Simon Forstmeier: Editorial zum Themenheft “Trauer”

Trauer und Trauertherapie im Alter

»Zunächst: es gibt nichts, was uns die Abwesenheit eines
lieben Menschen ersetzen kann, und man soll das auch gar
nicht versuchen; man muss es einfach aushalten und
durchhalten; das klingt zunächst sehr hart, aber es ist doch
zugleich ein großer Trost; denn indem die Lücke wirklich
unausgefüllt bleibt, bleibt man durch sie miteinander
verbunden. Es ist verkehrt, wenn man sagt, Gott füllt die Lücke
aus; er füllt sie gar nicht aus, sondern er hält sie vielmehr
gerade unausgefüllt und hilft uns dadurch, unsere echte
Gemeinschaft miteinander – wenn auch unter Schmerzen – zu
bewahren. Ferner: Je schöner und voller die Erinnerungen,
desto schwerer die Trennung. Aber die Dankbarkeit
verwandelt die Qual der Erinnerung in eine stille Freude. Man
trägt das vergangene Schöne nicht mehr wie einen Stachel,
sondern wie ein kostbares Geschenk in sich.«

Dietrich Bonhoeffer, in einem Brief an Renate und Eberhard
Bethge, aus dem Gefängnis Berlin-Tegel am Heiligabend 1943

