Schlaglichter sind Momentaufnahmen und beleuchten eine Teilrealität. Ein Teilbereich wird kurzfristig erhellt; das Übrige bleibt im Verborgenen. Sie sind wie Stichproben und deshalb nicht repräsentativ, sondern fragmentarisch. Sie sind aber hilfreich dabei, sich einer komplexen, von Schuld und Trauma belasteten Realität zu nähern, die bis heute andauert. Dazu ist es nicht nötig, gänzlich neue Wege zu gehen, sondern nach einem längeren Zeitraum die gleichen Fragen zu stellen, wie zum Beispiel in den folgenden Interviews.
   Warum dieser Band? Ist nicht genug über das Thema geschrieben worden? Gibt es nicht eine Vielzahl auch populärer Veröffentlichungen zum Thema Shoah, Holocaust und Judentum? Die Zeiten, in denen erstmals Holocausttraumatisierte behandelt wurden, sind vorbei. In den vergangenen Jahrzehnten mit einem Schwerpunkt in den 70er und 80er Jahren gab es zahlreiche aufrüttelnde Berichte, die die Erlebnisse und Traumatisierungen von Zeitzeugen eindrucksvoll darstellten (König 1967, Wiesel 1987, Gay 1999, Bettelheim 1999, Reich-Ranicki 1999, Elstermann 2006), sowie Portraits und Interviews von Überlebenden der Shoah (Koelbl 1989, Doerry 2008). Ebenso wurde von psychoanalytischer und psychotherapeutischer Seite einiges über die transgenerationelle Traumatisierung durch die Shoah berichtet (Spiegel u. Cardena 1991, Gampel 1994, Bergmann et al. 1995, Bohleber 1997, Brenneis 1998, Hirsch 1999, Kogan 2003, Guski-Leinwand 2011, Kellermann 2011). Kein Zweifel: Die Folgen wirken weiter. Deshalb ist das Thema keineswegs beendet, ebenso wenig wie die transgenerationale Weitergabe menschenverachtender nazistischer Einstellungen, wie unlängst die Aufdeckung der Taten einer rechtsradikalen Mörderbande in Deutschland zeigt. Auch die Beschneidungsdebatte in Deutschland 2012 zeigt, wie weit wir davon entfernt sind, dieses Thema ad acta zu legen.
   Auch heute noch, 68 Jahre nach der Shoah oft euphemistisch mit »danach« umschrieben, fühlt man sich wie auf Glatteis. Dieses »danach« ist eine tabuisierende Umschreibung für das Unaussprechliche und Unbenennbare. Auch wenn es mehr als tausendmal wiederholt wurde: Trauma und Schuld sind mit Tabu belegt. Ein Tabu führt zu verdrängender Verstummung auch inmitten der vordergründig offenen Mitteilsamkeit über die NS-Zeit. Diese Verdrängung wird offenkundig, wenn bei Nachkommen NS-traumatisierter Erwachsener die Abwehr zum Beispiel altersbedingt nachlässt. Aber es betrifft nicht nur die mittlerweile älter gewordene, sogenannte zweite Generation: Viele junge Menschen entwickeln zwischen dem 20. und 30. Lebensjahr, in einer Phase, in der die Verfestigung des Identitätsgefühls ansteht, oft diffuse Symptome und werden krank beim Versuch, sich auf Beziehungen, Liebesverhältnisse oder auf Rivalität einzulassen. Bei oft hervorragenden Deutschkenntnissen ist gerade das Identitätsgefühl junger jüdischer Menschen aus den GUS-Nachfolgestaaten erheblich irritiert und brüchig, der Umgang mit realen Möglichkeiten bei unklaren Idealvorstellungen unsicher. Rituale und Tabus sind infrage gestellt, die Kenntnisse über das Judentum sind oft gering. Dies kann »double bind«-Situationen durch divergierende Überichforderungen, diffuse Schuldgefühle und Desorientierung fördern. Über was kann man offen mit ihnen sprechen? Über jüdische Identität? Über die Shoah, über das auch heute nicht normale Verhältnis zwischen Juden und Deutschen? Hier ist schon die Frage nach dem »zwischen wem« schwierig: zwischen Juden und Deutschen, zwischen jüdischen Deutschen und Deutschen oder zwischen deutschen Juden und Deutschen – oder zwischen Deutschen und Kontingentflüchtlingen? Was ist korrekt, wen kränkt man mit einer unpassenden Einordnung und was ist tabu? Kann man über jüdische Identität und über transgenerationelle Traumatisierungen sprechen, ohne der Gefahr anheimzufallen, Betroffene zu verletzen oder, wie bei vielen aus den Nachfolgestaaten der Sowjetunion nach Deutschland eingewanderten jüngeren Juden, Befremden hervorzurufen, wenn man als Deutscher das Thema Holocaust anspricht? Fühlen sich diese Menschen überhaupt als Opfer? Bei krampfhafter Tabuvermeidung passiert es leicht, wie Ohlmeier (1994) aufzeigte, dass aus dem Unbewussten Nazivokabular aufsteigt; so wie in einer Gruppentherapie, als einer Patientin mit jüdischen Wurzeln, die eine ausgeprägte Arbeitsstörung hatte, geraten wurde, sie solle »Gas geben«.
