9. Jahrgang 2012,
Heft 3: Eine Institution stellt sich vor
Frank Oswald, Ines Himmelsbach, Roman Kaspar:
Der Arbeitsbereich Interdisziplinäre Alternswissenschaften der Goethe-Universität Frankfurt am Main
Gründung des Arbeitsbereichs
Seit 2004 existiert in Frankfurt am Main das »Forum Alternswissenschaften und Alterspolitik« (FAWP) der Goethe-Universität, in dem erstmals alternsspezifische Forschungen zusammengeführt und Kontakte zwischen Wissenschaft und Praxis vertieft wurden (Zenz u. Himmelsbach 2007). Im Jahr 2009 wurde mit der Einrichtung der von der BHF-BANK-Stiftung geförderten »Stiftungsprofessur für Interdisziplinäre Alternswissenschaft« eine sozialwissenschaftlich ausgerichtete Gerontologie universitär verankert. Der Arbeitsbereich Interdisziplinäre Alternswissenschaft (IAW) ist am Institut für Sozialpädagogik und Erwachsenenbildung des Fachbereichs Erziehungswissenschaften angesiedelt.
Inhaltliche Ausrichtung und Leitlinien
Aufgabengebiete
Aufgabengebiete der IAW sind.
1. die Initiierung und Koordination alternswissenschaftlicher Forschungsprojekte,
2. die Stärkung gerontologischer Inhalte in Lehre und Weiterqualifikation des wissenschaftlichen Nachwuchses,
3. der mittelfristige Aufbau einer Infrastruktur für die interdisziplinäre Alternsforschung in Frankfurt am Main und
4. der Aufbau von Kontakten zwischen Wissenschaft und Praxis, sowie die Politikberatung.
In der Folge wird insbesondere auf aktuelle Forschungsprojekte der IAW eingegangen. Hinsichtlich der Lehre ist die IAW in die Angebote des Fachbereichs Erziehungswissenschaften eingebunden.
Schwerpunkte alternswissenschaftlicher Forschung und aktuelle Projekte
Forschung zu Wechselspiel von chancen und Grenzen im Alternsprozess
Ein wichtiger Ausgangspunkt für die eigene Forschung ist ein Verständnis von Entwicklung im Alter, das nicht nur Wachstum, sondern auch die Erhaltung vorhandener Lebensbedingungen und Prozesse der Auseinandersetzung mit Einbußen einschließt (z.B. Baltes 1997). Altern ist gekennzeichnet durch die Gleichzeitigkeit von »Gewinnen« und »Verlusten«. Die Forschungsarbeiten der IAW sollen dazu beitragen, ein erfülltes Leben zu führen, den Umgang mit Alternsfolgen zu meistern und die Herausforderungen von Erkrankungen besser zu verstehen.
Einer der Themenbereiche der eigenen Forschung basiert auf einem von der Paul Wilhelm von Keppler-Stiftung finanzierten Projekt zu einem gemeinsam mit der Universität Heidelberg (Hans-Werner Wahl) entwickelten Instrument zur Erfassung von Lebensqualität im stationären Kontext (Projekt INSEL ). Die darin enthaltenen 12 Dimensionen geben ein umfassendes Bild der erlebten Lebensqualität einer Person ab. Für ein differenzierteres Verständnis der jeweiligen Dimensionen wurden an der IAW qualitative inhaltsanalytische Vertiefungsanalysen durchgeführt. Zudem wird derzeit, als quantitative Weiterentwicklung des Ansatzes, die Lebensqualität allein lebender älterer Frauen in verschiedenen nicht stationären Kontexten untersucht. Das vom St. Katharinen- und Weißfrauenstift Frankfurt am Main geförderte Projekt WOLKE kombiniert dabei etablierte und neue Verfahren zu Lebensbedingungen, individuellen Bedürfnissen und dem subjektiven Erleben in verschiedenen Lebensbereichen wie Gesundheit, Soziales, Selbstbestimmung, Religiosität oder Dienstleistungen.
Im Bereich der Forschung zu gesundheitlichen Einbußen verfolgt die IAW gemeinsam mit der Frankfurter Stiftung für Blinde und Sehbehinderte in einem von der Stiftung Polytechnische Gesellschaft und der Software AG Stiftung geförderten Projekt die Entwicklung, Optimierung und Evaluation eines Interventionskonzepts zur Beratung und Begleitung älterer Menschen mit Sehbehinderung und Blindheit (Projekt LOTSE ). Gerade für Personen, die erstmalig im hohen Alter mit Sehbeeinträchtigung konfrontiert werden, fehlt ein Beratungsangebot, das die besondere Bedarfslage zwischen altersbedingten und sehbeeinträchtigungsbedingten Einbußen aufgreift und über die Hilfe im technischen Sinne hinaus einen Schwerpunkt auf psychosoziale Beratung legt (Himmelsbach 2009). Ziel ist, die laufende Beratung zu evaluieren und langfristig in die kommunale Versorgung älterer Menschen einzubinden.
