Brigitte Terner & Johannes Kipp: Editorial zum Themenheft
“Einsamkeit”

Einsam in der Zeit, die bleibt?

Wenn dich alles verlassen hat, kommt das Alleinsein.
Wenn du alles verlassen hast, kommt die Einsamkeit.
Alfred Polgar (1873–1955)

Einsamkeitsgefühle können Menschen durch das ganze Leben begleiten. In der Jugend sind sie oft noch mit Hoffnungen auf eine bessere Zukunft verbunden – im Alter besteht die Hoffnung auf ein Noch, dem Wunsch, noch mit anderen Menschen in Beziehung zu bleiben und nicht isoliert und allein gelassen zu werden. Der Optimismus im Alter hängt eng mit diesem Noch zusammen – es geht vorwiegend um ein Halten wichtiger Beziehungen, die früher geknüpft wurden. Ist man allein und schon alt, so bestehen erfahrungsgemäß große Schwierigkeiten, neue intensive Kontakte zu knüpfen. Wenn dies nicht so wäre, gäbe es keinen Grund, im Seniorenheim einsam zu sein – wo gibt es sonst in Wohngemeinschaften so viel allein lebende Singles?
   Der Wunsch, der Traumfrau oder dem idealen Partner zu begegnen, hat aber leider im Alter weniger Realitätsgehalt als in adoleszenten Fantasien. Die Zeitperspektive bewirkt unseres Erachtens einen fundamentalen Unterschied bei den Einsamkeitsgefühlen in den verschiedenen Lebensaltern.
   Was ist das Gegenteil von Einsamkeit? Zweisamkeit? Sie kennzeichnet eine Beziehung, in der man sich vielleicht nicht einsam fühlt? Aber auch in Zweierbeziehungen kann man einsam sein, was von Dritten, die allein sind, oft so nicht wahrgenommen wird, da sie Paare als Gemeinschaft erleben, die im Alter vermehrt gemeinsam auftreten. Menschen, die sich verlassen fühlen und von ihrer Fähigkeit, neue innere und äußere Beziehungen aufzubauen – vielleicht als Folge einer strukturellen Störung – abgeschnitten sind, idealisieren das enge Beisammensein von Anderen bereits als beruhigend und tröstlich.
   Zweisamkeit ist ein ebenso ambivalenter Kontrapunkt der Einsamkeit, wie Kontakte in vielen anderen sozialen Situationen, in denen Einsamkeit zumindest zeitweise aufgehoben – oder nur übertönt – wird. Mit anderen Menschen zusammen zu sein, ermöglicht zwar Begegnung, kann aber auch bedeuten, dass man – wie im Speisesaal des Seniorenheims, in dem besonders viele sich einsam fühlende Menschen wohnen (Tesch-Römer 2012) – einsam untergeht.
   »Einsamlosigkeit« als Unwort, das vielleicht das Gegenteil von Einsamkeit bezeichnen könnte, macht deutlich, dass es Menschen, die sich einsam fühlen, nicht darum gehen kann, das Einsamkeitsgefühl zu verlieren, sondern etwas zu bekommen, was die Einsamkeit vertreibt. Begriffe wie Begegnung kennzeichnen Situationen, in denen Einsamkeit schwindet. Auch im Alter ist die Chance für Begegnungen vorhanden, aber die guten, langjährigen Freunde stammen oft aus der Schul- oder Studienzeit. Schon im mittleren Lebensalter kann es schwieriger werden – vielleicht aufgrund enttäuschender Erfahrungen oder schlicht aus ›Mangel an Übung‹ – neue Freundschaftsbeziehungen mit einem ›Vertrauensvorschuss‹ aufzunehmen. In der Psychotherapie machen wir nicht selten auch bei Menschen mit einem großen Bekanntenkreis die Erfahrung, dass sie Probleme, die sie quälen, vor ihren Bekannten verheimlichen und dadurch im Zusammensein besonders einsam sind.
   Um mit anderen Menschen in Verbindung zu bleiben, ist es sinnvoll, sich vertraute Situationen und Rituale zu schaffen, deren Wiederholung – wie jeden Mittwoch die Kegelrunde oder das psychoanalytische Seminar – Sicherheit und das Bewusstsein schafft, nicht allein zu sein. Vertraut gewordene Personen in vertraut gewordenen Räumen vertreiben zumindest zeitweise die Einsamkeit – oder doch nicht? Wie ist es, wenn diejenigen, mit denen solche gemeinsamen Aktivitäten begonnen wurden, nicht mehr da sind, und die Neuen, die vielleicht auch schon zehn Jahre dabei sind, den Abend gestalten? Die vertraut gewesene Situation an einem vertrauten Ort kann dazu führen, sich nicht mehr zugehörig zu fühlen und Einsamkeit zu erleben. Gerade Veränderungen in vertrauten Situationen können Verluste besonders spürbar machen – aber ein Festhalten an der Vergangenheit hilft nicht über Einsamkeit hinweg.
