Andreas Kruse: Editorial zum Themenheft
“Altersbilder”
Altersbilder, Potenziale und Verletzlichkeit
Gesellschaftliche Reserviertheit gegenüber dem Alter
Inwieweit ältere Menschen ein an persönlichen Lebensentwürfen wie auch an Ziel- und Wertvorstellungen orientiertes Leben verwirklichen können, ist nicht nur von ihren möglichen Stärken und Kräften abhängig, sondern auch von der in einer Gesellschaft bestehenden Bereitschaft, die Verwirklichung dieser Stärken und Kräfte zu unterstützen. Altersbildforschung hat von Beginn an für mögliche Benachteiligungen älterer Menschen sensibilisiert, die sich aus nicht zutreffenden, negativen Meinungen und Überzeugungen im Hinblick auf das Alter, insbesondere aus generalisierten Inkompetenzerwartungen, ergeben. Altersbildforschung zeigt, dass es für den Verlauf von Alternsprozessen, für die Verwirklichung von Entwicklungschancen wie auch für den Umgang mit Risiken und Verlusten einen Unterschied macht, wie Alter, Altern und ältere Menschen wahrgenommen werden (Levy 2003). Aus diesem Grunde wird mit der Themenstellung dieses Bandes ein für das Verständnis der gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Rahmenbedingungen des Alters wichtiges Moment aufgegriffen (siehe auch Expertenkommission (2011) sowie Berner in diesem Band).
Auch wenn die populäre These eines für westliche Gesellschaften charakteristischen Ageism (Butler 1969) nicht haltbar ist und folglich die gemeinhin getroffene Aussage, in unserer Gesellschaft werde das Alter abgelehnt, in dieser verallgemeinernden Form unzutreffend ist, kann doch von einer tief greifenden Reserviertheit gegenüber dem Alter gesprochen werden. Diese spiegelt sich im Bereich der Arbeitswelt insbesondere in der lange Zeit beliebten Frühverrentungspraxis, einer vergleichsweise geringen Ausschöpfung des Beschäftigungspotenzials älterer Menschen, einem für Ältere erhöhten Risiko von Langzeitarbeitslosigkeit und einer im Alter geringeren Weiterbildungsbeteiligung wider. Zudem verdeutlicht der aktuelle Diskurs über die Nachhaltigkeit und Zukunftsfähigkeit der sozialen Sicherungssysteme, der primär die Risiken des Alters und die aus diesen vermeintlich resultierenden finanziellen Belastungen für die Gemeinschaft einseitig betont, die Reserviertheit gegenüber dem Alter. Eine differenzierte und fundierte Auseinandersetzung mit den Potenzialen wie auch mit der Verletzlichkeit im Alter ist hier allenfalls in Ansätzen erkennbar, vor allem aber unterbleibt eine kritische Auseinandersetzung mit den Folgen nicht verwirklichter, weil nicht abgerufener Potenziale des Alters für unsere Gesellschaft. Mit Blick auf das bürgerschaftliche Engagement zeigt sich, dass das Engagement älterer Menschen vielfach nicht gewürdigt wird, vor allem aber, dass ältere Menschen nach wie vor viel zu selten als mitverantwortliche Bürger angesprochen werden, auf deren Beitrag unsere Gesellschaft nicht verzichten kann.
Schließlich sind auch im Kontext der medizinisch-pflegerischen und psychotherapeutischen Versorgung nicht selten Altersbilder anzutreffen, die – ungerechtfertigt – von einer geringen körperlichen, kognitiven und psychischen Plastizität alter, vor allem sehr alter Menschen ausgehen, die körperliche, kognitive und psychische Symptome eher auf das Alter denn auf eine Krankheit zurückführen und die von vornherein die Sinnhaftigkeit medizinischer, pflegerischer oder psychotherapeutischer Intervention infrage stellen (siehe auch Expertenkommission (2011) und Kessler sowie Remmers und Walter in diesem Band). Im Hinblick auf die Versorgungssituation ist dabei zu konstatieren, dass speziell das sehr hohe Alter (mit dem Begriff des »Vierten Lebensalters« umschrieben) mit einem Ausmaß an körperlicher, kognitiver und psychischer Verletzlichkeit konfrontiert, das dazu führen kann, dass Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Versorgungssysteme die noch bestehenden kognitiven, emotionalen und verhaltensbezogenen Kräfte – und damit auch die Entwicklungspotenziale – des betreffenden Menschen deutlich unterschätzen.
