Eike Hinze: Editorial zum Themenheft
“Heimat, Sehnsucht, heile Welt?”

Die alte Heimat - Alter - Heimat

Spielt das Thema »Heimat« in Psychotherapien Älterer eine besondere Rolle? Der Begriff war lange tabuisiert. Wurde er in der Nachkriegszeit oft im Sinne einer idealisierenden und verleugnenden Rückschau auf die eigene persönliche oder auch kollektive deutsche Geschichte verwendet, geriet er später immer mehr in Verruf als Zeichen von Deutschtümelei und rechtslastiger Gesinnung. Die Filme von Edgar Reitz (Heimat – Eine deutsche Chronik, 1984; Die zweite Heimat – Chronik einer Jugend, 1992; Heimat 3 – Chronik einer Zeitenwende, 2004) brachten eine Wende. Und wohl auch die Wiedervereinigung machte
eine vorurteilsfreiere Beschäftigung mit Heimat möglich.
   Zwei im letzten Jahrzehnt erschienene Bücher laden dazu ein, sich in das Thema »Heimat« zu vertiefen. Da ist zum einen das aus angelsächsischer Perspektive geschriebene Buch Heimat – A German Dream von Elizabeth Boa und Rachel Palfreyman (2000) und zum anderen der Buchessay Heimat. Eine Rehabilitierung von Christoph Türcke (2006).
   Die einzelnen Beiträge in diesem Heft entstammen dem Symposium »Psychoanalyse und Altern«, das 2012 zum 24. Mal in Kassel stattfand. Es stand unter der Überschrift »Heimat, Sehnsucht, heile Welt?«. Die Autoren befassen sich mit unterschiedlichen Facetten dieses Themas, wobei der zeitgeschichtliche Bezug immer eine Rolle spielt. Das ist angesichts des
Missbrauchs, dem der Begriff Heimat im Dritten Reich ausgesetzt war, nicht verwunderlich.
   Die Beiträge, die sich speziell mit Behandlungsaspekten befassen, können auf die eingangs gestellte Frage keine abschließende Antwort geben. Ich glaube, dass es sehr von der Einstellung und Sensibilität des Therapeuten abhängt, ob das Thema Heimat in Therapien mit älteren Patienten lebendig wird. Und ich glaube auch, dass es für einen älteren Patienten hilfreich sein kann, seine frühesten Erfahrungen mit seinem Bild von Heimat zu verbinden
(Türcke 2006). Es kann ihm helfen, sich in seiner Identität als alternder Mensch »heimischer« zu fühlen. Zwei Beispiele fallen mir in dieser Hinsicht ein. Das eine betrifft mich selbst, das andere einen älteren Patienten.
   Nach der Flucht hatte es meine Familie schließlich nach mehreren Zwischenstationen nach Westfalen verschlagen. Als junger Bursche und Adoleszent hatte ich das flache Münsterland mit seinen zahlreichen Hecken liebgewonnen. Als ich später meinen Geburtsort besuchte, fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Die Auenlandschaft der Oder, in der ich meine frühe Kindheit verbracht hatte, glich dem Münsterland. Ich fühlte mich sehr berührt und
aufgewühlt, als mir diese Verbindung während dieses Besuches zum ersten Mal bewusst wurde.
   Ein erst nach dem Kriege geborener Patient war zeitlebens damit beschäftigt, sich eine Heimat zu suchen. Seine Familie lebte in idyllischer Umgebung in Westdeutschland. Aber ihn zog es ständig ins Ausland. Während der Therapie wurde es immer deutlicher, dass in der Familie Frage- und Denkverbote herrschten, die die Tätigkeit des Vaters während des Krieges in der Verwaltung im Osten betrafen. Die Familie lebte im Osten ebenfalls unter idyllischen
Bedingungen. Während der Behandlung spielte die Auseinandersetzung mit dem bereits verstorbenen Vater eine große Rolle. Besonders wichtig für den Patienten war es aber, eine Heimat zu finden – oder sich zu schaffen, in der er sein Selbstbild als Sohn eines Besatzers mit eigenen Wiedergutmachungsfantasien den Besetzten gegenüber verbinden konnte. Auf sehr anrührende und kreative Weise schaffte er diese Integration im Osten Deutschlands. Natürlich stellten sich für den Analytiker, der auch seine Heimat verloren hatte, grundsätzliche Fragen der Gegenübertragung. Aber auch ein jüngerer Kollege steht vor der Aufgabe, sich solchen Fragen und Problemen der Zeitgeschichte gegenüber offen zu halten und eigene ideologische Überzeugungen ständig zu hinterfragen.
   Das Thema »Heimat« macht etwas deutlich, was charakteristisch für die Behandlungen älterer Patienten ist: Wir sind aufgefordert, uns mit der zeitgeschichtlichen Dimension im Lebenslauf unserer Patienten auseinanderzusetzen. Das mag gegenwärtig besonders augenfällig bei den sogenannten Kriegskindern sein, von denen viele ihre Heimat verloren haben, aber Heimat als Kategorie des Erlebens wird auch bei den später Geborenen ihren Platz in deren innerer Welt besitzen.

Literatur

Boa E, Palfreyman R (2000) Heimat, a German Dream. Oxford, New York (Oxford University Press).
Türcke C (2006) Heimat. Eine Rehabilitierung. Springe (zu Klampen Verlag).