9. Jahrgang 2012,
Heft 3: Eine Institution stellt sich vor
Almute Nischak:
»Geschichten zwischen Erfahrung und Erzählung. von der Kunst, über das Leben zu erzählen«
Fachverband für Biografiearbeit FaBiA e.V.
Was ist Biografiearbeit?
Im Unterschied zum »Lebenslauf«, der in der Regel die »harten Fakten« des Lebens beinhaltet, entsteht »Biografie« durch Erinnerung und den Ausdruck dessen, was wir in und mit unserer Umwelt (Zeitgeschichtliches, Familie, Beruf, Aufwachsen in einer Landschaft) erlebt haben. Auch wenn das in der Vergangenheit Erfahrene unveränderbar genau so und nicht anders erlebt wurde, (er)schaffen Menschen in der Art und Weise, wie sie dem Erlebten Bedeutung geben, ihr Leben immer wieder neu. Menschen suchen zeitlebens nach der Möglichkeit, ihre Biografie zu gestalten, neue Perspektiven auf bereits Erlebtes zu entwickeln und die eigenen Geschichten in einen Deutungshorizont zu stellen, der Sinn stiftet und Entwicklung ermöglicht. Der Begriff »Biografiearbeit« ist als Sammelbegriff zu verstehen. Wir finden Biografiearbeit in der therapeutisch-beraterischen Arbeit, in der künstlerischen Auseinandersetzung mit Biografien, bei der Anleitung zu Erzählwerkstätten und Schreibgruppen, in der historischen Aufarbeitung von Geschichte(n), in der Kunst, in Film, Fernsehen und Fotografie. Dabei bietet das Gemeinsame, die Auseinandersetzung mit dem im weitesten Sinne »Biografischen«, gleichsam die Chance zu Austausch und Synergie.
Arist von Schlippe drückte dies in seinem Beitrag »Im Wissen um die alten Geschichten neue Geschichten erzählen« auf dem Fachtag »Biografiearbeit oder die Kunst über das Leben zu erzählen« (veranstaltet von FaBia e.V. im Oktober 2011 in Kassel) wie folgt aus: »Mit der Geburt betreten wir also Welten aus Geschichten, und wir erzählen diese Geschichten weiter, setzen sie fort. Erzählt werden sie nicht nur verbal, sondern über Szenen.« Unsere Wahrnehmungen und Erfahrungen bestehen aus all dem, was wir erfahren, gehört, gesehen und physisch erlebt haben, aus den Handlungsmustern, in die wir eingebettet waren. Auch der Körper, vor allem der alternde Körper, besitzt ein Gedächtnis und kann Geschichten erzählen.
Geschichten, die immer wieder erzählt werden, können außerdem zu einem Bindeglied »zwischen der individuellen psychologischen Identität eines Menschen und der Identität der ihn umgebenden sozialen Systeme« werden, so von Schlippe. Geschichten stiften Sinn und funktionieren als »Sinnattraktoren«, d.h. sie nehmen Einfluss auf die Art, wie wir uns selbst, die Welt und unser Handeln sehen und welche Bedeutung wir ihnen beimessen.
Die Chance, die eigene aktuelle und zukünftige Geschichte verändern zu können, und die Veränderungskraft durch Perspektivwechsel überhaupt sind Grundlage der Biografiearbeit. Eine Biografie »fällt« nämlich nicht vom Himmel (Herta Schindler, Kassel), vielmehr ist sie verflochten mit vielfältigen Bezügen, Kontexten und kulturellen Systemmustern.
Biografiearbeit mit älteren Menschen
Die Biografiearbeit mit älteren Menschen kann der gemeinsamen Aufarbeitung kollektiv erlebter Geschichte dienen, z.B. in Erzählcafés. Sie kann die einzelne Person in den Mittelpunkt stellen und dabei helfen, den »roten Faden des eigenen Lebens« zu erkennen. Das Erzählen der eigenen Geschichte versteht Almute Nischak (Tübingen), Stellvertretende Vorsitzende von FaBia e.V., auch als Willensbezeugung zur Gestaltung des eigenen Lebens. Welche Erfahrungen und Erlebnisse haben meine Wahrnehmung der Vergangenheit geprägt, welche Geschichten sind für die Gegenwart bzw. die Bewältigung der Zukunft bedeutsam? Weitere Fragen könnten sein: Wer war ich damals und wie möchte ich heute noch werden? Oder welcher »Faden« zieht sich durch die Zeit und die Generationen, welche »Strickmuster« werden in der gemeinsamen Reflexion erkennbar?
In krisenhaften Situationen des Älterwerdens kann gezielt eingesetzte Erinnerungs- und Biografiearbeit die Persönlichkeit stabilisieren, indem das Selbstverständnis Menschen thematisiert wird. Dies fördert das Selbstwertgefühl und die Entfaltung bisher vernachlässigter oder zurückgestellter Interessen.
