Heimatlosigkeit und Heimat zum Themenheft
“Heimat, Sehnsucht, heile Welt?”

Barbara Stambolis:

»Ich weiß, ich werde alles wiedersehen. Und es wird alles ganz verwandelt sein ...« (Abstract) (PDF)

Heimatlosigkeit und Heimatsehnsucht aus zeitgeschichtlicher Perspektive

Ein Grundempfinden tiefer Unsicherheit begleitet Menschen, die als Erwachsene, Kinder oder Jugendliche durch Krieg und Vertreibung heimatlos geworden sind und sich seither ›unbehaust‹ fühlen. Es kann zwischen Geburtsheimat und Gefühlsheimat unterschieden werden. Dabei ist das, was unter letzterer verstanden wird, während der Adoleszenz anders zu deuten als im Alter. Schriftsteller wie Carl Zuckmayer oder Peter Härtling haben ein solches Gefühl der Heimatlosigkeit ebenfalls auf den Punkt gebracht. Hoffnung und Furcht zugleich begleiten oft die späte Sehnsucht, Orte der Kindheit noch einmal aufzusuchen oder überhaupt eine Reise in die eigene Vergangenheit anzutreten. Die Ahnung, dass ein innerliches ›Nach-Hause-kommen‹ nicht möglich ist, weil die Erinnerungen mit den tatsächlichen heutigen Gegebenheiten nicht übereinstimmen, entspricht den griechischen Wurzeln des Wortes Nostalgie, die sich aus nostos, nach Hause zurückkehren, und algos, Schmerz, zusammensetzen. Eine große Gruppe ehemaliger Kriegskinder des Zweiten Weltkriegs, die z. B. den Verlust ihres Vaters und ihrer Heimat erlebt haben, beginnt seit einigen Jahren intensiv über dieses Thema für das eigene Leben nachzudenken. Es fällt ihnen oft deshalb so schwer, über Heimweh, Heimatsehnsucht und das Bedürfnis nach ›heilen Welten‹ zu sprechen, weil »Heimat« als deutsche Idee, vor allem in ihren ›tümelnden‹ Varianten über Jahrzehnte ideologisch verdächtig war.

Bertram von der Stein:

»Die schöne Heimat« (Abstract) (PDF)

Über das ambivalente Verhältnis der Deutschen zu eigenen Architekturtraditionen, Denkmalpflege und Wiederaufbau

Wo dir Gottes Sonne zuerst schien,
wo dir die Sterne des Himmels zuerst leuchteten
wo seine Blitze dir zuerst seine Allmacht offenbarten,
und seine Sturmwinde dir mit heiligem Schrecken durch die Seele brauseten,
da ist deine Liebe, da ist dein Vaterland
Ernst Moritz Arndt

Historische Gebäude prägen das traditionelle Bild der Heimat. Denkmalspflege kann helfen, kulturelle Identitätszusammenhänge und historische Brüche aufzuzeigen. Namhafte deutsche Kunsthistoriker waren vom Nationalsozialismus beeinflusst und wirkten mit ihrem Heimatbegriff auch noch in den 1950er Jahren. Die Ambivalenz der Deutschen gegenüber den eigenen Bautraditionen wird anhand der Phasen des Wiederaufbaus nach 1945 dargestellt werden. Nach dem Versuch, den Wiederaufbau psychoanalytisch einzuordnen, wird hier eine Form der Denkmalpflege und des Städtebaus gefordert, durch die identitätsstiftende Gebäude rekonstruiert, dabei aber die Narben des Zweiten Weltkrieges nicht verleugnet werden.

