Die Herausgeber der “Psychotherapie im Alter”: Editorial zum ersten Heft der neuen Zeitschrift

Über die alten Leute muss ich immer wieder staunen. Wie haben sie es bloß geschafft, inmitten so vieler Gefahren ihren Weg zu gehen und heil und gesund im hohen Alter anzukommen? Wie haben sie es fertiggebracht, nicht unter ein Auto zu geraten, wie haben sie tödliche Krankheiten überwinden können, wie haben sie einen Dachziegel, einen Angriff, einen Eisenbahnzusammenstoß, einen Schiffbruch, einen Blitz, einen Sturz, einen Pistolenschuss vermeiden können? Wahrhaftig, diese Alten müssen unter dem Schutz des Teufels stehen! Manche wagen es immer noch, langsam die Straße zu überqueren, ja sind sie denn verrückt geworden? (Achille Campanile)

Ja sind sie denn verrückt geworden, die Herausgeber? – So mögen sich Leser und Leserin fragen: In einer Zeit der Leseunlust, der gekürzten Bibliotheksetats und inflationärer Medienflut wagen sie sich mit noch einer Zeitschrift auf den Markt! Welcher Bedarf sollte an einem »Forum für Psychotherapie, Psychiatrie, Psychosomatik und Beratung älterer Menschen« bestehen? Hier einige Erläuterungen:
Die Lebenserwartung der heute 60-jährigen Männer liegt bei 19,3 Jahren, die der gleichaltrigen Frauen bei 24,4 Jahren. Die große Mehrheit der Bevölkerung kann angesichts dieses »sicheren Alters« (Arthur Imhof) mit einer Lebensphase rechnen, die vielfältige Chancen der Entwicklung, des Reifens und des Lernens bietet – Jahre und Jahrzehnte der »späten Freiheit« (Leopold Rosenmayr), die es zu gestalten gilt. Unsere alternden Gesellschaften sind folglich angewiesen auf wirksame Strategien, die möglichst lange eine aktive und kompetente Teilhabe ihrer Bürgerinnen und Bürger sichern.
Denn mit dem Alter steigt die Zahl der Erkrankungen und fordert unterschiedliche Berufsgruppen und Institutionen auf den Plan. Nicht immer sprechen alle Akteure dieselbe Sprache, nicht automatisch folgen sie identischen Behandlungszielen oder gleichen Finanzierungslogiken. Oft gälte es erst einen Konsens über das herzustellen, was jeweils als »gelungenes Altern« und damit Therapieziel zu bezeichnen ist, bevor zum Verordnungsblock gegriffen wird. Weniger auf die Ressourcen der Älteren wird der Blick gerichtet, denn auf ihre Defizite.
Die über 60-Jährigen stellen heute weniger als 2% der Patienten in psychotherapeutischen Praxen, obwohl sie fast ein Drittel aller Erwachsenen stellen. Doch neue Generationen der älteren Menschen (und ihrer Angehörigen) beginnen, psychotherapeutische Hilfen nicht nur zu akzeptieren, sondern zu erwarten. Bereits 1998 hat die Bundesärztekammer in ihren Aussagen zur Gesundheit einen besseren Zugang älterer Menschen zu psychotherapeutischen Behandlungsmöglichkeiten gefordert. Unterstrichen wurde dies 2001 im dritten Altenbericht der Bundesregierung. Zur Umsetzung bedarf es des kollegialen Dialogs mit den Partnern im Gesundheitswesen, die an den Schaltstellen von Behandlung und Beratung, in Akutkliniken und bei Kostenträgern über die Verfügbarkeit von Psychotherapie mitentscheiden. Wir brauchen aber auch den breiten Austausch innerhalb der psychotherapeutischen und psychiatrischen Professionen, um unser Wissen und unsere Fertigkeiten bei der Begleitung älterer Menschen weiterzuentwickeln.
    Statt die Strategien von Vorbeugung und Rehabilitation mit dem Ziel einer kostenersparenden Gesundheitspflege zu stärken, reagiert unser Gesundheitssystem derzeit mit Kürzungen auf die demographischen Veränderungen. Das Gespenst des therapeutischen Nihilismus scheint aus der Versenkung auferstanden.
Dem möchte die Zeitschrift PiA entgegentreten. Angesiedelt am Schnittpunkt von Praxis und Wissenschaft, von Behandlung, Beratung und Pflege, bietet sie ein Forum für die Erkenntnisse und Erfahrungen unterschiedlicher Arbeitsfelder und Schulen. Unser Anliegen ist es mitzuwirken an der Herausbildung eines differenzierten und gleichwohl profilierten Verständnisses der Psychiatrie, Psychotherapie, Psychosomatik und Beratung des Alters.

Die Zeitschrift PiA erscheint vierteljährlich als Themenheft. Passend zum Erscheinungsbeginn befassen wir uns in dieser ersten Ausgabe mit der Gestaltung des Erstkontakts in unterschiedlichen Settings und aus der Sicht verschiedener Disziplinen.
Im Erstkontakt werden die Weichen für eine vertrauensvolle Zusammenarbeit gestellt und die Hoffnungen in die Wirksamkeit von Psychotherapie und Beratung begründet. So hoffnungsvoll wollen auch wir beginnen.

Als weitere Themenhefte werden erscheinen:

  • Angst

  • Traumatisierungen

  • Erinnern

  • Wiederholung, Ritual und Zwang

  • Gefühle

  • Körper

  • Partnerschaft

Auf einen Übersichtsartikel folgen jeweils fallorientierte Darstellungen zum Schwerpunktthema, wobei auch anderen Themen Raum gegeben wird. Anwendungsbezogene empirische Arbeiten dienen der Vermittlung zwischen Wissenschaft und Praxis. Literaturreferate, Buchbesprechungen und Mitteilungen von Fachverbänden liefern aktuelle Information. Mit einer Rubrik »Leserbriefe« laden wir zur Diskussion ein.
PiA will also mithelfen, dass möglichst viele Menschen heil und psychisch stabil im hohen Alter ankommen. Statt des eingangs beschworenen Schutzes des Teufels wird dabei auch die Unterstützung eines engagierten und versierten Therapeuten gefragt sein.

Literatur

Zitiert aus Norberto Bobbio (1999): Vom Alter. De senectute 43f, Piper, München