Peter Bäurle: Editorial zum Themenheft
“Angst”
»... und ihnen schwankt der Boden unter den Füssen ...«
Dieses Themenheft befasst sich mit den Ängsten während des Alterns, aber nicht mit der Angst vor dem Alter. Letztere kann in der Regel von allen Jüngeren, insbesondere den professionell im Altersbereich Tätigen gut nachvollzogen werden. In seinem Buch Und immer sind die Weiber weg erwähnt Stefan Heym im Alter von 87 Jahren – zwei Jahre vor seinem Tode – Menschen, die ihn wegen seines hohen Alters als Experten und als weisen Ratgeber zum Alter befragen. Er merkt dabei an, dass den Fragestellern vor Angst der Boden unter den Füssen schwankt. Interessanterweise beschreibt er eingehend seine Gebrechen und Einschränkungen, jedoch kaum seine eigenen Ängste in der Situation des Alters.
Die bisherigen Untersuchungen zum Thema »Angst im Alter« scheinen mehrheitlich zu belegen, dass die schweren Angststörungen im höheren Alter weniger häufig als im jüngeren und mittleren Alter anzutreffen sind. Hier stellt sich die erste Frage: Inwieweit bilden die Untersuchungen die Wirklichkeit tatsächlich ab? Möglicherweise erscheinen Ängste bei Älteren – parallel zu den depressiven Syndromen – eher in larvierter Form und können daher mit den angewandten Instrumentarien nicht eindeutig diagnostiziert werden. Unabhängig von der epidemiologischen Frage steht jedoch fest, dass sowohl Depressionen als auch Ängste während des Alterns nur selten als psychische Störung erkannt und entsprechend behandelt werden.
Das liegt daran, dass ein großer Teil der medizinischen Diagnostik bei über 60-Jährigen darauf ausgerichtet ist, zu klären, ob sich hinter einem beängstigenden Körpergefühl eine gefährliche Erkrankung verbirgt. Die Angst selbst wird jedoch oft nicht ernst genommen und dem Alter per se zugeordnet. Deshalb wird über Ängste nicht gesprochen, insbesondere nicht über die Angst vor einer lebensbedrohlichen Erkrankung und damit über die Angst vor Sterben und Tod. Dieser Zusammenhang unterstreicht erneut die Rolle des Körpers als dominierender Faktor bei der weiteren Entwicklung im Alter (Heuft 1994).
Wenn Erwachsene im jüngeren und mittleren Lebensalter ein Vermeidungsverhalten aufgrund typischer Ängste z. B. vor geschlossenen Räumen, vor großen Höhen, vor Menschenansammlungen oder vor Spinnen zeigen, so werden diese Ängste als solche rasch erkannt und entsprechende psychotherapeutische Behandlungsvorschläge gemacht. Verlässt dagegen eine ältere Frau wegen »Schwindelattacken« ihre Wohnung nicht mehr, so wird häufig eine Gleichgewichtsstörung diagnostiziert und entsprechend medikamentös behandelt. Ebenso wird das »Zurückschrecken vor einer Flugreise« bei älteren Menschen auf die damit verbundene Bewegungseinschränkung zurückgeführt und als selbstverständlich akzeptiert. Damit stellt sich die zweite Frage: Inwieweit beziehen sich unsere Bilder vom Altern zwar auf Ängste vor dem Alter, dem Sterben bzw. dem Tod, aber keineswegs auf den Alltag des Alterns und damit korrespondierende psychische Probleme und Konflikte?
Die psychoanalytische Theorie stellt Angst in engen Zusammenhang mit aggressiven und sexuellen (libidinösen) Triebimpulsen, die nicht genügend ausgelebt, abgewehrt oder ersetzt werden können. Damit stellt sich als dritte Frage, die nach dem Triebschicksal während des Alterns. Für den Bereich der sexuellen Erlebnisfähigkeit gehen wir einerseits davon aus, dass das Unbewusste zeitlos ist und somit nicht altert. Andererseits hängt die Erfüllung sexueller Bedürfnisse sowohl von dem Interesse, dem körperlichem Befinden und den Realisierungsmöglichkeiten ab. Letztere nehmen jedoch mit zunehmenden Alter ab, was zu entsprechenden Konflikten führt.
