Tabu und Alter

Tabus sind Meidungsgebote, deren Überschreitung sanktioniert wird. Oft folgt der Ausschluss des Tabuübertreters aus der Gemeinschaft. »Die Tabuverbote entbehren jeder Begründung, sie sind unbekannter Herkunft, für uns unverständlich, erscheinen sie jenen selbstverständlich, die unter ihrer Herrschaft stehen« (Freud 1912/13, 27).
   Tabus sind oft unhinterfragt, strikt und unausgesprochen. Sie werden allenfalls durch beredtes Schweigen, Anspielungen und Ironie indirekt thematisiert. Gerade durch ihren stillschweigenden Charakter unterscheiden sie sich von Verboten. Ähnlich stillschweigend zeigen sich transgenerationale Traumatisierungen.
   Tabus schützen bestehende Ordnungen im Spannungsfeld von Begrenzung und Grenzüberschreitung. Sie schließen nicht die Gesamtheit einer Person aus, sondern beziehen sich auf bestimmte Daseinszustände wie Schwangerschaft, Geburt, Menstruation und Alter. In der Psychoanalyse wird der Begriff Tabu meist in Zusammenhang mit dem Inzest-Tabu gebraucht.
Wie ist es aber mit dem Alter? Am Besten begegnen wir den Alterstabus, wenn wir überlegen, mit welchen Äußerungen über das Alter wir ins Fettnäpfchen treten und uns blamieren. Lassen wir uns vom Alter wirklich berühren, selbst wenn wir alt sind?
   In Wikipedia, der Kurzinformationsquelle auch für Bildungsbürger, wird Tabuempfinden mit dem Tod und der Sterblichkeit des Menschen in Verbindung gebracht, die existenzielle Gefährdung, das Totsein sei das Tabu schlechthin. Ferner werden »Tabuthemen« genannt: Sexualität, Alter, Tod, Flucht und Vertreibung der Deutschen im Zweiten Weltkrieg, also gerade jene Themen, mit denen wir uns immer wieder auf unseren Symposien beschäftigen.
   Jetzt seien aber zur Verdeutlichung der Problematik zwei Szenen als Gegenbilder illustriert. Freud (1912) bringt den Begriff Tabu mit heiliger Scheu in Verbindung. Ich beginne mit einem Beispiel aus dem Bereich des Heiligen und Sakralen.

Das Hochamt der Hochaltrigkeit

Im Mai 2011 erlebte ich (BvdS) in der Alexander Newski Kathedrale in Sofia den Auftritt des 97-jährigen Patriarchen Maxim von Bulgarien. An einem Wochentag strömten vor der Kathedrale plötzlich die Menschen zusammen und hektische Fotografen sprangen um die Prozession der Bischöfe und Popen herum. Schließlich folgte ein prunkvoller Gottesdienst mit liturgischen Gesängen und Predigt. Patriarch Maxim ist eine ideale Projektionsfläche für hohes Alter und vermeintliche Unsterblichkeit. Mit fester Stimme und bei offenbar geistiger Frische stand er im Zentrum des Geschehens. Ein fast Hundertjähriger, der nicht, wie viele Hochaltrige, wie ein lebender Leichnam wirkt, sondern ein immer noch aktiver Überlebender des Zweiten Weltkrieges und der kommunistischen Diktatur und ein Überwinder eines Schismas nach der Wende. Er ist außerdem eine ideale Projektionsfläche für die Vatersehnsucht und die Bestätigung, dass es so was wie einen alten Weisen gibt. Er vermittelt eine ideale Vorstellung davon, wie wir alle werden wollen, außerdem nährt er die Illusion vieler, die um die fünfzig Jahre alt sind, allenfalls die Hälfte des Lebens erreicht zu haben. Wie die tatsächliche Lebensrealität des Patriarchen und vieler anderer Hochaltriger aussieht, wird von der festlichen Inszenierung überstrahlt.

