Nachlese zum Themenheft

“Heimat, Sehnsucht, heile Welt?”

Bertram von der Stein und Johannes Kipp:

»Heimat, Sehnsucht, heile Welt?«

Nachlese vom 24. Symposium »Psychoanalyse und Altern«

Heimat ist ein vielschichtiger Begriff. Er vermittelt statische Beständigkeit, Zuverlässigkeit
der Traditionen und Überschaubarkeit. Heimat bezeichnet einen Nahbereich, der gerade für ältere Menschen sehr wichtig ist. Trotz der Beschwörung der Beständigkeit im Begriff Heimat wird jedem, der sich mit Heimatkunde beschäftigt, sehr deutlich, dass in Wirklichkeit sich dieser Nahbereich dynamisch verändert. Dies kommt beispielsweise in regionalen Festschriften zum Ausdruck, die Entwicklung und Fortschritt vom Mittelalter bis heute aufzeigen.
   In zahlreichen Beiträgen des 24. Symposiums wurde thematisiert, wie traumatisierend, kontaminierend und zerstörerisch sich im Rahmen dieser Entwicklung die Zäsur des Zweiten Weltkrieges, des Nationalsozialismus und des Holocausts auf das Heimatgefühl der Deutschen auswirkte.
   Tilmann Moser stellte in seinem Vortrag »Vielfacher realer und seelischer Heimatverlust: Verwirrung als Schicksal« die Geschichte einer jetzt 79-jährigen Patientin in den Mittelpunkt, die mit vier Jahren ihren Vater verloren hatte und von ihrer Mutter nicht gewollt war. Nach dem Tod des Vaters wurde sie abrupt, und ohne die Möglichkeit zu trauern, nach Berlin (realer Heimatverlust) in eine Pflegefamilie verpflanzt. Diese war NS-kritisch eingestellt, während sie in der Schule mit Kindern von Nazigrößen zusammen war, die von Empfängen beim Führer schwärmten. So fand sie weder in der Pflegefamilie noch in der Klasse eine sichere seelische Heimat.
   Moser zeigte dann weiter auf, dass sie in ihrem Lebensschicksal dauernd zwischen zwei Polen hin- und hergerissen war: evangelische Erziehung aber ein katholisches Schulinternat, Brotberuf Lehrerin aber eigentliche Berufung Künstlerin, Lehranalyse in einem orthodoxen Institut aber lange Therapie bei dem »nicht analytisch Rechtgläubigen«. Er beschreibt, wie er ihr die Hand hält und sie in ihrem künstlerischen Schaffen unterstützt, vielleicht um sie zu beheimaten. Die Zielsetzung dieser Therapie wurde vom Auditorium ausführlich diskutiert (Therapie versus Lebensbegleitung).
   In ihrem Vortrag »Altern und Migration« ging Hediaty Utari-Witt auf die Anstrengungen ein, die mit der Migration und dem Heimatverlust verbunden sind und die mit zunehmendem Alter immer schwerer kompensierbar seien.
»Menschen mit Migrationshintergrund erleben den Autonomieprozess ihrer Kinder schmerzhafter als Ortsansässige. Dieser hat mit Trennung und Abschied zu tun, was immer wieder – mal intensiver, mal auch weniger – schmerzhafte alte Abschiedserfahrungen obilisiert.« Damit »kommen verstärkt Fragen an die Oberfläche: […] Ist das Leben, so wie ich es bis jetzt gelebt habe, meine Bestimmung? […] Das Auftauchen all dieser Fragen und das Bemerken des eigenen Alters verstärkt Sehnsüchte nach dem ›Mutterland‹«.
   An dem Fallbeispiel einer iranischen Familie zeigte sie die unterschiedlichen Haltungen zum Heimatland auf. Während die Mutter zu ihrer Familie im Iran Kontakt hält und ihre Haltung mit der Aussage beschreibt: »Ich fühle mich nicht als Iranerin, auch nicht als Deutsche«, hat sich der Vater ganz vom Iran abgekehrt, um, wie Utari-Witt beschreibt, »auftauchende traumatisierende Erfahrungen aus der Vergangenheit« abzuwehren. Er hatte seiner Tochter eine Iranreise verboten, die »die Stätten ihrer frühen Kindheit (Wohnungen, Geschäfte)«besuchen wollte. Utari-Witt sieht bei der Mutter die Fähigkeit zur Nostalgie, unter der sie »das Ertragen und Tolerieren schmerzhaft-bittersüßer Gefühle der Trauer« versteht, während sie beim Vater eine »Nostalgievergiftung « konstatiert, ein Begriff, der von dem Psychoanalytiker und Dichter Salman Akhtar geprägt wurde.