   Man kann sich nur stolpernd und fragmentarisch dieser Thematik nähern. Leitgedanke ist, in Begegnungen und Therapien die Vergangenheit zu berücksichtigen, ohne sie Patienten gewaltsam überzustülpen. Heutige individuelle Problemstellungen sollen nicht vernachlässigt werden. Die Autoren dieses Heftes möchten sich nicht anmaßen, Experten für die Nachwirkungen der NS-Herrschaft in der zweiten, dritten und vierten Generation zu sein.
   Die Zahl der Veröffentlichungen über Spätfolgen des Holocausts bei unmittelbar Betroffenen und deren Nachkommen ist groß. Diese Betrachtungsweise birgt die Gefahr der Pathologisierung und Psychiatriesierung und kann zu einer erneuten unterschwelligen Diskriminierung jüdischer Menschen führen. Nicht umsonst ist der Begriff der »jüdischen Krankheit« im Vokabular der Antisemiten anzutreffen (Gilman 1993). Die Gratwanderung, Betroffene zum Objekt der Betrachtung zu machen, ist nicht ganz zu vermeiden, insbesondere in kasuistischen Berichten. In Deutschland besteht indes noch immer die Gefahr, unreflektiert alte Täter-Opfer-Kollusionen wieder aufleben zu lassen und jüdischen Menschen in vordergründig bester Absicht eine Identität überzustülpen, die diese nicht haben.
   So gesehen sind unsere Interviewpartner Manfred Wächter, Peter Rosenthal und Anna Sadnic im eigentlichen Sinne Mitautoren dieses Buches. Sie erklärten sich aktiv bereit, über ihre Lebenswege Auskunft zu geben. Dies ist leider im heutigen Deutschland keine Selbstverständlichkeit. Etliche potenzielle Gesprächspartner lehnten mit der Begründung, dass in Zeiten der NSU-Morde und der Informationsverbreitung durch das Internet ihre Sicherheit vor Angriffen durch Neonazis nicht gewährleistet sei, ein Interview ab. Ihr Vertrauen in deutsche Sicherheitsbehörden ist nachhaltig beschädigt.
   Wir hatten uns entschieden, die Interviews von einem erfahrenen Journalisten (Curt Hondrich) und nicht von einem Psychoanalytiker durchführen zu lassen. Derartige Interviews sind Bruchstücke, eine zwanghafte Vollständigkeit der Berichterstattung wurde nicht angestrebt. Ebenso verzichteten wir bewusst auf eine abschließende Deutung und Einordnung. So bleiben die Interviews Fragmente, die den Lesern konkrete Lebenserfahrungen jüdischer Menschen im heutigen Deutschland aus drei Generationen näherbringen.
   In den Beiträgen von Stella Shcherbatova und Bertram von der Stein wird deutlich, dass das Ringen um eine jüdische Identität im heutigen Deutschland zwar anders aussieht als unmittelbar nach dem zweiten Weltkrieg und in den 60er und 70er Jahren, aber sicherlich nicht leichter geworden ist. Es geht in den Fallvignetten nicht nur um Erinnerungskultur, sondern um Gegenwarts- und Zukunftsbewältigung.