Schmähungen des Alters

Was viele auf der Zunge haben, aber keiner aussprechen möchte, wohl aber unsere Fantasien über das Alter bestimmt, sind populäre Schmähungen des Alters mit diskriminierenden Unflätigkeiten. Selbst in der Zeit des betulichen Biedermeiers gab es volkstümliche Bilderbogen über die Altersstufen des Menschen, die über das Alter wenig Erfreuliches ausdrückten: »60 Jahre geht’s Alter an, 70 Jahr ein Greis, 80 Jahre weiß, 90 Jahre ein Kinder Spott, 100 Jahre Gnad von Gott« (Böhmer 1968, 29). Den gut erzogenen Bildungsbürger wird es vielleicht erschrecken, dass gerade Goethe vor drastischen Sprüchen nicht zurückschreckte: »Gerne der Zeiten gedenk ich, da alle Glieder gelenkig – bis auf eins. Doch die Zeiten sind vorüber, steif geworden alle Glieder – bis auf eins.« Umgangssprachliche Schmähungen und Vorstellungen vor allem im sexuellen Bereich sind allbekannt, z.B. das Bild des alten geilen Bockes, oder – gegen Frauen gerichtet – mit bildungsbürgerlicher Attitüde: »Von hinten Lyzeum, von vorne Museum«, oder: »Alte Scheunen brennen besser«, oder: »Je oller, je doller«.
   Nicht umsonst gibt es in der Bibel das Gebot der Elternehrung, dem der bekannte 68er Spruch entspricht: »Du sollst Deine Eltern ehren, wenn sie um die Ecke glotzen, sollst sie in die Fresse rotzen.« Hier reicht es jetzt, die Liste ließe sich unbegrenzt bis auf das Niveau von Toilettensprüchen erweitern. Wenn man Freuds Gedanken aus der Traumdeutung ernst nimmt, so sind derartige quasi verbotene Gedanken ein Königsweg zum Unbewussten, sie markieren als Alterstabus Ängste und Abgrenzungsbemühungen vor dem Alter bei gleichzeitigem Wunsch, vielleicht doch ganz alt zu werden.