Klaus Müller:

Heimat im Film (Abstract)(PDF)

Eine Untersuchung zu Heimatfilmen der Nachkriegszeit, im Vergleich zur Trilogie »Heimat« von E. Reitz

Es werden Heimatfilme aus den 1950er Jahren untersucht und der des Bedeutungshofs von »Heimat« in einen zeitgeschichtlichen Zusammenhang gestellt. Diese enthalten für viele unserer älteren Patienten wichtige Identifizierungs- und Sehnsuchtsobjekte, die Teil ihrer Persönlichkeitsentwicklung wurden. Die vielfach gebrochene Widerspiegelung von Zeitgeschichte wird im Zusammenhang mit zeittypischen Abwehr-Bewegungen in diesen Nachkriegsfilmen erkundet und die Sentimentalität der Charaktere wird in diesem Kontext gesehen. Diesen Heimatfilmen der frühen 50er Jahre wird die Trilogie Heimat (1984–2000) von E. Reitz gegenübergestellt, in der Heimat nicht mehr einer Idealisierung unterliegt. Heimat wird hier als Teil der inneren aus äußeren Realitäten erkannt, die dem Wandel der Zeiten unterliegen, und so kann Heimat auch in ihrem Wandel und in ihrer Bedrohtheit dargestellt werden.

Peter Giesers und Christoph Tangen Petraitis:

»Heimat« am Obersalzberg - Die Sehnsucht nach Versöhnung mit dem geliebten Täter-Vater am Beispiel der Vater-Sohn-Beziehung von Veit und Thomas Harlan (Abstract) (PDF)

Gibt es eine »Heimat« im Land der Täter? In Dachau, Buchenwald, Bergen- Belsen? Im Schatten des Obersalzbergs? Thomas Harlan, der rebellische Sohn des Jud Süss-Regisseurs Veit Harlan, hat die letzten Jahre seines Lebens in einem Lungen-Sanatorium mit direktem Sichtkontakt zum Obersalzberg verbracht: »Hitler hätte mich sehen können«. In seinen Werken hat er sich bis zu seinem Tod mit dem Schicksal beschäftigt, Sohn eines Vaters zu sein, der mit seinen Filmen Judenverfolgung und Massenmord unterstützt hatte, ohne sich später jemals zu seiner Schuld zu bekennen. Im Gegenteil: Veit Harlan, Lieblingsregisseur von Göbbels, hatte Zeit seines Lebens eine Mitschuld geleugnet wie die meisten Täter und Mitläufer in Deutschland. Thomas Harlan hat seinen Vater einerseits »ungeheuer geliebt«, aber auch zutiefst verachtet und mit Leidenschaft bekämpft. Sein Ringen mit dem Vater steht im Mittelpunkt unserer Untersuchung über die Sehnsucht der Kriegskinder nach Wiedergewinnung von Heimat über die »Versöhnung« mit ihren Täter-Vätern.

Reinhard Lindner:

Heimatliche Gegenübertragung im psychotherapeutischen Erstkontakt mit Älteren (Abstract)(PDF)

Der erste Kontakt mit dem psychosomatischen Alterspatienten in der Geriatrie entscheidet oftmals über Gelingen oder Misslingen eines psychotherapeutischen Zugangs zum Patienten. Die zugrunde liegende klinische Beobachtung ist dabei, dass die gemeinsame Nutzung des Dialekts die Entstehung eines psychotherapeutischen Kontakts sehr fördern kann. Vor diesem Hintergrund wurden alle Konsilberichte eines halben Jahres des psychosomatischen Konsil-/Liaisondienstes in einer geriatrischen Klinik (N= 69) auf die Erwähnung der heimatlichen Örtlichkeit des Patienten und auf die sich entwickelnde Übertragungsbeziehung in den ersten Gesprächen hin untersucht. Bei 11 Patienten wurde Hamburg als Heimat genannt (die Heimat des Therapeuten), bei 11 weiteren Patienten wurde als Heimat explizit ein anderer Ort angegeben. Mit der Methode der verstehenden Typenbildung wurden zwei Idealtypen der Übertragungsbeziehung entworfen, ein heimatlicher mit hoher Zugewandtheit und ein »Flüchtlings-Typus« mit ambivalenterem Übertragungsgeschehen. Vor diesem Hintergrund wird die Bedeutung des mütterlichen Dialekts für die Entwicklung einer positiven und Halt gebenden initialen Übertragungsdynamik diskutiert.