   Simon Forstmeier, Andreas Maercker, Elisheva A.M. van der Hal-van Raalte, und Martin Auerbach stellen aus verhaltenstherapeutischer Sicht eine geplante Studie über die Methode des therapeutischen Lebensrückblicks bei Holocaust-Überlebenden vor. Die hier aufgeworfenen Fragen sind von methodenübergreifender Relevanz. Die Frage, inwieweit die Erinnerung an traumatische Erlebnisse bei Älteren hilfreich ist oder zu einer Retraumatisierung führt, soll hier systematisch beleuchtet werden.
   Herbert Czef hat in einem sehr eindrucksvollen und berührenden Artikel die verheerende Spätwirkung von KZ-Traumatisierungen aufgezeigt, indem er sie mit Suiziden von Betroffenen im höheren Lebensalter in Zusammenhang bringt.
   Hartmut Kraft schildert aus psychoanalytischer Sicht, inwieweit antisemitische Traditionen in der christlichen Ikonografie verankert sind. Er zeigt auf, wie wichtig es ist, gerade heute das Antisemitismus-Tabu zu überwinden und schambesetzte Themen anzusprechen. Indem man Unworte im Dienste der sogenannten Political Correctness schafft, vertieft man das tabugeleitete Wegschauen und damit die Gefahr der Wiederkehr des Verdrängten.
   Uri Kuchinsky setzt sich aus jüdischer Sicht kritisch mit der aktuellen Beschneidungsdebatte in Deutschland auseinander. Er zeigt reaktualisierte Absurditäten und latenten Antisemitismus im gegenwärtigen Deutschland auf.
   Die Gruppe jüdischer Menschen in Deutschland ist, trotz Zunahme nach dem Zusammenbruch des Warschauer Paktes, klein, und ihre Schwierigkeiten sind sehr heterogen: Die Zeiten, in denen Betroffene des Holocausts meist der sogenannten ersten Generation angehörig sind, neigt sich dem Ende zu. Es geht heute um die nicht abschließend geklärte transgenerationale Traumavermittlung. Ebenso geht es um jene stillen, nicht prominenten Menschen, die sich oft nach einer Irrfahrt durch verschiedene Institutionen erst sehr spät einer Psychotherapie zuwandten. Zu ihnen gehören zählen die Angehörigen der zweiten und dritten, manchmal schon der vierten Generation. Sind sie nur »Zaungäste« des Holocausts, die von den Älteren nicht für voll genommen werden? Wie gehen diese Nachkommen mit den beschädigten und zugleich übermächtigen Eltern um? Können manche das Thema Holocaust nicht mehr hören, da es die eigene Entwicklung zu überschatten droht? Sind sie etwa unbequem, weil sie deutlich machen, dass Schuld und Schaden ein immenses Ausmaß aufweisen? Diese Menschen können meist nicht mit einer spektakulären Rettungsgeschichte aufwarten. Ihre Schwierigkeiten sind oft sehr diffuser Natur: Gehemmtheit, unklare Ängste, Selbstzweifel und diffuse Identitätsstörungen. Hierzu gehören auch jene, deren jüdische Identität fast nicht vorhanden ist: die Nachkommen ehemals assimilierter Juden, die zur jüdischen Religion einen säkularisierten Restbezug hatten.
   Ein neues Selbstverständnis ist für viele jüdische Menschen in einer Gesellschaft besonders schwierig, deren Identität durch die Folgen des Nationalsozialismus und des Krieges selbst beschädigt ist. Nach Holocaust und Zweitem Weltkrieg, Flucht und Vertreibung ist die deutsche Identität unsicher und tabubeladen. Deutsche Identitätsunsicherheit, Diffusion von Täter- und Opferrollen, pendelnd zwischen latentem Antisemitismus und Philosemitismus treffen auf die die Tendenz mancher jüdischer Menschen zur Überanpassung oder Ghettobildung, einhergehend mit klischeehaften Vorstellungen. Diese führen in der Psychotherapie zu komplizierten Übertragungs- und Gegenübertragungssituationen.
   Deshalb sollten deutsche Therapeuten ihre eigene Vorgeschichte berücksichtigen und offen dafür sein, dass derart schwere Traumata auch nach drei Generationen nicht hinreichend durchgearbeitet sind. Diesem Aspekt ist der Beitrag von Peter Giesers und Christoph Tangen-Petraitis gewidmet. Die schuldhafte Verwicklung der Familie Harlan steht exemplarisch für die Verstrickung vieler Deutscher. Gerade dieser Beitrag zeigt deutlich, dass es für Deutsche eben keine Gnade der späten Geburt gibt.