Schon im Arbeitskreis von Margret Baltes wurden Befunde veröffentlicht, die deutlich machen, wie sehr gerade institutionelle Routinen – zu denen auch Altersbilder und die durch diese angestoßenen Deutungs- und Handlungsmodi gehören – dazu beitragen können, bestehende Entwicklungs- und Veränderungspotenziale zu übersehen und ungenutzt zu lassen, und wie sehr eine Modifikation der Altersbilder – im Sinne einer erkennbaren Perspektivendifferenzierung und Individualisierung – Effekte im Hinblick auf die Stärkung einer potenzial- und kompetenzorientierten Interventionsstrategie zeigt (Überblick in Baltes 1995 sowie Remmers und Walter sowie Ehret in diesem Band).
Zugang zum öffentlichen Raum
Für das Verständnis von Altersbildern bedeutsam ist nicht nur deren Einfluss auf die Erhaltung oder Wiederherstellung eines selbstverantwortlichen Lebens im Alter. Genauso wichtig ist die Frage, inwieweit Altersbilder die Erhaltung oder Wiedergewinnung eines mitverantwortlichen Lebens fördern oder behindern, wobei unter Mitverantwortung der Zugang zum öffentlichen Raum und dessen aktive Mitgestaltung verstanden werden (siehe auch Ehret in diesem Band). Der öffentliche Raum beschreibt in den Worten von Hannah Arendt jenen Raum, in dem sich Menschen in ihrer Vielfalt begegnen, sich in Worten und Handlungen austauschen, etwas gemeinsam beginnen – dies im Vertrauen darauf, von anderen Menschen in der Einzigartigkeit des eigenen Seins erkannt und angenommen zu werden, sich aus der Hand geben zu können (Arendt 1960). Dabei ist bei älteren Menschen nicht selten die Sorge erkennbar, gerade im Falle körperlicher Einschränkungen von anderen Menschen abgelehnt, auf das Körperliche reduziert, in den seelisch-geistigen und sozialkommunikativen Qualitäten und damit in der Einzigartigkeit des eigenen Seins nicht mehr erkannt und anerkannt zu werden – somit aus dem öffentlichen Raum ausgeschlossen zu sein, diesen nicht mehr mitgestalten und damit Teilhabe nicht mehr verwirklichen zu können (siehe auch Kessler, Klie und Schmitt in diesem Band). In jenen Fällen, in denen sich ältere Menschen aus dem öffentlichen Raum ausgeschlossen fühlen – sei es, dass sie offen abgelehnt werden, sei es, dass sie auf verborgene Ablehnung stoßen – beraubt sich unsere Gesellschaft eines Teils ihrer Vielfalt (siehe auch Kollewe in diesem Band). Dabei wird das mitverantwortliche Leben von den meisten älteren Menschen als Quelle subjektiv erlebter Zugehörigkeit, von Wohlbefinden und von persönlichem Sinnerleben verstanden. Nicht allein die soziale Integration ist für ältere Menschen bedeutsam, sondern auch und vor allem das aktive Engagement für andere Menschen, insbesondere der nachfolgenden Generationen (siehe Schmitt in diesem Band). Gerade in diesem Engagement kann sich das auch für das hohe und sehr hohe Lebensalter charakteristische Generativitätsmotiv verwirklichen, in dem das Bedürfnis nach symbolischer Unsterblichkeit zum Ausdruck kommt (McAdams 2009). Das Ausgeschlossen-Sein aus dem öffentlichen Raum muss sich aus diesem Grunde auch negativ auf die psychische Situation und auf das Lebensgefühl des Menschen auswirken.
