Johannes Kipp und Peter Bäurle: Editorial zum Themenheft
“Die neue Generation 50+”

Die neue Generation 50 +

Warum so wenig glücklich

HÄLFTE DES LEBENS

Mit gelben Birnen hänget
Und voll mit wilden Rosen
Das Land in den See,
Ihr holden Schwäne,
Und trunken von Küssen
Tunkt Ihr das Haupt
Ins heilignüchterne Wasser.

Weh mir, wo nehm’ ich, wenn
Es Winter ist, die Blumen, und wo
Den Sonnenschein,
Und Schatten der Erde?
Die Mauern stehn
Sprachlos und kalt, im Winde
Klirren die Fahnen.

Der 50. Geburtstag kennzeichnet sicher nicht die Hälfte des Lebens, aber doch die Hälfte des Erwachsenenlebens. Die Verse, die vom damals schon kranken 35-jährigen Hölderlin 1805 geschrieben wurden, zeigen etwas von der Wehmut und den Befürchtungen, die Menschen vor dem 50. Geburtstag haben können. Glücklicherweise wird es mit dem 50. Geburtstag nicht Winter und wir müssen nicht in der Zeit danach auf Sonnenschein verzichten. Soviel ist aber sicher, die Lebenszeit zwischen dem 50. und 60. Lebensjahr ist nicht die glücklichste Phase im Leben eines Menschen, wie Meinungsumfragen zeigen (Blanchflower u. Oswald 2008). Die Autoren sprechen von einer u-förmigen Kurve, d.h. sowohl die jüngeren als auch die älteren Menschen sind offenbar insgesamt glücklicher als Menschen in diesem mittleren Alter. Jüngere Menschen haben noch Träume, auf deren Verwirklichung sie hoffen. Im mittleren Erwachsenenalter wächst die Erkenntnis, dass sich viele Träume niemals mehr verwirklichen werden. Ältere Menschen dagegen haben viele Träume aufgegeben und gelernt, sich mit ihren Stärken und Schwächen zu arrangieren.
   Obwohl sich direkt um den 50. Geburtstag meist nicht viel ändert, wird der Geburtstag doch als eine Barriere empfunden – beruflich geht es meist ohne Einschnitte weiter, die Kinder gehen allmählich aus dem Haus, Gesundheit und Leistungsfähigkeit sind in der Regel noch nicht stark eingeschränkt, nur bei Frauen kennzeichnet das Klimakterium diese Zeit als Phase der Änderung. Natürlich steigt in diesem Lebensalter das Risiko, die Arbeit zu verlieren oder aufgrund körperlicher Beschwerden und Krankheiten schwere Arbeiten nicht mehr ausführen zu können mit der Folge, dann schwer wieder ins Arbeitsleben vermittelbar zu sein und zum »alten Eisen« zu gehören. Sicher ist dies besonders bedrückend, wenn man mit der Lebensperspektive gelebt hatte, bis zum 65. Lebensjahr zu arbeiten, und finanziell nicht genügend abgesichert ist. Ein solches berufliches Schicksal löst Krisen aus. Eine intensive Psychotherapie kann in solchen Lebenskrisen helfen, mit diesen Belastungen besser fertig zu werden.
   Für viele ist aber die Karriereleiter in diesem Alter noch nicht zu Ende. Oft erklimmen die 50- bis 60-Jährigen ihre höchste berufliche Position. Die Erfolgreichen treffen dann in Leitungsstellen weitreichende politische, ökonomische und soziale Entscheidungen. Eine solche Entscheidungskompetenz ist einerseits bestätigend, geht aber auch mit extremen Leistungsanforderungen und mit Stress einher, was zur Überforderung führen kann. Nicht zu selten kann es zu Krisen kommen, wenn unsichere Situationen auftreten und noch mehr Flexibilität erwartet wird. Wenn Menschen in solchen Positionen diesen Anforderungen nicht mehr standhalten können, reagieren sie depressiv und entwickeln ein »Burn-out«.
   Bei den ganzen Überlegungen zum Altern und zu den Einschränkungen im Alter sollte man sich aber im Klaren sein, dass es keine festgelegte biologische Grenze gibt, wann das Alter beginnt. In Deutschland beispielsweise ist die Altersgrenze von 65 Jahren durch die Sozialgesetzgebung von Bismarck zustande gekommen. Sie wird jetzt sogar allmählich noch nach oben verschoben. Körperlich können schon die 50- bis 60-Jährigen mit den Jüngeren nicht mehr mithalten, was sicher gerade für sportliche Männer, die ihr Selbstbewusstsein mit ihrer körperlichen Leistungsfähigkeit verbunden hatten, schwer zu ertragen ist. Im Ausdauersport sinkt ihre Leistungsfähigkeit gegenüber den Jüngeren jedoch kaum ab (Leyk et al. 2010). Die Gefahr von ernsthaften Erkrankungen steigt nach dem 50. Lebensjahr relativ moderat an. So verdoppelt sich die Herzinfarktinzidenz erst bei den 55- bis 64-Jährigen gegenüber den 45- bis 54-Jährigen (Weyerer et al. 2008, 123) und Schlaganfälle (133) und Oberschenkelfrakturen (151) sind in dieser Lebenszeit noch selten. Die zunehmende gesundheitliche Gefährdung kommt vielleicht im steigenden Arzneimittelverbrauch ab dem 45. Lebensjahr zum Ausdruck: Die 55-Jährigen nehmen ungefähr dreimal so viele Tagesdosen ein wie die 30-Jährigen, jedoch nur halb so viele wie die 80-Jährigen (Weyerer u. Bickel 2007, 184).
   Sicher beeinträchtigen die kleinen Malaisen des Alltags das Lebensgefühl, sie sind aber weitaus geringer als im höheren Alter, in dem die Lebenszufriedenheit wieder ansteigt. Während Kopfschmerzen häufig das Leben bei jüngeren Menschen schwer machen, treten in diesem Alter Rücken- und Gelenkschmerzen in den Vordergrund (Weyerer et al. 2008, 195). Auch Schlafstörungen werden im Alter von 50 Jahren häufiger (Weyerer u. Bickel 2007, 139). Positiv kann man zwar vermerken, dass der schädliche Alkoholkonsum in diesem Alter deutlich zurückgeht. Die Rate der Männer, bei denen eine Alkoholabhängigkeit vorliegt, fällt beispielsweise von 17% bei den 18- bis 29-Jährigen auf 4,6% bei der Altersgruppe von 45–64-Jährigen (Weyerer u. Bickel 2007, 171). Natürlich kann man fragen, auf was diese gesundheitsbewusstere Lebensführung zurückzuführen ist. Handelt es sich hierbei um eine vernunftgeleitete Zurückhaltung oder verträgt man schon in diesem Alter den Alkohol soviel schlechter, dass dies der Grund für den eindrucksvollen Rückgang ist?
   Insgesamt verbinden wir diese Lebenszeit wenig mit Ausgelassenheit, Freude und Überschwänglichkeit, obwohl in dieser Zeit bei vielen Menschen Erleichterungen eintreten: Die Verantwortung für die Kinder lässt nach, es gibt mehr Freizeit und dadurch mehr Möglichkeiten zur Selbstverwirklichung. Menschen, die ihre Position in Partnerschaft, Gesellschaft und Beruf gefunden haben, müssen weniger kämpfen und können dies als befreiend erleben. Nach unserer Beobachtung wird diese Sicherung der eigenen Rolle aber selten in ein befreites Verhalten umgesetzt, vielmehr bekommen Konventionen einen höheren Stellenwert. Beispielsweise wird es schwieriger, lockere Treffen mit Bekannten zu vereinbaren, da aufwendiges Kochen und Bewirten immer mehr Voraussetzung zu werden scheint. Dass diese Lebensphase aber positive Aspekte mit sich bringt, zeigen auch die Lebensaufgaben bzw. psychosoziale Aufgaben für dieses »mittlere« Lebensalter (also vom 45./50.–60./65. Jahr), die von Radebold (1992, 68ff) aufgelistet werden:

»Aufgabe: Reagieren auf den sich verändernden eigenen Körper (physische und psychische Anteile):

  • Bewusstmachen und Akzeptieren der mit dem Älterwerden einhergehenden äußerlichen und inneren Veränderungen (Aussehen, Leistungsfähigkeit etc.);

  • sich auseinandersetzen mit erstmaligen oder zunehmenden Erkrankungen;

  • Notwendigkeit eigener gesundheitsunterstützender Aktivitäten und Prävention;

  • stärkerer Wechsel von Aktivität und Entspannung

Aufgabe: Umgehen mit den eigenen libidinösen, aggressiven und narzisstischen Strebungen:

  • Bewusstmachen und Akzeptieren unverändert intensiv fortbestehender Triebbedürfnisse und aktives Gestalten (als Mann und Frau) von Triebbefriedigungen;

  • Akzeptieren bisher eher abgewehrter männlicher und weiblicher Triebaspekte;

  • stärkeres Suchen von Nähe und Intimität sowie von Verwöhnung;

  • Auseinandersetzung mit eigenen Neid- und Konkurrenzgefühlen gegenüber den Jüngeren;

  • Auseinandersetzung mit der narzisstischen Kränkung durch das Älterwerden und durch die unerreichten Lebensziele.


Aufgabe: Gestalten der intragenerativen Beziehungen:

  • Gestalten der jetzt erstmalig oder erneut bestehenden Zweierbeziehung in der nachelterlichen Phase bei sich gegenseitig verändernder Identität und sich wandelnden Bedürfnissen;

  • Akzeptieren der stärkeren Verselbstständigung der Frau;

  • gemeinsames Vorbereiten auf das Älterwerden nach Ausscheiden aus dem Arbeitsprozess;

  • gemeinsames Benennen von prägenitalen und genitalen Triebbedürfnissen und Suchen nach Befriedigungsmöglichkeiten;

  • bewusstes Umgestalten der langfristig bestehenden Beziehung oder bewusstes Eingehen einer neuen Paarbeziehung;

  • Stabilisieren der bisherigen Beziehungen zu Geschwistern, Freunden und Bekannten;

  • beidseitiges Suchen nach neuen Beziehungen, die das berufliche Kontaktnetz erweitern bzw. ablösen.