Psychoanalyse und Tabubruch

Psychoanalyse und Alter ist ohnehin ein Tabubruch. Es ist auch ein Tabubruch im Hinblick auf Freuds Vorstellung, dass eine Psychoanalyse im Alter von über 45 Jahren nicht mehr möglich sei. Freuds Kampf mit dem Alter ab dem 45. Lebensjahr kann man gut in Max Schurs Buch nachvollziehen (Schur 1973).
In Deutschland bedeutet bis heute die Beschäftigung mit dem Alter und die damit verbundene Frage nach der Beschädigung der alt gewordenen Kriegskinder gleichzeitig die Aufarbeitung des Dritten Reiches und des Zweiten Weltkriegs. Indem man sich ins Minenfeld von Täter- und Opferverstrickungen begibt, tritt man noch immer in zahlreiche Fettnäpfchen und berührt so manches Tabu. Nebenbei wird dadurch auch das religiöse Gebot berührt: »Du sollst Deine Eltern ehren«, das eigentlich tabuisiert, Handlungen der Eltern kritisch zu hinterfragen.
   Selbst, wenn man keine großen Autoritätskonflikte mit alten Menschen oder mit den eigenen Eltern hat, so gibt es doch nicht selten die Notwendigkeit zu Tabuüberschreitungen im Zusammenhang mit dem Alter. Wir konnten in unserem Symposium nicht alle Tabubereiche erschöpfend behandeln. Hier also nur einige Tabubereiche:
   Das Inzesttabu wird berührt, wenn alte Menschen von ihren Kindern gepflegt werden und beispielsweise die Tochter den Intimbereich ihres Vaters oder der Sohn den seiner Mutter waschen muss. Für viele ist so etwas ein unerträglicher Gedanke, über den sie nur ungern sprechen. Lieber lassen sie sich unterstellen, sie seien zu egoistisch, um sich um ihre Eltern zu kümmern.
   Ödipale Motive im Kontext mit abgewehrten Tötungsfantasien sind bei manchen Angehörigen zu beobachten, wenn es um Diskussionen im Zusammenhang mit lebensverlängernden Maßnahmen Älterer geht. Manch ein Arzt und manche Krankenschwester sind merkwürdig berührt, wenn die Fantasie aufkommt, Angehörige wollten bald erben und würden deshalb aus vorgeschobenen pseudoethischen Motiven wünschen, dass das »Leiden nicht unnötig verlängert werden soll«. Auch die Vorstellung, den Opa über den nächsten Ersten zu bringen, um noch einmal die Rente zu kassieren, gehört dazu. Solche Gedanken sind weniger Gegenstand wissenschaftlicher Diskurse, sondern Themen zynischer Witze in Pausengesprächen in Krankenhäusern oder Pflegeeinrichtungen. In welchem Licht erscheint man, wenn man sie äußert? Sind es nur die Anderen, die so etwas denken und tun, oder projiziert man eigene tabuisierte Gedanken in andere?
   Wie ist es, wenn alte Menschen mit einer demenziellen Erkrankung Tabus brechen und wenn z.B. ehemals kultivierte und gebildete Personen sexuell enthemmt oder gewalttätig werden oder auch nur gegen ihre frühere Gewohnheit Fäkalsprache verwenden? Wie ist es, wenn eine pflegende Tochter von ihrem dementen Vater geschlagen wird?
   Wie gehen Betroffene mit einschränkenden und schambesetzten Altersgebrechen um? Kann man offen über Schwerhörigkeit, Inkontinenz und notwendigen Hilfsmittelgebrauch sprechen? Wie heikel ist es, jemanden auf einen penetranten Uringeruch anzusprechen, insbesondere dann, wenn der Betroffene es selbst nicht mehr merkt.
   Heikle Themen in Bezug auf die Defizite des Alterns gibt es viele. Was ist, wenn Fähigkeiten unwiederbringlich verloren gehen? Viele kennen die Notwendigkeit, peinlichen Fragen nach der Fahrtüchtigkeit zu stellen. Muss jemand für den suchtkranken Vater aufkommen, der sich nie um einen gekümmert hat? Wie ist es mit einer gegenseitigen Tabuisierung der freien Meinungsäußerung, wenn ein alter Mensch befürchtet, ins Heim abgeschoben zu werden, und ein Jüngerer Angst hat, enterbt zu werden, wenn er unbequeme Themen anspricht?
   Nun zur Therapie: Die Zeiten, in denen Psychotherapie im Alter ein Tabubruch war, sind vorbei. Aber dennoch fällt auf, wie wenig Therapeuten versuchen, mit Älteren zu arbeiten. Wie können Abstinenz und Neutralität gestaltet werden, wenn Psychotherapie wegen zunehmender Gebrechlichkeit der Patienten aufsuchend durchgeführt werden muss? Tun sich nicht gerade orthodoxe Analytiker damit schwer, wenn man, ohne es zu wollen, in Grenzbereiche von Sterbebegleitung und Seelsorge gerät?
   Wie ist der Tabubruch der umgekehrten Übertragung gerade für junge Therapeuten aushaltbar. Wie geht man mit der Übertragungsliebe bei Älteren um? Wie verhält man sich, je nach eigenem familiären Hintergrund, gegenüber Opfern, Tätern und Mitläufern der NS-Zeit? Wie kann man das tabuisierte Thema der Vereinsamung, die manchmal unter dem Deckmantel der äußeren Betriebsamkeit oder der manischen Reiselust verborgen ist, ansprechen, ohne verletzend zu werden? Wie weit kann und darf man Älteren Grenzen aufzeigen und sie z.B. in Gruppentherapien potenziell kränkenden Situationen aussetzen?
   Wie geht die Gesellschaft mit tradierten Tabus um, wenn es bei Älteren um Liebe und Sexualität geht. Wie werden neue Aktivitäten, wie etwa ein Seniorenstudium, beurteilt? Wie sieht es mit neuen gesellschaftlichen Tabus für Ältere aus? Es ist zumindest unattraktiv, ein nicht mehr rüstiger und aufgeschlossener Alter zu sein? Darf man sich überhaupt zurückziehen? Muss ein konventionell lebender alter Homosexueller sich unbedingt outen? Darf man als alter Mensch auch die Freiheit zum Desinteresse und zur Regression haben? Wollen wir die Tabus alter Migranten verstehen oder nehmen wir sie tabuisierend nicht zur Kenntnis?
   Weitere Fragen drängen sich immer mehr auf? In der 68er Zeit wurden viele Tabus gebrochen und Entwicklungen angestoßen. Aber welche Tabus wurden nicht bearbeitet und welche wurden sogar neu geschaffen? Soviel ist aber festzustellen, Tabubrüche ermöglichen Chancen zur Weiterentwicklung und Selbstwerdung, sie schaffen oft eine konkrete Befreiung und Entlastung. Aber Tabus schützen auch und ermöglichen eine sichernde Gemeinschaft. In der weiteren Diskussion muss darum gehen, welche Tabus bzw. welche Tabubrüche in der Beziehung zu älteren Menschen notwendig sind.

Bertram von der Stein (Köln) & Reinhard Lindner (Hamburg)

Literatur

Freud S (1912/1913) Totem und Tabu. GW IX.
Schur M (1973) Sigmund Freud. Leben und Sterben. Frankfurt/M. (Suhrkamp).

Bertram von der Stein und Reinhard Lindner: Editorial zum Themenheft
“Tabus in der therapeutischen Beziehung”