Hier sei auf die Bedeutung der Bezogenheit des Individuums auf andere Menschen hingewiesen, deren Verwirklichung für das Lebensgefühl des Menschen in allen Lebensaltern wichtig ist. In den Arbeiten des Theologen und Philosophen Knud Ejler Løgstrup (1989) sowie des Philosophen Emmanuel Levinas (1989, 1995) wird der unbedingte Anspruch des Anderen hervorgehoben, der dem eigenen Anspruch vorgeordnet sei – damit wird der Fürsorge, der Mitverantwortung und dem Engagement des Individuums für andere Menschen besondere Bedeutung für das gelingende Leben beigemessen.
Mit Blick auf das Alter lässt sich diese Aussage noch weiter konkretisieren, und zwar in Richtung auf die erlebte Verantwortung älterer Menschen für nachfolgende Generationen. Warum liegt diese Konkretisierung nahe? Sie ergibt sich vor dem Hintergrund der Ressourcen, die ältere Menschen im Lebenslauf entwickelt haben und die sie auch in den Dienst der nachfolgenden Generationen stellen können. In diesem Kontext gewinnt das von Erik Homburger Erikson schon im Jahre 1950 eingeführte Konstrukt der Generativität besondere Bedeutung: Die von Erikson angesprochene innere Beschäftigung mit der Zukunft nachfolgender Generationen wie auch mit der Frage, in welcher Weise diese durch eigenes Handeln gefördert werden kann (Erikson u. Erikson 1997), lässt sich als spezifische Ausgestaltung der Bezogenheit – nämlich als Übernahme von Mitverantwortung – interpretieren. Eine ganz ähnliche Deutung lässt auch die Theorie der sozioemotionalen Selektivität (Lang u. Carstensen 2007) zu, die hervorhebt, dass Menschen gerade im hohen und sehr hohen Alter dazu neigen, ihr soziales Netzwerk bewusst zu reduzieren und auf jene Personen zu konzentrieren, denen sie sich emotional besonders nahe fühlen und denen sie etwas für ihren Lebensweg mitgeben können. Damit ist noch einmal angedeutet, dass Alter auch im Kontext der intergenerationellen Beziehungen betrachtet werden muss, sodass den Altersbildern, die in intergenerationellen Beziehungen vermittelt werden, eine besondere Bedeutung für das Motiv der Mitverantwortung beizumessen ist (siehe Ehret, Schmitt sowie Wegner in diesem Band).
Ein umfassender Produktivitätsbegriff
In einem ähnlichen thematischen Zusammenhang steht dabei auch die Selbstdeutung des eigenen Lebens als »Werk«, wie Simone de Beauvoir in verschiedenen Arbeiten hervorgehoben hat (z.B. de Beauvoir 1970): Nur dann, so die Autorin, werden Menschen ihr Leben als Werk begreifen können, wenn ihnen die Möglichkeit gegeben ist, in der Kommunikation mit anderen Menschen das eigene Leben zu reflektieren und dabei das lebendige Interesse der Anderen an diesem Leben zu spüren. Und nur unter dieser Bedingung kann etwas von diesem Werk an nachfolgende Generationen weitergegeben werden, kann sich die eigene Produktivität noch einmal entfalten.
In einem derartigen kommunikativen Kontext hat Leopold Rosenmayr im Jahre 2011 das Buch Im Alter noch einmal leben publiziert, das Wissenschaftliches und Biografisches (letzteres übrigens aus der Perspektive der familiären Generationenfolge, in die das eigene Leben gestellt wird) in einer Weise mischt, dass sein Leben als »Werk« erscheint, von dem etwas an nachfolgende Generationen weitergegeben werden soll. Die in der psychologischen und soziologischen Altersforschung erhobene Forderung, von einem umfassenden Produktivitätsbegriff auszugehen – Produktivität wird eben nicht mit Leistungen in der Arbeitswelt gleichsetzt, sondern in jeder Form der Bereicherung anderer Menschen gesehen – findet hier ein bemerkenswertes Beispiel (siehe dazu schon Bühler 1959 und auch Lehr 2011 und Staudinger 1996).