"I know I will see everything again. And it will all be completely transformed ..." (English Abstract)

Homelessness and longing for home from the perspective of contemporary history

People who became homeless due to war or banishment as adults, children, or adolescents are accompanied by a basic feeling of deep insecurity and of having been without a home ever since. It can be differentiated between a home defined by birth and a home defined by feeling. The latter should be interpreted differently in adolescence compared to older age. Authors like Carl Zuckmayer or Peter Härtling also put such a feeling of homelessness in a nutshell. The late desire for revisiting places of the childhood or starting the journey into the past at all are often accompanied by hope and fear at the same time. The anticipation that an »inner homecoming« may not be possible because the memories do not comply with the actual conditions of today are in accordance with the Greek roots of the word nostalgia, which consists of nostos, to return home, and algos, pain. A big group of former war children of World War II who e.g. experienced the loss of their fathers and their homes have started reflecting intensely on this topic regarding their own lives a few years ago. It is often difficult for them to talk about home sickness, a longing for home and the desire for an »idyllic world« because »home« as a German idea was ideologically suspicious for decades.

The Beautiful Homeland" (English Abstract)

On the ambivalent relationship of Germans to their own architectural traditions, monument preservation and reconstruction

Historical buildings shape the traditional image of home. Preservation of historical monuments can help to demonstrate connections of cultural identity and historical breaches. Notable German art historians were influenced by National Socialism and still influenced their definition of home in the 1950s. The Germans’ ambivalence towards their own building traditions will be depicted on the basis of the phases of reconstruction after 1945. Following the attempt to classify reconstruction psychoanalytically, this paper calls for a form of preservation of historical monuments and urban development which reconstructs the buildings that bring about identity while not denying the scars of World War II.

Homeland in film (English Abstract)

An investigation of Heimat films of the post-war period, in comparison to the trilogy "Heimat" by E. Reitz.

The German term »Heimat« (homeland) will be looked upon in the historical context of recent times. The wave of »Heimatfilme« during the 1950’s became part of the identifications and personality formation of many of us and of our elderly patients. These productions reflected essential longings of the postwar generation and formed them in their way. It seems that the typical defenses of these contemporaries were responsible for part of the flatness and the sentimentalities of the protagonists of those films. Three of these »Heimatfilme« are reviewed closely. In contrast to them, the trilogy of E. Reitz (1984–2000) will be reviewed. In Reitz’s films »Heimat« does no longer underlie defense-driven idealization. As a part of inner and outer reality, »Heimat« does not claim to be beyond time and change.


"Heimat" am Obersalzberg - Die Sehnsucht nach Versöhnung mit dem geliebten Täter-Vater am Beispiel der Vater-Sohn-Beziehung von Veit und Thomas Harlan (English Abstract)

Is there any home in the country of the perpetrators? In Dachau, Buchenwald, Bergen-Belsen? In the shadow of the Obersalzberg? Thomas Harlan, the rebellious son of the »Jud Süß«-director Veit Harlan, spent the last years of his life in a lung-clinic near the Obersalzberg: »Hitler could have seen me«. In his works and until his death, Thomas Harlan was engaged with his fate, to be the son of a father who had supported the holocaust, without ever having to admit to his guilt. In contrast: Veit Harlan – favorite director of Göbbels – has denied his blame throughout his life – like most of the perpetrators and followers in Germany. On the one hand, Thomas Harlan has loved his father »enormously«, on the other hand, he has also deeply despised and fought him passionately. His struggle with his father is the focus of our study. It is about the war children’s desire to restore the sense of home through »reconciliation« with their perpetrator fathers.

Homeland countertransference in initial psychotherapeutic contact with elders (English Abstract)

The first contact with a psychosomatic elderly patient often decides on the success or failure of the psychotherapeutic access to the patient. Based on the clinical observation that using the same dialect can further the development of the psychotherapeutic contact, all reports of half a year of a psychosomatic consultation-liaison-service in a medical-geriatric clinic (n= 69) were analysed. For 11 patients their hometown Hamburg was mentioned (the home town of the therapist), however for 11 other patients another home was explicitly mentioned. With the method of forming types by understanding two ideal types of the transference relationship were developed. One »Home«-type with a positive, facing transference, and one »refugee«-type with a more ambivalent transference. The results are discussed on the background of the mother tongue, esp. the dialect in early infants’ development in relation to the actual development of a positive holding initial transference.