Im Rahmen einer an der IAW angesiedelten Schumpeter-Forschungsgruppe der Volkswagen Stiftung unter der Leitung von Julia Haberstroh wird in Zusammenarbeit von Psychologie, Rechtswissenschaft, Medizin und Ethik die Fähigkeit von Menschen mit Demenz zur Einwilligung in medizinische Maßnahmen untersucht (Projekt EmMa ). Ausgangspunkt ist die Benachteiligung von Menschen mit Demenz durch Betonung verbaler Fähigkeiten, die jedoch eingeschränkt sind (Haberstroh, Neumayer u. Pantel 2011). Ziel ist die Entwicklung und Evaluation praktikabler Standards für das Verfahren zur Feststellung der Einwilligungsfähigkeit und die Förderung ressourcenorientierter Kommunikation bei Demenz.
Forschung zum Person-Umwelt Austausch im hohen Alter
Ebenfalls zentral für die eigene Forschung ist der Zugang zum Altern aus der Perspektive einer ökologischen Gerontologie. Die Ökologische Gerontologie versteht Alternsprozesse als Austausch zwischen der Person und ihrem alltäglichen Kontext. Dieser umfasst sowohl Personen als auch Dinge und Räume in der eigenen Nachbarschaft oder der Wohnung und bestimmt individuelles Verhalten und Erleben wesentlich mit (Oswald et al. 2006, Wahl u. Oswald 2010, Wahl, Iwarsson u. Oswald 2012). Was das Verhalten betrifft, so verweisen vielfältige Befunde auf die herausgehobene Bedeutung von Umweltmerkmalen für die Erhaltung der Selbstständigkeit (Oswald et al. 2007, Wahl et al. 2009). Was das Umwelterleben betrifft, so wird gerade für das höhere Alter postuliert, dass sich emotionale und kognitive Bindungsprozesse (z.B. zur Wohnung oder zum Quartier) auf die Erhaltung der Identität, aber auch auf das Wohlbefinden und die psychische Gesundheit auswirken können (Oswald 2010, Wahl, Oswald u. Schmitt 2009). Ziel der eigenen Forschung ist es, Prozesse des Person-Umwelt-Austausches besser zu verstehen, um sie zu nutzen und zu stärken, beispielsweise als »Puffer« im Umgang mit Umzug, Verwitwung, drohender Demenz oder dem nahen Lebensende.
Im Zentrum der Forschung hierzu steht das von der BHF-BANK-Stiftung geförderte Projekt zur Bedeutung des Wohnens in der Nachbarschaft für ein gesundes Altern (Projekt BEWOHNT ). Es zielt ab auf die Erforschung von Potenzialen des Älterwerdens und Wohnen Bleibens im Stadtteil bis ins sehr hohe Alter. Ziele sind zunächst die Beschreibung alltäglichen Wohnhandels (z.B. Mobilität) und -erlebens (z.B. Quartiersverbundenheit), aber auch die Untersuchung des Zusammenhangs mit Aspekten gesunden Alterns (z.B. Wohlbefinden). Neben ausführlichen Befragungen bei Hausbesuchen liegen objektive Umweltdaten, Mobilitätstagebücher sowie qualitative Vertiefungsstudien vor. Einer der exemplarisch angeführten Befunde zur subjektiven Verbleibenserwartung zeigt, dass sich neben dem chronologischen Alter und der subjektiven Lebenserwartung auch die Identifikation mit dem Stadtteil positiv auswirkt, wohingegen objektive Zugänglichkeitsprobleme keine Rolle spielen.
In Ergänzung dazu werden in der Nachfolge des abgeschlossenen EU-Projektes ENABLE-AGE einerseits quantitative Sekundäranalysen zur Optimierung von Instrumenten zu Aspekten des Wohnerlebens durchgeführt, die durch Studien vor Ort unterfüttert werden (Oswald u. Kaspar, in Druck). Andererseits erfolgen qualitative Wiederholungsbefragungen mit Überlebenden zur Frage »Umzug oder Wohnenbleiben?« im sehr hohen Alter. Diese Untersuchungen erfolgen im Austausch mit der schwedischen Forschergruppe von Susanne Iwarsson (Universität Lund) und sind Teil des an der Universität Heidelberg angesiedelten DFG-Projektes zur längsschnittlichen Analyse des subjektiven Wohlbefindens im sehr hohen Alter (LateLine ) (Oliver Schilling, Hans-Werner Wahl).
Schließlich werden aus einem gerade abgeschlossenen, von der DFG geförderten Projekt zur Mobilität im Alter Muster außerhäuslicher Aktivitäten von kognitiv gesunden Personen, Personen mit leichter kognitiver Beeinträchtigung und Personen mit Demenz anhand von objektiven Daten zur geografischen Ortung (GIS/GPS) und von Befragungen und Mobilitätstagebüchern untersucht (Projekt SenTra ). Bei dem Projekt handelt es sich um eine interdisziplinäre Kooperation der Bereiche Geografie, Gerontologie, Medizin, Psychologie und Sozialarbeit von Wissenschaftlern aus Israel (Hebrew University, Tel Aviv University) und Deutschland (Universität Heidelberg, Goethe-Universität Frankfurt am Main) unter der Leitung von Noam Shoval (Oswald et al. 2010, Shoval et al. 2011). In Frankfurt erfolgen derzeit Auswertungen zum Zusammenhang von außerhäuslicher Mobilität und emotionalem Wohlbefinden auf der Basis täglicher Messungen. Ziel ist die Identifikation von Zusammenhangsmustern in Verlaufsdaten aus 738 Beobachtungswochen (= 33600 einzelnen außerhäuslichen Wegen).