Als weitere Beispiele können die vielfältigen Formen bürgerschaftlichen Engagements genannt werden, in denen Ältere ihr Wissen, ihre kritisch reflektierten Erfahrungen – die ja bedeutender Teil ihres Lebens sind – an Jüngere weitergeben und dabei erfahren, wie sehr jüngere Menschen dieses Wissen, diese Erfahrungen schätzen (siehe Schmitt in diesem Band).
An dieser Stelle ist eine Definition des Potenzialbegriffs hilfreich, die Soeren Kierkegaard in seinem Essay Die Krise und eine Krise im Leben einer Schauspielerin (1984) gegeben hat. Er unterscheidet darin zwei Formen der Metamorphose – wobei mit dem Begriff der Metamorphose das Verständnis von Altern als kontinuierlichem Prozess wie auch die Ablehnung der Vorstellung von Alter als einer eindeutig abgrenzbaren, eigenständigen Lebensphase angedeutet wird:
»Die Metamorphose der Kontinuierlichkeit wird sich im Lauf der Jahre gleichmäßig ausbreiten über den wesentlichen Umfang der Aufgaben innerhalb der Idee der Weiblichkeit; die der Potenzierung wird sich im Lauf der Jahre immer intensiver zu derselben Idee verhalten, die, wohlgemerkt ästhetisch verstanden, im höchsten Sinne die Idee der Weiblichkeit ist« (105).
Dabei geht er von folgender Beziehung zwischen Metamorphose und Altern aus:
»Jedes Jahr wird den Versuch darauf machen, seinen Satz von der Macht der Jahre zu beweisen, aber die Perfektibilität und die Potenzialität werden siegreich den Satz der Jahre widerlegen« (106).
Es ist für die potenzialorientierte Sicht des Alters von großem Wert, zwischen diesen beiden Metamorphosen zu differenzieren: Die erste (Kontinuierlichkeit, Perfektibilität) bezieht sich auf seelisch-geistige Kräfte, die wir heute als Erfahrungswissen und Überblick umschreiben. Die zweite (Potenzialität) hingegen legt besonderes Gewicht auf die schöpferischen Kräfte im Prozess der Vervollkommnung einer Idee, eines Werkes oder eines persönlich bedeutsamen Daseinsthemas. Dabei gewinnt die Potenzialität gerade im Hinblick auf die Abrundung und Vervollkommnung von grundlegenden Ideen und Zielen der Person große Bedeutung (siehe auch Ehret in diesem Band).
Vermeidung eines einseitigen Belastungsdiskurses über das Alter
Kommen wir vom Individuum zur Gesellschaft. Gesellschaftliche, kulturelle und politische Perspektiven auf das Alter sollten nicht allein von Belastungsdiskursen bestimmt sein, sondern auch Potenzialdiskurse auf- und ernstnehmen, wie diese in Wissenschaft, Praxis und Politik gegenwärtig auch geführt werden (Hüther u. Naegele 2012). Die in unserer Gesellschaft nach wie vor dominanten Belastungsdiskurse übersehen regelmäßig, dass das Lebensalter allein keine Aussage über Selbstständigkeit und Selbstverantwortung, über Kreativität und Produktivität eines Menschen erlaubt: Von der wachsenden Anzahl älterer Menschen kann nicht auf eine proportionale Zunahme finanzieller Belastungen geschlossen werden. Dies nicht nur wegen der Heterogenität des Alters, sondern vor allem auch angesichts der Tatsache, dass der Verlauf von Alternsprozessen gesellschaftlich wie individuell gestaltbar ist: Durch die Schaffung engagementförderlicher Strukturen kann die Gesellschaft einen Beitrag zur Förderung des mitverantwortlichen Lebens älterer Menschen leisten – in der Arbeitswelt, in der Zivilgesellschaft – und zwar des mitverantwortlichen Lebens, das von älteren Frauen und Männern als sinnstiftend und bereichernd erlebt wird (siehe Berner, Klie sowie Wegner in diesem Band).