   Dies sollte uns für alle ideologisch begründeten Spielarten der Menschenverachtung und Diskriminierung wachsam sein lassen.

Literatur

Bergmann MS, Jucovy ME, Kestenberg JS (1995) Kinder der Täter, Kinder der Opfer. Psychoanalyse und Holocaust. Frankfurt a.M. (Fischer).
Bettelheim B (1982) Erziehung zum Überleben. München (dtv).
Bohleber W (1997) Trauma, Identifizierung und historischer Kontext. Über die Notwendigkeit, die NS-Vergangenheit in den psychoanalytischen Deutungsprozess einzubeziehen. Psyche 51(9/10): 958–995.
Brenneis CB (1998) Gedächtnissysteme und der psychoanalytische Abruf von Trauma-Erinnerungen. Psyche 52(9/10): 801–823.
Doerry M (2008) Nirgendwo und überall zu Haus. Gespräche mit Überlebenden des Holocaust. München (Goldmann).
Elstermann K (2006) Gerdas Schweigen. Berlin-Brandenburg (be.bra-Verlag).
Eckstaedt A (1999) Ein Vertriebenenschicksal in der dritten Generation. In: Schlösser AM, Höhfeld K (Hg) Trennungen. Gießen (Psychosozial-Verlag) 137–153.
Erikson EH (1976) Identität und Lebenszyklus. Frankfurt a.M. (Suhrkamp).
Freud S (1923) Das Ich und das Es. GW XIII. Frankfurt a.M. (Fischer).
Gampel Y (1994) Identifizierung, Identität und generationsübergreifende Transmission. Z. psychoanal Theorie und Praxis 9(3): 301–319.
Gay P (1999) Meine deutsche Frage. München (Beck).
Gilman SM (1993) Jüdischer Selbsthass. Berlin (Jüdischer Verlag).
Grinberg L, Grinberg R (1990) Psychoanalyse der Migration und des Exils. Stuttgart (Verlag Internationale Psychoanalyse).
Guski-Leinwand S (2011) Die unversorgten Generationen – Traumatisierungen zweiter Ordnung bei Nachkommen traumatisierter (Groß)Eltern der NS-Generation. In: Teupen M (Hg) Dokumentation Fachtagung zum Thema »Zweite Generation« Köln (Bundesverband Information & Beratung für NS-Verfolgte e.V.) 16–21.
Hirsch M (1999) Die Wirkung schwerer Verluste auf die zweite Generation am Beispiel des Überlebensschuldgefühls und des »Ersatzkindes«. In: Schlösser AM, Höhfeld K (Hg) Trennungen. Gießen (Psychosozial-Verlag) 125–136.
Kellermann NPF (2011) Geerbte Albträume – Wie werden erworbene seelische Eigenschaften vererbt? In: Teupen M (Hg) Dokumentation Fachtagung zum Thema »Zweite Generation« Köln (Bundesverband Information & Beratung für NS-Verfolgte e.V.) 8–15.
Koelbl H (1989) Jüdische Portraits. Frankfurt a.M. (Fischer).
König J (1967) Den Netzen entronnen. Die Aufzeichnungen des Joel König. Göttingen (Vandenhoeck & Ruprecht).
Kogan I (2003) On being a dead, beloved child. Psychoanalytic Quarterly 72(3): 727–767.
Küchenhoff J (1992) Eine Krypta im Ich. Zur Identifikation mit früh verstorbenen Angehörigen. Forum Psychoanal 7:31–46.
Mitscherlich A, Mitscherlich M (1967) Die Unfähigkeit zu trauern. München (Piper).
Ohlmeier D (1994) Nazifaschistische Züge in der Sprache heutiger Psychoanalysen. In: Bohleber W, Drews J (Hg) Gift, das Du unbewußt eintrinkst. Der Nationalsozialismus und die deutsche Sprache. Bielefeld (Aisthesis).
Reich-Ranicki M (1999) Mein Leben. Stuttgart (Deutsche Verlagsanstalt).
Spiegel D, Cardena E (1991) Desintegrated experience: the dissociative disorder revisited. J Abnorm Psychol 100: 366–378.
Wiesel E (1987) Jude heute. Wien (Hannibal).