Hinsichtlich der ausgelebten Aggressivität alter Menschen entsteht oft – sowohl in der Pflegesituation als auch in der Klinik – der Eindruck, dass Abwehr und Kontrolle dieser Impulse während des Alterns abnehmen bzw. Ich-syntoner erscheinen. Das heißt, aggressive Impulse scheinen zum selbstverständlichen Bestandteil der Einheit von Fühlen, Denken und Handeln zu werden. Gerade bei Familienstreitigkeiten zwischen den Generationen, aber auch im Rahmen von Gruppentherapien können alte Menschen ein hohes Maß an Destruktivität ohne Schuldgefühle zeigen. Während sich Aggressionen bei jüngeren Menschen oft direkt in körperlichen Handlungen »entladen«, haben Aggressionen im Alter eher einen latenten und damit unterschwelligen Charakter. Typische Formen sind z. B. Nahrungsverweigerung und schikanöses Verhalten unter Ausnutzung körperlicher Einschränkungen. Offen bleibt, ob und wie sich diese unterschiedlichen Formen Aggression zu leben, auf das Angsterleben im Alter auswirken.
Damit stellt sich die vierte Frage: Inwieweit tragen nicht nur die »Bilder vom Altern« der jüngeren Professionellen, sondern auch die Normen, nach denen die heutige Generation älterer Menschen erzogen wurde, dazu bei, dass Gefühle, hier also insbesondere Ängste, nicht gezeigt werden dürfen? Solche Gefühle entsprechen insbesondere bei Männern keineswegs dem eigenen Selbst- oder Idealbild! Die Fähigkeit zur Gefühlsunterdrückung wurde bei Ihnen ja geradezu idealisiert. Deshalb wird die Frage nach Ängsten oft verneint. Sie finden sich aber dann unter Begriffen wie Bedenken und Sorgen, die leichter eingestanden werden können.
In diesem Zusammenhang stellt sich eine fünfte, in der Gerontopsychiatrie schon oft diskutierte Frage, nämlich die der Brauchbarkeit der derzeitigen Klassifikationsschemata (ICD-10 und DSM-IV). Um ausreichend präzise psychische Störungen und Ängste bei über 60-Jährigen erfassen und beschreiben zu können, benötigen wir zusätzlich zur Beschreibung allgemeiner Ängste auch eine Erfassung spezifischer Ängste, z. B. Ängste vor Verlust der beruflichen Leistungsfähigkeit, der sexuellen Potenz oder Ängste vor Beschämung aufgrund körperlicher Einschränkungen.
Hier stellt sich die sechste Frage, werden auch durch gesellschaftliche Normen Ängste im Alter gefördert? Durch die Verknüpfung von Selbstwert mit nutzbringenden Tätigkeiten haben alte Menschen Angst davor, nichts mehr wert zu sein, wenn sie nicht mehr arbeiten können. Unter Arbeit sind dabei auch alle nachberuflichen Tätigkeiten zu verstehen.
Damit stellt sich als letzte Frage die nach den Behandlungsmöglichkeiten. Häufig ist die Gabe von Tranquilizern zu Beginn der Behandlung nicht vermeidbar. Dabei muss allerdings daran erinnert werden, dass wir in der Klinik einen relativ hohen Anteil von Patienten sehen, der aufgrund von jahre- oder jahrzehntelangem Tranquilizer-Missbrauch therapieresistente Depressionen entwickelt haben. Diese können erst erfolgreich behandelt werden nachdem ein Entzug durchgeführt wurde. Dabei ist gerade der Abbau von Tranquilizern in hohem Ausmaß mit dem Erleben von Angstzuständen verbunden. Er kann meist nicht ambulant durchgeführt werden und ist oft langwierig. Auch aus diesen Gründen ist die allzu schnelle Gabe von Tranquilizern im Falle von Angstzuständen bei über 60-Jährigen immer wieder zu überdenken.
Erst in jüngster Zeit wurde die Bedeutung von Ängsten als Folge von Traumareaktivierungen und nachfolgenden aktuellen Traumatisierungen bei aktiven und passiven Teilnehmern des Zweiten Weltkriegs untersucht und beschrieben. Die nächste Ausgabe von PiA widmet sich dieser Thematik.
Die gezielte psychotherapeutische Behandlung – sei es nach einem psychodynamischen oder einem verhaltenstherapeutischen Konzept – wird noch immer zu wenig eingesetzt. Die wiedergegebenen Behandlungsberichte weisen darauf hin, Psychotherapie häufiger in die Therapieplanung einzubeziehen.
Ängste bei über 60-Jährigen sind immer noch zu unbekannte, zu selten diagnostizierte und zu selten behandelte psychische Störungen! Ich hoffe, dass dieses Heft dazu beiträgt, die Ängste alter Menschen besser zu erkennen, zu verstehen und zu behandeln.
Peter Bäurle
Literatur
Heuft G (1994): Persönlichkeitsentwicklung im Alter – ein psychologisches Entwicklungsparadigma. Z Gerontol 27:116-121.