Die Schaffung gesundheits- und kompetenzförderlicher Strukturen – durch Stärkung von Bildung, Prävention und Rehabilitation für alle Altersgruppen und für alle Sozialschichten – leistet einen bedeutenden Beitrag zur Erhaltung von Gesundheit, Selbstständigkeit und Selbstverantwortung sowie zur Verarbeitung gesundheitlicher und funktioneller Einbußen bis ins sehr hohe Alter. Im Kontext von engagement-, gesundheits- und kompetenzförderlichen Strukturen können sich im Lebenslauf emotionale, kognitive, sozialkommunikative, alltagspraktische und körperliche Ressourcen entwickeln und weiterentwickeln, die die Grundlage für ein persönlich sinnerfülltes, schöpferisches und sozial engagiertes Altern bilden. Gestaltungsfähigkeit und Gestaltungswille des Individuums enden nicht mit einem bestimmten Lebensalter, sondern bilden ein über die gesamte Lebensspanne bestehendes Entwicklungspotenzial (siehe Kipp in diesem Band). Entscheidend für dessen Verwirklichung sind die in der Biografie entwickelten Ressourcen des Individuums, gesellschaftliche Strukturen, die die Aufrechterhaltung, Weiterentwicklung und Nutzung dieser Ressourcen fördern, sowie Alters-, Generationen- und Menschenbilder, die sich positiv auf die individuelle Motivlage auswirken (siehe auch Klie sowie Kollewe in diesem Band).
Integration der Potenzial- und der Verletzlichkeitsperspektive
Ausgehend von der Gestaltungsfähigkeit und dem Gestaltungswillen des Individuums, aber auch vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen und individuellen Potenziale des Alters erscheint der einseitige Belastungsdiskurs als Anachronismus. An die Stelle eines einseitigen Belastungsdiskurses sollte vielmehr ein Diskurs treten, der zwei Perspektiven miteinander verbindet: die Potenzialperspektive einerseits und die Verletzlichkeitsperspektive andererseits.
Nun wäre es falsch, würde man die Potenzialperspektive und die Verletzlichkeitsperspektive immer streng voneinander zu trennen. Vielmehr ist es gerade im sehr hohen Alter notwendig, diese beiden Perspektiven miteinander zu verbinden: Auch im Falle einer deutlich erhöhten Verletzlichkeit zeigen viele Frauen und Männer bemerkenswerte Potenziale, so z.B. ein bemerkenswertes Lebenswissen, eine ausgeprägte psychische Widerstandsfähigkeit und die Fähigkeit, trotz der deutlich erhöhten Verletzlichkeit eine akzeptierende oder sogar positive Lebensperspektive zu bewahren. Und umgekehrt darf im »jungen«, im Dritten Lebensalter nicht übersehen werden, dass Menschen trotz zahlreicher Entwicklungspotenziale durchaus eine erhöhte körperliche Verletzlichkeit aufweisen können (siehe Kipp in diesem Band): Die kontinuierlich zunehmende Auftretenshäufigkeit von Herz-Kreislauf- und Stoffwechselerkrankungen wie auch von Tumoren im siebten und achten Lebensjahrzehnt deuten auf die erhöhte Verletzlichkeit im Dritten Alter hin. Dabei ist allerdings diese Verletzlichkeit in Form und Ausprägung nicht mit jener zu vergleichen, die im Vierten Alter, also im sehr hohen Alter, zu beobachten ist.
Im Kontext einer wissenschaftlichen Annäherung an das Alter sind die beiden Aspekte – Potenziale und Verletzlichkeit – zu untersuchen. In Abgrenzung von einer einfachen Defizitsicht des Alters vertreten wir hier die wissenschaftlich fundierte Annahme, dass die verschiedenen Fähigkeiten, Fertigkeiten und Funktionen im hohen und sehr hohen Lebensalter sehr unterschiedliche Entwicklungsverläufe zeigen – im seelisch-geistigen Bereich können speziell die erfahrungsgebundenen Fähigkeiten und Fertigkeiten eine weitere Zunahme und Differenzierung zeigen, während jene der Informationsverarbeitung, der Umstellung und der Anpassung an neue Anforderungen eher Verluste erkennen lassen. Weiterhin sind die interindividuellen Unterschiede im Alternsprozess hervorzuheben: Menschen unterscheiden sich – bedingt durch genetische Prädisposition, durch körperliche, seelisch-geistige und soziale Entwicklungsprozesse im Lebenslauf und durch erfahrene oder fehlende Anregung und Förderung im Lebenslauf – erheblich in ihrem Altern. Potenziale und Verletzlichkeit stehen in einem individuell spezifischen Verhältnis, wobei dieses Verhältnis auch durch die soziale Schichtzugehörigkeit – dies bedeutet immer auch durch die Bildungs- und Berufsbiografie – vermittelt ist.