   Vertraute Orte und Rituale können zudem neue Begegnungen behindern. An nicht vertrauten Orten, wie beispielsweise im Urlaub, sind die Chancen für neue Begegnungen höher – sei es, dass man Wildfremde nach dem Weg fragt und ins Gespräch kommt, sei es, dass man sich aus Wissbegier auf Situationen einlässt, die in der vertrauten Umwelt zu Hause keine Attraktivität haben. Denken Sie an Urlaubsbekanntschaften, die plötzlich ganz intensiv sein können. Neue Begegnungen setzen voraus, dass nicht immer das Neue mit dem Gewesenen verglichen wird oder die Sehnsucht, zurück in die Vergangenheit, das Näherkommen torpediert.
   Auch wenn man gute Kontakte im Leben hatte, ist insbesondere im Alter die Wahrscheinlichkeit hoch, lange Zeit allein zu sein. Wie gelingt es im Alleinsein, sich nicht einsam zu fühlen? Theoretisch gesehen ist es wohl so, dass sichere Bindungen ermöglichen, sich der Existenz der Anderen zu vergewissern und sich nicht alleingelassen zu fühlen. Poetisch ausgedrückt tritt Einsamkeit nicht auf, wenn andere Menschen im eigenen Herzen wohnen. Es bleibt jedoch die Sehnsucht nach Nähe, die in der realen Welt oft tatsächlich unwiederbringlich verloren ist, aber in aufleuchtenden Erinnerungen an Begegnungen schwindet das Einsamkeitsgefühl zeitweise. So geht mir (J.K.), ohne es zu wollen, ein Lächeln über das Gesicht, wenn ich Kinder mit einem einfachen Roller sehe: Das Erinnerungsbild, wie meine Mutter sich als ›Osterhase‹ versteckt, dass wir sie, einen Roller über der Schulter, bei ihrer ostersonntäglichen ›Arbeit‹ nicht entdecken, wird dann präsent und hebt auch noch nach über 60 Jahren jedes Einsamkeitsgefühl kurzzeitig auf.
   Wie ist es, wenn man nach Verlusten die eigene Einsamkeit und das Leiden, verlassen worden zu sein, zur Sprache bringt? Dies führt häufig zur Verunsicherung anderer, weil in einer solchen Mitteilung immer auch ein Appell laut wird, andere müssten Ersatz für das Verlorene sein und Verpflichtungen eingehen. Außerdem werden bei den Anderen nicht selten dadurch auch Ängste vor Verlusten mobilisiert. Oft führt ein solches Ansprechen also nicht zu einer Annäherung, sondern zum Rückzug, was der Trauernde als Gleichgültigkeit oder Ablehnung interpretieren kann und sich noch mehr allein gelassen fühlt. Es ist deshalb wichtig, soziale Situationen mit der Möglichkeit zur Begegnung (z.B. Trauercafes) zu schaffen, sodass Betroffene untereinander in einen Austausch über ihre Verlassenheitsgefühle treten können. Der Erfahrungsaustausch kann stützend sein und Möglichkeiten eröffnen, gestärkt neue Wege zu gehen. Es gibt keine Patentrezepte, wie man sinnvoll mit Vereinsamung bei sich und bei anderen umgehen kann. Sicher vertieft ein Rückzug ins Alleinsein aber die Einsamkeit.
   Das Verlassen-worden-Sein auszuhalten und trotzdem mit guten Erinnerungen an geliebte, jetzt verlorene Partner und Freunde innerlich verbunden zu bleiben, kann mit dem Vertrauen einhergehen, dass neue Bindungen auch im Alter – trotz der sich verkürzenden Zeitperspektive – wachsen können. Die Möglichkeit, solche ›inneren Schutzfiguren‹ als Voraussetzung für Begegnungen zu beleben, ist wesentlicher Bestandteil der sozialen Aktivierung im therapeutischen Rahmen. Dazu gehört auch, die Verbundenheit mit lebenslang gepflegten Interessen zu erhalten, vielleicht sogar auszubauen und eine (Wieder-)Entdeckung und Erprobung nicht gelebter Wünsche aus der Jugend – z.B. im kreativen Bereich – zu ermöglichen, um die Selbstwirksamkeit in der Bewältigung noch anstehender Verluste zu stärken.
   Wir hoffen, dass dieser Band über Einsamkeit im Alter den Lesern Anregungen gibt, sich intensiver mit Alleinsein, Verlassenwerden und Einsamkeitsgefühlen im Alter auseinanderzusetzen, und hilft, bei alten Klienten und Patienten Einsamkeitsgefühle besser wahrzunehmen und Verständnis dafür zu entwickeln, welche Möglichkeiten es für sie gibt, in der Art und Weise mit dem Alleinsein umzugehen, die ihrer Lebensgeschichte und ihrer Persönlichkeitsstruktur gerecht wird.

Brigitte Terner (Schwerin) und Johannes Kipp (Baunatal)

Literatur

Tesch-Römer C (2012) Einsamkeit. In: Wahl HW, Tesch-Römer C, Ziegelmann JP (Hg) Angewandte Gerontologie. Stuttgart (Kohlhammer) 435–440.