Alte in Märchen und Mythen zum Themenheft
“Märchenhaftes Altern”
Reinhard Lindner:
Deuten und Verstehen (Abstract)
Hermeneutisch-psychoanalytische Zugänge zum Märchen
Psychoanalytiker haben sich von Beginn an mit Märcheninterpretationen beschäftigt. Zunächst wurden Märchen analog zum Traum als direkter Zugang zu unbewussten Prozessen gedeutet. Erst die wissenschaftstheoretische Positionierung der Psychoanalyse in einem hermeneutischen Kontext ermöglichte die Anwendung spezifischer Interpretationsmuster, die sich an die Übertragungsanalyse anlehnen. Diese Technik der Textinterpretation wird vorgestellt und die Frage nach den damit zu gewinnenden Erkenntnissen über das Alter im Märchen aufgeworfen.
Hans-Heino Ewers:
Das Alter im Märchen (Abstract)
Ein literaturhistorischer Streifzug
In den eigentlichen Märchen, den Liebes- und Heiratsgeschichten, würden alte Frauen nur zu gerne noch einmal als Braut auftreten. Zumeist aber stehen sie am Rande des Geschehens und fügen den Brautleuten Schaden zu. Eine positive Rolle spielen sie dafür als Märchenerzählerinnen.
Brigitte Boothe:
Die Vitalität des Alters im Märchen und die Generationen im Erzählkontakt (Abstract)
Es kam dem jungen Grafen doch ein wenig bedenklich vor, als er von einer Stunde Wegs hörte, aber die Alte ließ ihn nicht wieder los, packte ihm das Tragtuch auf den Rücken und hing ihm die beiden Körbe an den Arm. »Seht Ihr, es geht ganz leicht«, sagte sie. »Nein, es geht nicht leicht«, antwortete der Graf und machte ein schmerzliches Gesicht, »der Bündel drückt ja so schwer, als wären lauter Wackersteine darin, und die Äpfel und Birnen haben ein Gewicht, als wären sie von Blei; ich kann kaum atmen.« Er hatte Lust, alles wieder abzulegen, aber die Alte ließ es nicht zu.
(»Die Gänsehirtin am Brunnen«, KHM 179)
Die Alten in Grimms Märchen sind Ressourcenträger, Inhaber begehrenswerter Güter materieller oder nicht-materieller Art. Es sind mächtige Alte. Viele der alten Protagonistinnen und Protagonisten sind willens, ihre Ressourcen weiterzugeben. Sie stehen in sozialen Bindungen und machen den Jüngeren Platz. Viele andere machen keineswegs Platz. Wer den Weg dieser mächtigen Frauengestalten kreuzt, verliert seine Autonomie. Will er sie zurückgewinnen, muss er intrigieren und liquidieren. Das ist in der Märchendramaturgie legitim, da die souveräne Seniorenmacht vor Gewalt und Mord nicht zurückschreckt. So kommt die Leserschaft in den Genuss der lustvollen Attacke gegen eine beherrschende Schicksalsmacht und in den Genuss der Teilhabe an zähmungsresistenter Vitalität.
Doreen Röseler:
Mose, der Einhundertzwanzigjährige (Abstract)
Enttäuschung und Versagung am Lebensende
In einem Text des jüdischen Schriftstellers Micha (Berdyczewski) Bin Gorion wird erzählt, wie sich Mose im Alter von 120 Jahren mit Gott in einen kritischen Diskurs verwickelt, der in Anbetracht seiner bis dahin ergebenen und einvernehmlichen Haltung überrascht. Die Themen dieser Auseinandersetzung konzentrieren sich auf Wünsche und Forderungen Moses, die ihm verwehrt werden. Sein Flehen um Unsterblichkeit bildet dabei ein Kernthema. Erstmals erbittet er von Gott etwas für sich und nicht für die Gemeinschaft wie üblich. Dargestellt wird ein erstaunlicher innerer Veränderungsprozess im hohen Alter, dem Desillusionierung und Enttäuschung vorausgehen mussten. Die Bewältigung einer narzisstischen Krise, in deren Zentrum das Ringen mit den »facts of life« (Money-Kyrle 1971) steht, ermöglichte einen mit einer inneren Umorientierung und der Annäherung an die depressive Position (Klein 1983) verbundenen Reifungsprozess. Anhand des Textes wird der Entwicklungsprozess der Hauptfigur und seine Relevanz für die Alternspsychotherapie herausgearbeitet.
Interpreting and Understanding (English Abstract)
Hermeneutic-psychoanalytic approaches to the fairy tale
Psychoanalysts have dealt with fairy tale interpretations from the very beginning. At first, fairy tales were interpreted analogously to dreams as direct access to unconscious processes. Only the scientific-theoretical positioning of psychoanalysis in a hermeneutic context made it possible to apply specific patterns of interpretation based on transference analysis. This technique of text interpretation is presented and the question is raised as to the insights into age in the fairy tale that can be gained with it.
Age in Fairy Tales (English Abstract)
A literary-historical foray
In the actual fairy tales, the love and marriage stories, old women would only too gladly appear once more as brides. Mostly, however, they stand on the sidelines of the action and inflict harm on the bride and groom. On the other hand, they play a positive role as storytellers.
The Vitality of Age in Fairy Tales and the Generations in Narrative Contact (English Abstract)
It seemed a little alarming to the young count when he heard of an hour's walk, but the old woman did not let go of him again, grabbed the sling on his back and hung the two baskets on his arm. "You see, it goes easily," she said. "No, it does not go easily," replied the Count, making a pained face, "the bundle presses so heavily, as if it were full of jelly stones, and the apples and pears have a weight as if they were made of lead; I can hardly breathe." He felt like putting it all down again, but the old woman wouldn't let him.
("The Goosekeeper at the Well," KHM 179)
The old people in Grimm's fairy tales are resource bearers, holders of desirable goods of a material or non-material kind. They are powerful old people. Many of the old protagonists are willing to pass on their resources. They are in social bonds and make room for the younger ones. Many others do not make way at all. Whoever crosses the path of these powerful female figures loses his autonomy. If he wants to win it back, he must intrigue and liquidate. This is legitimate in the fairy tale dramaturgy, since the sovereign senior power does not shy away from violence and murder. In this way, the readership enjoys the pleasurable attack against a dominating power of fate and the participation in tame-resistant vitality.
Moses, the One Hundred and Twenty Year Old (English Abstract)
Disappointment and failure at the end of life
A text by the Jewish writer Micah (Berdyczewski) Bin Gorion recounts how Moses, at the age of 120, engages in a critical discourse with God that is surprising considering his hitherto devoted and consensual attitude. The themes of this confrontation focus on Moses' desires and demands, which are denied him. His plea for immortality forms a core theme here. For the first time he asks something from God for himself and not for the community as usual. An astonishing process of inner change in old age is depicted, which had to be preceded by disillusionment and disappointment. The overcoming of a narcissistic crisis, in the center of which is the struggle with the "facts of life" (Money-Kyrle 1971), made possible a maturing process connected with an inner reorientation and the approach to the depressive position (Klein 1983). On the basis of the text, the developmental process of the main character and its relevance for aging psychotherapy will be elaborated.