Die Integration der Potenzial- und Verletzlichkeitsperspektive relativiert zunächst die Gültigkeit von Belastungsszenarien (Kruse 2013a), denn die zunehmende Anzahl alter, auch sehr alter, Frauen und Männer ist nicht nur mit wachsenden Anforderungen an die sozialen Sicherungssysteme verbunden, sondern auch mit einem wachsenden Humanvermögen unserer Gesellschaft, sei dies in der Arbeitswelt oder in der Zivilgesellschaft. Diese Integration legt zudem Bildungs-, Präventions-, Therapie-, Rehabilitations- und Pflegeangebote für alle Altersgruppen und deren Ausbau speziell in sozioökonomisch benachteiligten Schichten nahe. Bildungsprozesse und die Stärkung der Verhaltens- und Verhältnisprävention sind für die Potenzialentwicklung und Potenzialverwirklichung wie auch für die Vermeidung und bessere Kontrolle von Krankheiten und Selbstständigkeitseinbußen wichtig. Mit der Stärkung der Rehabilitation und der rehabilitativen Pflege wird in allen Altersgruppen (auch im sehr hohen Alter!) ein bedeutender Beitrag zur Linderung, zur Kompensation und zur psychischen Verarbeitung eingetretener Einbußen und damit zur Förderung von Selbstverantwortung und Teilhabe geleistet (siehe auch Remmers und Walter in diesem Band).
Diese zweifache Perspektive – die Potenzialperspektive einerseits, die Verletzlichkeitsperspektive andererseits – ist prinzipiell in allen Lebensaltern einzunehmen, sie gewinnt aber im hohen und sehr hohen Alter angesichts der in dieser Lebensphase erkennbar zunehmenden körperlichen Verletzlichkeit besondere Bedeutung (siehe auch Schmitt in diesem Band): Die möglichen Stärken und die Entwicklungspotenziale, die sich zum Teil gerade in der psychischen Verarbeitung der Verletzlichkeit zeigen, sind immer mitzudenken. In diesem Kontext sind Arbeiten des Philosophen Thomas Rentsch von Interesse, in denen hervorgehoben wird, dass die im hohen Alter zunehmende Erfahrung der Begrenztheit – die »Radikalisierung der leiblich verfassten Grundsituation des Menschen« – auch die Chance einer qualitativ neuen Erfüllungsgestalt des Selbstwerdungsprozesses bietet, indem das eigene Leben als »Gestaltwerdung der singulären Totalität« oder als »Werden zu sich selbst« erlebt werden kann (Rentsch 1995).
Entwicklungsnotwendigkeit und Entwicklungsmöglichkeiten im Alter
Die Selbstgestaltung bildet auch im Alter ein dominantes Thema und Anliegen und ist somit auch für ein angemessenes Verständnis des Menschen im Alter unverzichtbar (siehe Kipp in diesem Band). Dies heißt aber auch, dass im Falle einer (befürchteten oder eingetretenen) Einengung der Selbstgestaltung – sei es aufgrund von Krankheiten und damit assoziierten funktionellen Einbußen, sei es aufgrund des Verlusts eines motivierenden, Teilhabe sichernden und unterstützenden sozialen Netzwerks – Reaktionen des Individuums in Gang gesetzt werden können, so zum Beispiel Protest und Anklage, Selbstvorwürfe oder abnehmendes Engagement, Antriebsverlust und Niedergeschlagenheit (Thomae 1966). In diesem Kontext sei nur angedeutet, dass wir Verhaltensauffälligkeiten vielfach als »Verhaltensstörungen« interpretieren, ohne zu fragen, ob diese nicht auch durch die erlebte Einengung der Selbstgestaltung bedingt sind. Dies gilt übrigens auch für Verhaltensauffälligkeiten bei demenzkranken Menschen.
