9. Jahrgang 2012,

Heft 4: Eine Institution stellt sich vor

Ute Greve:

Das »Zentrum Demenz« in Schwerin

Das Zentrum

Das »Zentrum Demenz« ist eine trägerübergreifende Kontakt- und Informationsstelle für Demenzerkrankte und ihre Angehörigen. Es ist auch Anbieter von niederschwelligen Angeboten im Sinne des SGB XI §45b. Im Zentrum sind seit Oktober 2006 zwei hauptamtliche Mitarbeiterinnen teilzeitbeschäftigt für die Beratung und Betreuung verantwortlich. Sie leiten vierzig Ehrenamtliche an und sichern durch Schulungen, Begleitung und Fortbildung die Qualität der niederschwelligen Angebote.
   Die Ziele des »Zentrum Demenz« spiegeln sich für alle sichtbar im Logo wider: ein Mensch, von oben betrachtet, mit schützend ausgebreiteten Armen. Die Arme sind nicht geschlossen, so wie auch die Angebote nicht »geschlossen« sind. Alle Aktivitäten des »Zentrum Demenz« konzentrieren sich darauf, Demenzerkrankte zu unterstützen, um ihnen über eine lange Zeit ein Leben in ihrer gewohnten Umgebung zu ermöglichen.

Einsam?

Bei der Generation der Alten, die heute vor allem von Demenzerkrankungen betroffen sind, ist das »Ver-rückt-Sein« durch eine Demenzerkrankung noch immer ein Tabuthema. Die Betroffenen selbst und auch die Angehörigen versuchen lange Zeit, die erlebten Veränderungen zu kaschieren. Häufig ziehen sich zunächst die Erkrankten und im zweiten Schritt die Angehörigen aus sozialen Beziehungen zurück und werden immer einsamer. Freundschaften, geschwisterliche Bindungen und soziale Beziehungen verändern sich im Alter. Viele Bekannte sterben und mit steigendem Lebensalter fallen immer mehr »Weggefährten« weg. Kommt eine demenzielle Erkrankung dazu, verstärkt sich die Vereinsamung, denn auch viele der noch Lebenden ziehen sich zurück. Einerseits lässt sich das dadurch erklären, dass alte Menschen häufig mit ihren eigenen Defiziten und Veränderungen zurechtkommen müssen und dadurch mit sich selbst beschäftigt sind, andererseits macht die demenzielle Veränderung eines Gleichaltrigen Angst, einmal selbst so zu werden. Dieser vermutlich unbewusste Vorgang führt häufig zu einer Abwehrhaltung den Erkrankten und ihren Angehörigen gegenüber. Gleichzeitig sind besonders alte Menschen hilflos und unerfahren, wie sie mit Demenzerkrankten umgehen sollen.
   Bei jüngeren Erkrankten und ihren Angehörigen beobachten wir tendenziell einen offeneren Umgang mit der Situation. Das führt nach Berichten der Betroffenen dazu, dass sich Beziehungen noch einmal neu ordnen lassen. Freundschaften fallen weg, aber andere werden intensiver und sind eine wirkliche Hilfe für den Betroffenen und seine Angehörigen. Ähnliche Tendenzen lassen sich bei familiären Beziehungen erkennen. Es kann durchaus dazu führen, dass Geschwister, Familien insgesamt, wieder enger zusammenrücken und sich gemeinsam um erkrankte Eltern kümmern. Manchmal entsteht ein neues Familiengefühl.
   Insgesamt schwieriger ist es für alte Paare, die keine Kinder oder keine Familie mehr im Hintergrund haben, sowie für allein lebende Demenzerkrankte. Diese Personengruppen sind vor allem auf ihr soziales Umfeld angewiesen. Erfreulicherweise ist zu beobachten, dass nicht selten Hausgemeinschaften, Vereine, ehemalige Arbeitskollegen oder frühere soziale Beziehungsgeflechte selbstverständlich über einen langen Zeitraum den Betroffenen helfen. Ob das jedoch in der Zukunft so bleiben wird, ist fraglich. Durch die Mobilität der nachfolgenden Generationen werden Bindungen, die z.B. durch das jahrzehntelange gemeinsame Wohnen entstehen, nicht mehr aufgebaut werden.