   Am Beispiel von türkischen Familien veranschaulichte Utari-Witt dann spezifische Generationenkonflikte. In Deutschland aufgewachsen Kinder verstehen oft nicht, weshalb ihre Eltern, Gastarbeiter der ersten Generation, so rückwärtsgewandt sind. Dies macht sich auch an den Vorstellungen fest, wie die Eltern im Alter versorgt werden. Nach tradierten Wertvorstellungen erwarten die Eltern im Alter die volle Fürsorge ihrer Kinder, nach neuen Vorstellungen sollen sie ihre Kinder aber loszulassen. Haben die Eltern für
ihr Alter selbst vorgesorgt, besteht – rational gesehen – kaum eine Notwendigkeit, das gegenseitige Abhängigkeitsverhältnis zu kultivieren.
  Mit zunehmendem Alter und mit dem Schwinden der Identifikation mit der Arbeitswelt werden zudem bei der älteren Generation frühe Sehnsüchte nach Vertrautem im Mutterland geweckt. Mit dem Hausbau im Heimatland ist für Migranten aus dem näheren Ausland teilweise eine integrative Lebensführung (z. B. Sommer in Deutschland, Winter im Mutterland) möglich, während dies bei Ursprungsländern wie Vietnam oder Indonesien gar nicht mehr infrage kommt.
   Manchmal komme es auch zu einer Annäherung der Enkel an die Großeltern, wenn Konflikte zwischen der Enkel- und Elterngeneration nicht lösbar seien.
   Zum Schluss ging Utari-Witt auf Vorstellungen zum endgültigen Abschied und zu den Vorstellungen ein, wo jemand begraben sein möchte. Die Entscheidung, dass man in der eigentlich »fremden« Erde sich ruhend vorstellen kann, bringt zum Ausdruck, dass das Land der Kinder auch von den Eltern als Heimat gesehen wird. Wenn die Wahl der letzten Ruhestätte im Land der Ursprungsfamilie eher vorstellbar erscheint, kann dies auch eine Widerspiegelung der Migrationserfahrung sein: Es fehlt dann das Gefühl, im Migrationsland beheimatet zu sein und dort richtig geborgen und friedlich zur Ruhe zu kommen. Angelehnt an Winnicotts Begriff einer »good enough mother«, prägte Schneidmann (2008, zitiert nach Akhter) den Begriff eines »good-enough-death«. Salman Akhtar betont, wie wichtig es für Migranten ist, einen angemessenen Abschied zu gestalten.
   Nicht unerwähnt bleiben sollte auch Hartmut Radebolds Schlussbemerkung, der die ambivalente Heimatliebe des NS-Verfolgten und Exilanten Kurt Tucholsky eindrucksvoll und mahnend erwähnte.
   Was bleibt von einem solchen Symposium übrig? Sicherlich die Erinnerung an engagierte Vorträge und die rege Beteiligung der Zuhörer. Was wurde aber alles nicht erwähnt und dargestellt? Hediaty Utari-Witt war die einzige Vortragende mit Migrationshintergrund. Die Frage, wo Migranten beheimatet sind, wurde nur von ihr angesprochen. Ist der Begriff Heimat nur ein deutscher und in Verruf geratener Begriff, der spätestens mit dem Tod der letzten Zeitzeugen des Zweiten Weltkrieges in der Rumpelkammer verstaubt? Auch die Frage, wo Menschen ihre Heimat in Religion, Konfession und politischer Ideologie haben, wurde nur randständig behandelt.
   Wir sind uns bewusst, dass ein Symposium nur einen fragmentarischen Ausschnitt zu all den Fragen liefern kann. Aber eines ist für zukünftige Generationen von Älteren mit Sicherheit von großer Bedeutung: Globalisierung und Migration nehmen zu, ebenso rasante strukturelle Wachstums- und Schrumpfungsprozesse in Nahbereichen. Diese Entwicklungen bringen schon innerhalb einer Generation gravierende Veränderungen mit sich, die zu äußerer und innerer Heimatlosigkeit führen können. Umso wichtiger ist es gerade für uns psychotherapeutisch Tätigen, ältere Menschen intensiver und aktiver bei diesen Veränderungsprozessen zu begleiten. Der Begriff Heimat bekommt zunehmend einen dynamischen und weniger einen statischen Charakter und die Suche nach Identität ist nicht mehr ausschließlich eine Entwicklungsaufgabe der Adoleszenz, sondern auch
des 3. und 4. Lebensalters.

Literatur

Akhtar S (2011) Immigration and Acculturation. Erscheinungsort (Jason Aronson).