Eine differenzierte Analyse des Alters verdeutlicht aber auch Grenzen der Selbstgestaltung, denn die zunehmende Verletzlichkeit bleibt nicht ohne Auswirkungen auf die Möglichkeiten, ein an eigenen Werten, Zielen und Bedürfnissen orientiertes Leben zu führen. Dies bedeutet allerdings nicht, dass die zunehmende Verletzlichkeit dazu führen würde, dass sich Menschen im hohen Alter selbst aufgeben müssen. Vielmehr verweisen die Grenzen der Selbstgestaltung im Alter auf die Notwendigkeit der Verbindung von Selbstständigkeit und Selbstverantwortung einerseits mit bewusst angenommener Abhängigkeit (Kruse 2005) andererseits. Die bewusst angenommene Abhängigkeit gewinnt zum einen an Bedeutung, wenn das Individuum aufgrund von Beeinträchtigungen in seiner Selbstständigkeit eingeschränkt ist, zum anderen wird sie wichtig, wenn das Individuum den Wunsch verspürt, »loszulassen« und sich dabei einer »sorgenden Gemeinschaft« zu überantworten, ein Verlangen, das vor allem im Sterbeprozess erkennbar ist, das aber auch in Phasen körperlicher, seelischer und geistiger Erschöpfung beobachtet werden kann (siehe Kessler sowie Klie in diesem Band).
Wie in anderen Lebensphasen, so stellt sich auch im Alter eine Entwicklungsnotwendigkeit (Heuft et al. 2006). Diese ergibt sich aus einem veränderten Rollen- und Tätigkeitsspektrum, einem veränderten sozialen Netzwerk, der späten Freiheit nach Ausscheiden aus dem Beruf, wie auch aus der erhöhten Verletzlichkeit und der immer deutlicher in den Vordergrund tretenden Konfrontation mit der Endlichkeit und Endgültigkeit des eigenen Lebens. Wenn es Menschen gelingt, mit Blick auf die genannten Aufgaben, Anforderungen und Chancen seelisch-geistige Entwicklungsschritte zu vollziehen, dann werden sich immer wieder Situationen einstellen, in denen alte und sehr alte Menschen ihr Leben als stimmig und erfüllt erfahren (siehe auch Kipp in diesem Band). Erik Homburger Erikson (1959) spricht vom Erreichen einer Ich-Integrität als einem in hohem Alter erreichbaren End- und Höhepunkt lebenslanger Persönlichkeitsentwicklung.
Auch mit Blick auf die eigene Endlichkeit sprechen wir von einer Entwicklungsnotwendigkeit – und verweisen ausdrücklich auf eine Entwicklungsmöglichkeit (Kruse 2007). Die Endlichkeit und Endgültigkeit eigenen Lebens stellt den Menschen spätestens dann, wenn er diese als unmittelbar bedeutsam erlebt (und nicht nur abstrakt denkt), vor besondere emotionale und kognitive Anforderungen, sie lässt den Menschen nicht – wie bisweilen angenommen wird – gleichgültig. Dabei kann im Tod sowohl ein Ende als auch ein Ziel gesehen werden (das lateinische finis lässt sich ja in zweifacher Hinsicht übersetzen), sodass man individuelle Entwicklung nicht nur von der Konzeption und Geburt, sondern eben auch vom Tod her verstehen sollte: Wir entfernen uns von unserem Ursprung (definiert durch Konzeption und Geburt) und nähern uns dem Ende, dem Ziel unseres Lebens, das durchaus als Rückkehr zum Ursprung oder als Übergang gedeutet werden kann. Im Kontext einer derartigen Deutung der letzten Lebensphase treten die Entwicklungsnotwendigkeit und die Entwicklungspotenziale noch deutlicher hervor (Kruse 2012; siehe auch Kessler, Klie sowie Remmers und Walter in diesem Band).