Oder gemeinsam!

Der Ansatz der Arbeit im »Zentrum Demenz« besteht darin, Betroffene und ihre Angehörigen in einer frühen Erkrankungsphase zu erreichen und somit möglichst früh einem Rückzug und einer Überforderung der Angehörigen vorzubeugen. Eine Kontakt- und Informationsstelle mit täglichen Öffnungszeiten ermöglicht es allen Interessierten, sich notwendige Informationen zu Demenzerkrankungen, Hilfen und Anbietern einzuholen. Darüber hinaus wurden niederschwellige Angebote entwickelt. Als unverbindliche Angebote zählen Vorträge in Seniorenclubs, Mehrgenerationshäusern und Kirchgemeinden sowie bei Hausärzten. Einmal im Monat finden auch Informationsabende zu Themen rund um die Demenz statt. Diese Veranstaltungen ermöglichen Kontakte, die zu Nichts verpflichten. Keiner muss sich »outen«, ob er Betroffener, Angehörigen oder Freund ist. Ohne Anmeldungen und anonym können diese Angebote in Anspruch genommen werden. In den vergangenen Jahren konnte häufig beobachtet werden, dass zwischen der »niederschwelligen« Kontaktaufnahme durch den Besuch einer o.g. Veranstaltungen und dem ersten Beratungstermin Monate, teilweise sogar zwei Jahre vergehen. Einige regelmäßige Besucher der Informationsabende tauchen nie in der Beratung auf. Es lässt sich nur vermuten, dass die Informationsabende allein ausreichen, um die individuellen Hilfen auszuwählen und einzuleiten.
   Spätestens mit der ersten Beratung treten die Betroffenen und ihre Angehörigen aus der Anonymität und Einsamkeit heraus. Teilweise bleibt es bei Beratungsgesprächen (3 bis 20 pro Jahr) oder es werden relativ zeitnah Entlastungsangebote angenommen. Die Schwelle, Hilfen in Anspruch zu nehmen, wird vermutlich dadurch verringert, dass die niederschwelligen Angebote des »Zentrum Demenz« genutzt werden können. Dazu müssen keine Verträge abgeschlossen werden, sowohl die Betreuungsgruppe als auch die Einzelbegleitung durch Ehrenamtliche zu Hause werden als Hilfsmöglichkeiten angeboten. Es reicht eine telefonische Absprache, um diese niederschwelligen Angebote in Anspruch zu nehmen. Die Beraterinnen leiten die Betreuungsgruppen und koordinieren die Einsätze der Ehrenamtlichen. Viele praktische Erfahrung im Umgang mit den Erkrankten in der Betreuungsgruppe stärken die Kompetenz der Beraterinnen und erlauben ihnen so eine authentische Begegnung mit den Betroffenen. Allein dadurch wird die ›Schwelle‹ für die Inanspruchnahme von Hilfen abgebaut.
   Ein unverzichtbarer Teil der Angebote des Zentrums sind die Ehrenamtlichen, die die Betreuung und Begleitung übernehmen. Ehrenamtliche bringen Normalität in die Begleitungen, da sie die Situation aus ihrem Alltagsblick gestalten. Nicht wie noch vor zehn Jahren wird der Umgang, die Betreuung und Begleitung nur Profis »zugetraut«. Heute gestalten Demenzerkrankte mit den Ehrenamtlichen und umgekehrt punktuell ihren Alltag. Gleichzeitig werden Angehörige entlastet und erleben häufig nach langer Zeit zum ersten Mal, dass sich »ihr« Erkrankter auch bei anderen durchaus wohlfühlt. Manchmal entdecken Angehörige sogar Seiten am Erkrankten wieder, die lange verschüttet waren. Denn wenn ein Paar, beide über 80, gemeinsam lebt, hat der gesunde Partner mehr als genug damit zu tun, den Alltag mit Kochen, Waschen, Einkaufen, Arztterminen etc. zu meistern. Der Erkrankte »stört« da nicht selten. Bei den Angehörigen sind dann praktisch keine Ressourcen mehr vorhanden, den Erkrankten zu fördern. Diesen Part übernehmen Ehrenamtliche in der Einzelbegleitung.
   In der Regel empfinden Angehörige die eigene Entlastung durch diese niederschwelligen Angebote schnell. Selbst Gespräche mit den Ehrenamtlichen oder mit anderen Angehörigen beim Holen oder Bringen der Betroffenen in die Betreuungsgruppe eröffnen neue Kontakte und führen zu einer neuen Qualität und Lebendigkeit bei den Angehörigen.
   Relativ zügig können dann weitere Hilfen vermittelt werden: Tagespflege, Angehörigengruppen und -schulungen, Kurzzeitpflege und betreuter Urlaub. Durch die Vermittlung aller zur Verfügung stehenden Hilfen zu Hause kann der Umzug in eine stationäre Pflegeeinrichtung in der Regel deutlich hinausgezögert werden. Der exakte wissenschaftliche Beweis dafür wird jedoch kaum möglich sein, denn Demenzerkrankungen verlaufen individuell unterschiedlich, sodass messbare Parameter bisher nicht ermittelt werden konnten. Im Rahmen der wissenschaftlichen Begleitung des »Zentrum Demenz« durch Frau Prof. Dr. Bedriska Bethke und Studierenden der Hochschule in Neubrandenburg wurden in mehreren studentischen Arbeiten und Forschungsprojekten eine wachsende Zufriedenheit und eine verbesserte Lebensqualität der Angehörigen nach Inanspruchnahme von Hilfsangeboten nachgewiesen.