In allen Projekten spielt der interdisziplinäre Austausch für die Formulierung der Fragestellung, die Gewinnung und Auswertung empirischer Daten sowie die Rückführung der Befunde in die Praxis eine große Rolle. Dabei werden disziplinär geprägte methodische Forschungsansätze ebenso kombiniert wie inhaltsbezogene Konzepte und Theorien. Ein besonderes Augenmerk gilt dabei der Übertragbarkeit gerontologischer Verfahren auf pädagogische Aufgabenstellungen im hohen Alter, z.B. im Zusammenhang mit dem Umgang mit Erkrankungen (Oswald u. Himmelsbach, in Druck).
Literatur
Baltes PB (1997) Die unvollendete Architektur der menschlichen Ontogenese: Implikation für die Zukunft des vierten Lebensalters. Psychologische Rundschau 48: 191–210.
Haberstroh J, Neumeyer K, Pantel J (2011) Kommunikation bei Demenz: Ein Ratgeber für Angehörige und Pflegende. Heidelberg (Springer).
Himmelsbach I (2009) Altern zwischen Kompetenz und Defizit. Wiesbaden (VS).
Oswald F, Himmelsbach I (in Druck) Entwicklung unter der Bedingung einer lebensbedrohlichen Erkrankung im Alter: Anmerkungen aus gerontologischer Perspektive. In: Nittel D, Seltrecht A (Hg) Krankheit: Lernen im Ausnahmezustand? Brustkrebs und Herzinfarkt aus interdisziplinärer Sicht. Heidelberg (Springer).
Oswald F, Kaspar R (in Druck). On the quantitative assessment of perceived housing in later life. Journal of Housing for the Elderly.
Oswald F (2010) Subjektiv erlebte Umwelt in ihrer Bedeutung für Identität und Wohlbefinden älterer Menschen. In: Kruse A (Hg) Leben im Alter. Eigen- und Mitverantwortlichkeit in Gesellschaft, Kultur und Politik. Festschrift zum 80. Geburtstag von Prof. Dr. Dr. h.c. Ursula Lehr, Bundesministerin a.D. Heidelberg (Akademische Verlagsgesellschaft AKA) 169–179.
Oswald F, Wahl HW, Voss E, Schilling O, Freytag T, Auslander G, Shoval N, Heinik J, Landau R (2010) The use of tracking technologies for the analysis of outdoor mobility in the face of dementia: First steps into a project and some illustrative findings from Germany. Journal of Housing for the Elderly 24(1): 55–73. DOI: 10.1080/02763890903327481.
Oswald F, Wahl HW, Schilling O, Nygren C, Fänge A, Sixsmith A, Sixsmith J, Széman S, Tomsone S, Iwarsson S (2007) Relationships between housing and healthy aging in very old age. The Gerontologist 47(1): 96–107.
Oswald F, Wahl HW, Naumann D, Mollenkopf H, Hieber A (2006) The Role of the home environment in middle and late adulthood. In: Wahl HW, Brenner H, Mollenkopf H, Rothenbacher D, Rott C (Hg) The many faces of health, competence and well-being in old age: Integrating epidemiological, psychological and social perspectives. Heidelberg (Springer) 7–24.
Shoval N, Wahl HW, Auslander G, Isaacson M, Oswald F, Edry T, Landau R, Heinik J (2011) Use of the global positioning system to measure the out-of-home mobility of older adults with differing cognitive functioning. Ageing & Society 31(5): 849–869.
Wahl HW, Iwarsson S, Oswald F (2012) Aging well and the environment: Toward an integrative model and a research agenda for the future. The Gerontologist, doi: 10.1093/geront/gnr154.
Wahl HW, Oswald F (2010) Environmental perspectives on aging. In: Dannefer D, Phillipson C (Hg) International Handbook of Social Gerontology. London (Sage) 111–124.
Wahl HW, Fänge A, Oswald F, Gitlin LN, Iwarsson S (2009) The home environment and disability-related outcomes in aging individuals: What is the empirical evidence? The Gerontologist 49(3): 355–367.
Wahl HW, Oswald F, Schmitt M (2009) Wohnumwelt als »Hülle« von Beziehungswelten: Ökogerontologische Zugänge. Psychotherapie im Alter 6(2): 137–149.
Zenz G, Himmelsbach I (2007) Das Forum Alterswissenschaften und Alterspolitik (FAWP) an der Goethe-Universität Frankfurt. Psychotherapie im Alter 4(3): 115–122.