Abschluss
Wenn wir noch einmal die Potenzial- und Verletzlichkeitsperspektive zusammenschauen und nach einem Beispiel suchen, das für seelische und geistige Entwicklungspotenziale bei hoher körperlicher Verletzlichkeit spricht, so fällt der Blick auf den Komponisten Johann Sebastian Bach (1685–1750). In dem gerade erschienenen Buch Die Grenzgänge des Johann Sebastian Bach – Psychologische Einblicke (Kruse 2013b) habe ich die körperliche, die seelische und die geistige Entwicklung dieses Komponisten in den letzten Jahren seines Lebens ausführlich dargestellt. Johann Sebastian Bach litt in diesen Jahren an einem Diabetes mellitus Typ II, der durch eine Skelettanalyse bei der Umbettung des Leichnams Anfang der 1950er Jahre nachgewiesen wurde. Dieser führte zur Schädigung der Nerven- und Sinneszellen und zu motorischen Läsionen, die ihn mehr und mehr daran hinderten, seine Kompositionen selbst aufzusetzen. Hier war er auf die Unterstützung durch seine Schüler angewiesen. Schließlich traten eine Erblindung sowie ein Schlaganfall hinzu. Trotz dieser körperlichen Verletzlichkeit unterrichtete Johann Sebastian Bach Schüler (was damals hieß, diese bei sich aufzunehmen) und arbeitete an zwei Werken, die mit zu den größten gehören, die in der europäischen Kompositionsgeschichte je geschaffen wurden, der Kunst der Fuge (BWV 1080) und der Missa in h-Moll (BWV 232).
Die h-Moll-Messe führte er zum Abschluss, die Kunst der Fuge blieb unvollendet, da sich Bach am Ende seines Lebens intensiv mit der h-Moll-Messe befasste und nicht mehr die Zeit fand, den 14. Kontrapunkt in Gänze niederzuschreiben (bzw. niederschreiben zu lassen). Die Kunst der Fuge wird in der Musikwissenschaft auch aufgrund ihres »experimentellen« Charakters als ein außergewöhnliches Werk eingestuft. Johann Sebastian Bach entfaltete in diesem Werk die unterschiedlichsten Fugentechniken, er entwickelte geradezu eine »Fugenlehre« für nachfolgende Musikergenerationen. Die h-Moll-Messe erfährt in ihrer umfassenden Gesamtanlage, der Vielfalt der Kompositionsformen, der eindrucksvollen Passung von Wort und Musik und ihrer ästhetischen Wirkung wegen eine derartige Bewertung. Nun muss man wissen, dass sich Johann Sebastian Bach am Ende seines Lebens vor allem mit dem Credo in unum deum und dem Confiteor in unum baptisma beschäftigt hat, also mit zwei Teilen der Missa, die in besonderer Weise auf seinen Glauben an den Großen Gott verweisen. In beiden Sätzen baut er über das jeweilige Cantus firmus-Motiv eine Fuge auf, die jeden Hörer in ihren Bann zieht: Hier wird das Ich glaube (credo), Ich bekenne (confiteor) mit einer musikalischen Kraft deklamiert, dass man nie glauben würde, ein körperlich hoch verletzlicher, die Endlichkeit schon sehr deutlich spürender Mensch hätte diese Sätze geschrieben. Die darin zum Ausdruck kommende, seelisch-geistige Energie kontrastiert mit der immer schwächer werdenden körperlichen Leistungsfähigkeit. Selbst im Angesicht des eigenen Todes können Entwicklungsschritte vollzogen werden – so bei Johann Sebastian Bach die Bekräftigung seines Glaubens an den Großen Gott bei zunehmender Gewissheit, bald zu sterben.
Literatur
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de Beauvoir S (1970) Das Alter. Reinbek (Rowohlt).
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Hüther M, Naegele G (Hg) (2012) Demografiepolitik – Herausforderungen und Handlungsfelder. Wiesbaden (Springer VS).
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