Aufgabe: Gestalten der intergenerativen Beziehungen:

  • Ablösen von den eigenen Kindern und Schaffen einer neuen Beziehung zu ihnen als jungen Erwachsenen mit Aufgabe früherer Erwartungen/Delegationen;

  • Gestalten der Beziehung zu den Schwiegerkindern;

  • weiteres Unterstützen der Kinder;

  • Übernehmen von Großelternfunktionen und Gestalten der Beziehung zu Enkeln;

  • Übernehmen von »filialen« Aufgaben für die (Schwieger-)Eltern und Trauern über ihren Verlust;

  • Übernehmen von Mentoraufgaben für andere Jüngere;

  • Austauschen von Meinungen, Ansichten mit der jüngeren Generation.


Aufgabe: Sich stabilisieren durch Beruf und Interessen:

  • Aufgeben des Karrierestrebens;

  • Einbringen von Erfahrungen in den eigenen Beruf und Erhalten von Kenntnissen (Fortbildung);

  • Suchen und Übernehmen unbezahlter Tätigkeit;

  • Suchen und Weiterentwickeln von Interessen und Fähigkeiten;

  • Vorbereiten auf das Ausscheiden aus dem Arbeitsprozess und Umsetzen desselben;

  • Suchen und Umsetzen von kreativen/musischen und weiteren Fähigkeiten.

Aufgabe: Erhalten der sozialen Sicherheit oder Versorgung:

  • Vorsorge treffen für sich selbst und den Partner;

  • Vorbereiten auf sich verändernde Einkommensbedingungen (nach Ausscheiden aus dem Arbeitsprozess).

Aufgabe: Erhalten der eigenen Identität:

  • Finden der Identität als Mann/Frau im mittleren Lebensalter und im Übergang zum Alter stehend;

  • Aufgeben der bisherigen psychosozialen Aufgaben und bewusstes Übernehmen von neuen;

  • sich dabei auf Erfahrungen als Erwachsener stützend;

  • Bestimmen des eigenen intergenerativen Standortes.

Aufgabe: Einstellen auf die sich verändernde Zeitperspektive sowie auf Sterben und Tod:

  • Bewusstwerden der eigenen Endlichkeit (aufgrund der Verluste von (Schwieger-)Eltern, Älteren aber auch gleichaltrigen Verwandten, Freunden);

  • Rückblicken mit Überprüfen von Lebenszielen und Erwartungen;

  • Sich der verringernden Zukunftsperspektive bewusst werden;

  • Auseinandersetzen mit und Erleben von Sterben und Tod in der näheren Umwelt.«

Zwar kommen viele positive Aspekte bei dieser Aufzählung der Lebensaufgaben in diesem Alter zum Ausdruck, Aspekte der Erleichterung oder Befreiung scheinen mit dieser Lebenszeit aber wenig verbunden zu sein. Aus unserer Sicht sollte bei der Psychotherapie von Menschen dieser Generation darauf hingearbeitet werden, dass sie nicht zu sehr in Konventionen verharren, sondern die neuen Möglichkeiten auch nutzen, die die neue Generation 50+ – wie keine zuvor – hat. Vielleicht gelingt es Menschen dieser Generation dann, sich ein wenig glücklicher zu fühlen.
   Peters (2005) macht in Bezug auf das Arbeitsleben noch auf einen anderen Gesichtspunkt aufmerksam: »Bereits in der Lebensmitte, wenn sich die beruflichen Alternativen reduzieren, stellt sich die Aufgabe, die Arbeit als selbst gestellte Aufgabe statt als zugewiesene oder lebensnotwendige Pflicht zu begreifen …« (126). Auch durch eine Einstellungsänderung zur Arbeit kann sich eine Erleichterung und Befreiung einstellen, die Kreativität und Lebensfreude freisetzen kann.
   Für Psychotherapeuten, die mit Menschen in diesem Lebensalter arbeiten, sind Kenntnisse der heutigen Lebenswelt aber auch Fantasien notwendig, um diese, falls sie depressiv geworden sind, aus einer Sackgassenposition heraus zu führen.

 Literatur

Blanchflower DG, Oswald AJ (2008) Is well-being U-shaped over the life cycle? Social Science & Medicine 66: 1733–1749.
Leyk D, Rüther T, Wunderlich M et al. (2010) Physical performance in middle age and old age: good news for our sedentary and aging society. Dtsch Arztebl Int 107(46): 809–816.
Peters M (2004) Klinische Entwicklungspsychologie des Alters. Göttingen (Vandenhoeck & Rupprecht).
Radebold H (1992) Psychodynamik und Psychotherapie Älterer. Heidelberg, Berlin (Springer).
Weyerer S, Bickel H (2007) Epidemiologie psychischer Erkrankungen im höheren Lebensalter. Stuttgart (Kohlhammer).
Weyerer S, Ding-Greiner C, Marwedel U, Kaufeier T (2008) Epidemiologie körperlicher Erkrankungen und Einschränkungen im Alter. Stuttgart (Kohlhammer).