In diesem Zitat bringt Dietrich Bonhoeffer trotz seiner Kürze die Bandbreite der Gefühle nach dem Tod eines wichtigen Menschen prägnant auf den Punkt: von »Schmerzen« und »Qualen der Erinnerung«, die auszuhalten sind, bis zu »Dankbarkeit« und »Freude« angesichts der schönen Erinnerungen, die man weiterhin in sich trägt. Diese beiden Aspekte des Umgangs mit dem Verlust einer Person finden sich in systematisierter Form in der modernen Trauerforschung wieder, etwa in dem Dualen Prozessmodell der Trauerbewältigung von Stroebe und Schutt (1999, siehe Flüeler u. Forstmeier in diesem Heft). Demnach »oszilliert« ein Trauernder zwischen zwei Bewältigungsformen hin und her (und es ist »gesund«, wenn er oszilliert), zwischen der verlustorientierten Bewältigung mit der schmerzhaften Sehnsucht und der Vermeidung, Veränderungen in Angriff zu nehmen, und der wiederherstellungsorientierten Bewältigung mit dem Inangriffnehmen neuer Aktivitäten und dem Vermeiden von Trauer. Erst diese Oszillation ermöglicht eine Anpassung an die neue Situation, eine Störung der Oszillation kann zu einer pathologischen Form der Trauer, einer Prolongierten Trauerstörung, führen.
   Das Erleben von Trauer nimmt allein schon wegen der erhöhten Möglichkeit, Verluste von nahestehenden Menschen zu erleben, mit dem Alter zu. Aber allein dadurch, dass ein Ereignis im höheren Lebensalter »normaler« scheint, heißt noch lange nicht, dass Ältere auch einfacher damit umgehen können. Sicher, den meisten älteren Menschen, die einen Verlust erleben, gelingt die Oszillation zwischen Verlust- und Wiederherstellungsorientierung wunderbar, dank ihrer Resilienzfähigkeiten. Aber die Prävalenzrate der Prolongierten Trauerstörung ist im Alter auch am höchsten (fast 7% in einer repräsentativen deutschen Stichprobe, Kersting et al. 2011). Deshalb ist ein Heft über Trauer und Trauertherapie im Alter längst überfällig.
   In diesem Heft sollen Antworten auf folgende Fragen gesucht, diskutiert und angeboten werden: Was ist normale und pathologische (»prolongierte«) Trauer? Welche Ansätze zur Trauerbegleitung und -therapie bieten Psychoanalyse, Kognitive Verhaltenstherapie, Hypnosystemische Therapie und Logotherapie und wie wirksam sind diese Ansätze? Und wie kann Trauerarbeit gelingen, ohne dass jemand bereits gestorben ist (»antizipatorische Trauer«)? Bei letzterer Frage wird es in diesem Heft um den langsamen Verlust eines noch lebenden Angehörigen mit Alzheimer-Demenz gehen sowie um den Verlust der eigenen Kompetenzen und Eigenschaften nach einem Schlaganfall.
   All diese Fragen könnten kontrovers diskutiert werden. Daher versteht sich dieses Heft auch als Anregung zur Diskussion. Es geht schon bei der Frage los, was denn Trauer überhaupt ist und ob es eine pathologische Form der Trauer gibt. Die These der Pathologisierung durch die offiziellen Klassifikationssysteme ist nicht neu, aber am Thema der Trauer hochaktuell. Der Pschyrembel Psychiatrie, klinische Psychologie, Psychotherapie (Margraf u. Maier 2012, 922f) sagt uns zwar, dass Trauer eine »Kultur übergreifende nachgewiesene primäre Emotion … mit schmerzhaftem Verlustgefühl u. Kummer als Reaktion auf aktuellen od. vorherzusehenden Verlust od. Tod« ist und unterscheidet zwischen einer »normalen« und einer »komplizierten« Trauer. Die Definition dieser komplizierten oder prolongierten Trauer ist jedoch keineswegs einfach, hat eine längere Entwicklungsgeschichte hinter sich und ist immer noch nicht abgeschlossen. Flüeler u. Forstmeier geben einen Überblick über diese Entwicklung und die aktuellen diagnostischen Kriterien der Prolongierten Trauerstörung, die vermutlich als neue Diagnose in die ICD-11 aufgenommen werden wird, welche 2015 erscheint.
   Aussagen über die Wirksamkeit von Trauerinterventionen zu machen, ist nicht so einfach. Denn es gibt eine Fülle an Studien in diesem Bereich, die zum einen inhaltlich und formal(z.B. Dauer) recht unterschiedlich sind, zum anderen vielfach methodische Probleme aufweisen. Wenn man alle diese Studien in einer Metaanalyse verwertet, kommen ernüchternde Befunde heraus (siehe Wagner in diesem Heft): Viele Trauerinterventionen haben keinerlei Effekt, manche haben sogar eine schädliche Wirkung, aber am wirksamsten scheinen Interventionen dann zu sein, wenn sie sich an die kleine Subgruppe derer richtet, die pathologisch trauern.
   Herzstück dieses Heftes sind die fallbezogenen Artikel zu verschiedenen therapeutischen Ansätzen. Ich wünsche Ihnen, dass es genauso wie für mich eine Freude ist, die praktischen Ansätze auf der Basis der verschiedenen therapeutischen Hintergründe kennen zu lernen. Spannend finde ich, wie trotz unterschiedlicher theoretischer Grundlagen in allen Fallartikeln dieselbe Botschaft transportiert wird: Es geht nicht nur um »Abschiednehmen« von dem Verstorbenen, sondern um die Neugestaltung der Beziehung zum Verstorbenen, der im Leben weiterhin eine wichtige Rolle spielt. Je nach theoretischem Hintergrund hört sich das anders an. Der Psychoanalytiker schreibt, es gehe darum, »das verlorene oder aufgegebene Objekt in seiner psychischen Existenz im Trauernden lebendig werden zu lassen« (Kipp). In ähnlicher Weise strebt eine kognitiv-verhaltenstherapeutische Behandlung an, dass »der Verlust … elaboriert und in das autobiographische Wissen integriert« wird (Lorenz u. Forstmeier). Hypnosystemisch formuliert heißt das: »Auch wenn der Tod das Leben des Verstorbenen beendet, die Liebe des Hinterbliebenen beendet er nicht« (Kachler). Und schließlich der Logotherapeut: »Das Geheimnis des im Menschen wirkenden Geistigen besteht darin, dass es ursprünglich die Fähigkeit besitzt, das Gute und das Sinnvolle dauerhaft zu bewahren und eine Vorstellung von der Freude zu haben, die in der Dauer besteht. Das Gute, das einmal in meinem Leben war, bleibt.«
   Auch auf dem Hintergrund, dass Trauerinterventionen zur falschen Zeit oder in ungünstigem Kontext angewandt Schaden anrichten können, wünsche ich dem Leser zum einen, die großartige Resilienz von älteren Menschen wahrzunehmen, die auch nach schweren Verlusten wieder »auf die Beine kommen« und flexibel auf die Herausforderungen des Lebens reagieren. Zum anderen wünsche ich dem Leser, sich durch die beschriebenen therapeutischen Strategien und Beispiele für die eigene Arbeit mit jenem kleinen Teil der pathologisch trauernden älteren Menschen anregen zu lassen.

Literatur

Kersting A, Brähler E, Glaesmer H, Wagner B (2011) Prevalence of complicated grief in a representative population-based sample. J Affective Disorders 131: 339–343.
Margraf J, Maier W (2012). Pschyrembel Psychiatrie, klinische Psychologie, Psychotherapie. Berlin (Walter de Gruyter).
Stroebe M, Schut H (1999) The dual process model of coping with bereavement: rationale and description. Death Studies 23: 197–224.