Fazit

Die Menschen in Deutschland werden immer älter. Mit zunehmendem Alter erhöht sich das Risiko, an einer Demenz zu erkranken. Gleichzeitig stehen immer weniger junge Menschen zur Verfügung, die Pflege und Betreuung professionell übernehmen können. Wenn kein Durchbruch in der Therapie gelingt, müssen neue Strukturen in der ambulanten Betreuung und Pflege entstehen, um die wachsende Zahl der Demenzerkrankten begleiten, betreuen und versorgen zu können. Das »Zentrum Demenz« hat im Rahmen der Projektphase eine neue Versorgungsstruktur entwickelt, die sich etabliert hat. Die Zahl der Beratungen und die Inanspruchnahme von niederschwelligen Hilfen erhöhen sich stetig. Gleichzeitig sind mit den Ehrenamtlichen zusätzliche Personen in das Hilfesystem gekommen, die vorher nicht zur Verfügung standen. Mit der Überführung in ein Regelangebot durch die Förderung der Stadt Schwerin und eine Beteiligung von Land und Pflegekassen kann das »Zentrum Demenz« seine Arbeit fortsetzten.

Zukunftsaussichten

Mit der wachsenden Bekanntheit und Akzeptanz des entstandenen Angebotes in Schwerin ergeben sich neue Aufgaben. So haben in den vergangenen Jahren auch jüngere, früh Erkrankte den Kontakt zum Zentrum gesucht. Für diese Personengruppe gibt es bisher kein Angebot z.B. in Form einer Selbsthilfegruppe oder einem angemessenen Beschäftigungsangebot. Durch die Gründung einer ersten Wohngemeinschaft für Betroffene in Schwerin sollen gerade jüngere und allein lebende Erkrankte eine alternative Wohnmöglichkeit bekommen, in der sie möglichst lange selbstbestimmt leben können.
   Der Bedarf an Einzelbegleitung nimmt kontinuierlich zu (2009: 760 Stunden, 2011: 4.100 Stunden). Eine neue Gruppe von Ehrenamtlichen beendete die für einen Einsatz erforderliche 40-stündige Schulung im April 2012. Dann stehen weitere dreizehn Ehrenamtliche für die Arbeit zur Verfügung. Zur Entlastung und Prävention für Angehörige wird ein Kurs »Atmen« mit zehn Treffen angeboten und jährlich findet auch eine Schulung für Angehörige über zehn Treffen statt.
   Die Besucherzahl in der Betreuungsgruppe hat sich von anfänglich fünf auf heute 19 erhöht. Eine zweite Gruppe wird gegründet, um dem wachsenden Bedarf zu entsprechen.

Rahmenbedingungen

