den Fallbeispielen wird sichtbar, dass der kognitive Verhaltenstherapeut trotz aller Strukturiertheit der Methoden den einzelnen Patienten offen und flexibel begegnet und Interventionen so wählt und anpasst, dass sie seinem Wohle dienen.
Simon Forstmeier (Zürich)
Literatur
Heuft G, Kruse A, Radebold H (2006) Lehrbuch der Gerontopsychosomatik und Alterspsychotherapie (2. Ed.). Stuttgart (UTB).
Baltes MM, Carstensen LL (1996) Gutes Leben im Alter: Überlegungen zu einem prozessorientierten Metamodell erfolgreichen Alterns. Psychologische Rundschau 47: 199–215.
Maercker A, Nitsche I, Schuster P, Boos A (2004) Ambulante Psychotherapie Älterer: Sind ältere Psychotherapiepatienten »einfachere« Patienten? Z Gerontologie Geriatrie 37: 265–271.
Radebold H (1997) Kurzzeitpsychotherapie bei Erwachsenen im höheren und hohen Alter. Schweizerisches Archiv für Neurologie und Psychiatrie 148: 215–220.
Forstmeier S, Maercker A (2008) Probleme des Alterns. Band in der Reihe »Fortschritte der Psychotherapie«. Göttingen (Hogrefe).
Lohmann R, Heuft G (1995) Life review: Förderung der Entwicklungspotentiale im Alter. Z Gerontologie Geriatrie 28: 236–241.