Methoden in der Biografiearbeit mit älteren Menschen
Biografiearbeit mit älteren Menschen orientiert sich an der Lebenswelt der Teilnehmer/innen. Neben Erinnerungsgruppen, Erzählcafés oder öffentlichen Podiumsveranstaltungen zu spezifischen Themen, findet Biografiearbeit genauso in der Familie, im Altenheim oder in der Arbeit mit Demenzerkrankten ihren Einsatz. Zu den am Gespräch orientierten Methoden gibt es eine Vielzahl von aktivitätsorientierten Möglichkeiten zur Anregung von Erinnerungen.
Beispielsweise können in der Arbeit mit Einzelnen wie in der Gruppe Fotografien, Memory-Karten, Sprichwörter, Fotos/Dias aus älteren Zeiten zum Einsatz kommen. Auch Märchen und ausgewählte Lyrik, die zum Thema passe, musikalische Zeitreisen (Kinderlieder, Schlager, Hits der letzten 60 Jahre) oder lebensgeschichtliche Assoziationen zu Stichwörtern bestimmter Epochen (z.B. Bohnenkaffee, Petticoat, Nylonstrümpfe, Eisdiele) können lebensgeschichtliche Erinnerungen auslösen. Eine andere Möglichkeit besteht darin, die Teilnehmenden zu bitten, einen für sie spezifischen »Erinnerungskoffer« zu packen (Kinderspielzeug, Haushaltsgegenstände, Symbole für ausgewählte Lebensabschnitte und/oder -Lebensstationen) bzw. bedeutsame Momente der eigenen Lebensgeschichte in Form einer »Zeitleiste« chronologisch darzustellen.
Neben dem Verstehen und Begreifen der eigenen Lebensgeschichte macht Biografiearbeit auch für Angehörige bzw. für das Pflegepersonal Sinn. Oft ist es mit solchem »Hintergrundwissen« über das Leben einer Person leichter, ihr Verhalten und ihre Besonderheiten, Verletzlichkeiten oder Gewohnheiten zu verstehen und diese zu respektieren. In jedem Fall kann die Biografie auch bei der Herausforderung des Älterwerdens unterstützend wirken, die Wahrnehmung für das Tatsächliche schärfen, die positiven Seiten des Älterwerdens ebenso annehmen zu helfen wie die beschwerlichen. Rückblickend können die Lebenserfahrungen (neu) geordnet und ihnen eine Bedeutung aus der Sicht des Heute gegeben werden. Manche Geschichten brauchen auch Zuhörende im Sinne der »Zeugenschaft«, damit das oftmals so schmerzlich Erlebte in seiner Härte »wahr« – und damit bearbeitbar – werden kann.
Biografiearbeit macht auf diese Weise darauf aufmerksam, dass das Leben einen Wert hat, unabhängig davon, was diese Person(en) erlebt hat/haben und ob sie von anderen Menschen oder der Gesellschaft Wertschätzung dafür erfahren haben. Der Blick zurück in die Vergangenheit mag dabei der (vorläufigen) Lebensbilanzierung dienen, der Blick in die Gegenwart der Lebensbewältigung und der Blick in die Zukunft dem Auffinden vorhandener oder noch nicht genutzter Lebensmöglichkeiten. Zudem entsteht im Erzählen der persönlichen Lebensspuren Gemeinschaft.
Fachverband Biografiearbeit
Im Oktober 2010 hat sich der Fachverband für Biografiearbeit FaBia e.V. gegründet. Er richtet sich an Fachleute aus verschiedenen beruflichen Kontexten, die mit unterschiedlichen Methoden arbeiten und aus diversen Fachbereichen und Richtungen biografische Prozesse begleiten. »Inspiriert worden und hervorgegangen ist FaBia aus dem systemischen Kontext, er ist aber nicht auf ihn begrenzt«, so der Vorsitzende Thomas Schollas (Kiel). Gleiches gilt für die Professionen: Das können Wissenschaftler, PsychotherapeutInnen, Berater, Altenpfleger/innen, aber auch Schriftsteller/innen, Jugendarbeiter, Filmemacher/innen und andere mehr sein.
Der Fachverband für Biografiearbeit, FaBia e.V., bietet eine Plattform für Biografiearbeitende, die sich mit ihren Fragen und Erkenntnissen ins Gespräch begeben wollen, einen anregenden, qualifizierten Austausch suchen und möchten, dass sich die Biografiearbeit als eigenständiger Ansatz weiter entwickelt. Dazu dienen Jahrestagungen. Die Jahrestagung 2012 fand am Samstag, 23. Juni, unter dem Titel »CREA_SPACES: Transformationen – Kunst – Biografie«, begleitend zur dOCUMENTA(13), in Kassel statt. Zur Vernetzung wurde auch eine Webseite eingerichtet, die Informationen, Material, Veranstaltungshinweise bietet und den Mitgliedern des Fachverbandes Austausch in einem Forum ermöglicht. Auf der Webseite können außerdem eigene Beiträge, Anregungen und Veranstaltungen veröffentlicht werden.
Begleitet wird der Fachverband durch einen wissenschaftlichen Beirat.