Das »Augustenstift zu Schwerin« ist ein Altenhilfeträger mit langer Tradition. Die Großherzogin Auguste von Reuß-Schleiz-Köstritz hat im Jahr 1855 diese kirchliche Stiftung ins Leben gerufen. Ziel war es damals, »armen und siechen bedürftigen Frauen« ein würdiges Leben zu ermöglichen. 1855 bedeutete das z.B. eine warme Mahlzeit am Tag.
   Das »Augustenstift zu Schwerin« verfügt als Netzwerk von Altenhilfeeinrichtungen in der Landeshauptstadt Mecklenburg-Vorpommerns heute über betreute Wohnungen und Wohngemeinschaften für Senioren, einen ambulanten Pflegedienst, eine Tagespflege, eine Kurzzeitpflege und ein Alten- und Pflegeheim.
   Im Pflegeleistungsergänzungsgesetz 2002 wurden durch die Politik Erfahrungen aufgegriffen, die aus der täglichen Arbeit auch in den Pflegebereichen im Augustenstift bekannt waren. Dazu gehört u.a. die Erkenntnis, dass Demenzerkrankte und ihre Angehörigen zu spät Hilfen in Anspruch nehmen und der Umzug in eine stationäre Pflegeeinrichtung die einzige Option darstellte. Auch wenn die ersten Leistungen dieses Gesetzes (§45 im SGB XI) eher einen »Tropfen auf den heißen Stein« waren, war dies bei den bis dahin geltenden Leistungen durch die Pflegeversicherung ein gewisser Durchbruch. Der neueingeführte Paragraf beinhaltet neben der Definition der Personengruppe (§45a) und der Leistungen (§45b) auch die Weiterentwicklung des Versorgungssystems insbesondere für Demenzerkrankte und ihre Angehörigen (§45c) und eröffnete Möglichkeiten, in Modellprojekten neue Versorgungsstrukturen zu erproben und niederschwellige Angebote neben den Pflegeleistungen zu entwickeln.
   Das Land Mecklenburg-Vorpommern hat 2006 eine entsprechende Verordnung festgeschrieben. Das Augustenstift hatte bereits 2005 einen Antrag gestellt, das Modellprojekt »Zentrum Demenz« zu starten, dieser Antrag wurde zum 1. Oktober 2006 für die Maximalförderdauer von fünf Jahren bewilligt (45% vom Land, 45% von den Pflegekassen und 10% vom Träger).
   Nach Auslaufen der Förderung am 1. Oktober 2011 hatte der Träger eine Übergangsfinanzierung aus Stiftungsgeldern sichergestellt. Einige Leistungen kann das Zentrum Demenz mit den Pflegekassen über SBG XI §45b für anerkannte niedrigschwellige Angebote abrechen. Die Stadt fördert die Finanzierung der Arbeit 2012 im Rahmen der Hilfen für psychisch kranke Bürger. Das Land fördert die Hilfsangebote nach Landesrecht. Damit bekennen sich Stadt und Land zu einer Betreuung und Versorgung von »ihren« demenzerkrankten Bürgern nach dem Prinzip »ambulant vor stationär«.