Eva-Marie Kessler & Meinolf Peters:
»Wie können sie mir denn überhaupt noch helfen ...?«
Psychotherapie mit Hochaltrigen: Zur Auseinandersetzung mit einer konkreten Utopie
Vor einiger Zeit kam eine ältere Dame zu mir (M.P.), die gerade ihr 90. Lebensjahr vollendet hatte. Sie ist die älteste Patientin, die je meine Praxis aufsuchte. Es war ihr anzumerken, dass sie irritiert war, sich irgendwie unwohl fühlte und nicht recht wusste, was nun eigentlich mit der Situation anfangen sollte. Die Hausärztin habe sie geschickt, wie sie dann berichtete, weil sie sich so allein und einsam fühle. Zwar lebe ihre einzige Tochter gleich unter ihr, sie kümmere sich auch um sie. Jetzt sei die Tochter im Urlaub und sie habe das Gefühl, ›jetzt greife ich ins Leere‹. Nach weiteren Kontakten gefragt, schilderte sie, dass aus dem Freundeskreis niemand mehr da sei, alle seien verstorben. Sie erzählte dann ein wenig von den Menschen, die ihr wichtig gewesen waren, und es wurde deutlich, dass sie durchaus auf eine ›bevölkerte Biografie‹ zurückblicken kann. Ich schöpfte ein wenig Hoffnung, dass einiges an gespeicherten Ressourcen da sei, was sie vielleicht neu beleben könnte, eine Hoffnung, in die ich mich offenbar rasch flüchtete, um der Ohnmacht zu entgehen, der sie sich selbst ausgeliefert fühlte. Mit einem Schlag induzierte sie auch ein solches Gefühl: »Ich bin jetzt 90, einsam, müde und gehbehindert, ich habe Schmerzen und nichts mehr, worauf ich mich freuen könnte. Ich werde sowieso bald sterben. Was können sie denn überhaupt tun, um mir zu helfen?« Das zarte Gefühl der Hoffnung war mit einem Schlag verschwunden, und ich spürte die Hoffnungslosigkeit, die ihr selbst so zu schaffen machte. Die Chance, mit ihr gemeinsam nach einem Weg zu suchen, diesem übermächtigen Gefühl etwas entgegen zu setzen, erhielt ich nicht, denn den vereinbarten neuen Termin sagte sie kurz zuvor ab.
Vermutlich beschreibt die Szene eine Form der Begegnung, wie sie bei betagten Patienten nicht selten ist. Es stellt sich die Frage: Kann Psychotherapie in einer solchen Situation ein hilfreiches Angebot sein, wenn das belastete Alter den Möglichkeitsraum, den das Alter heute bietet, mehr und mehr einengt? Was könnte dafür sprechen, Alterspsychotherapie auch auf solche Hochaltrige auszuweiten? In seinem bedeutsamen Aufsatz »Die Unvollendetheit der menschlichen Ontogenese: Implikationen für die Zukunft des vierten Lebensalters« hat Paul Baltes 1997 in der Psychologischen Rundschau argumentiert, dass für das sehr hohe Alter »Mangelzustände und Grenzerfahrungen« charakteristisch seien. Im sehr hohen Alter trete die Unvollendetheit der individuellen Entwicklung besonders zutage. Das hohe und besonders das sehr hohe Lebensalter seien deshalb mehr auf kulturelle Angebote und Unterstützung angewiesen als die anderen Lebensphasen.
Darauf Bezug nehmend möchten wir dieses Themenheft gerne unter die Prämisse stellen, dass die Notwendigkeit für Psychotherapie im sehr hohen Alter sich nicht trotz, sondern gerade aufgrund dieser Unvollendetheit ergibt, d.h. aufgrund der Tatsache, dass das Adaptationspotenzial deutlichen Begrenzungen unterliegt und eine Lebensgestaltung mit positiven Resultaten eingeschränkt ist. Dies bedeutet nämlich im Umkehrschluss, dass Menschen im sehr hohen Alter – ähnlich wie Menschen zu Beginn des Lebens – in besonderem Maße auf optimale gesellschaftlich-kulturelle Unterstützung angewiesen sind, um ihre individuellen Entwicklungspotenziale in einer Grenzsituation der menschlichen Existenz zu entfalten. Begreift man Psychotherapie als Methode zur Wiederherstellung der Adaptivität von Individuen (siehe Andreas Kruse in diesem Band), so leitet sich hieraus unmittelbar eine Begründung für eine Psychotherapie im sehr hohen Alter ab. Danach muss Psychotherapie ein gesellschaftlich-kulturelles Werkzeug für Individuen in allen Altersphasen sein, inklusive im sehr hohen Alter.
Dass die Versorgungsrealität nun diametral im Widerspruch zu dieser normativen Ableitung steht, müssen wir den Leser/inn/en der Psychotherapie im Alter wohl nicht mehr nahe bringen. In repräsentativen Krankenkassenstatistiken kommt Psychotherapie für Menschen über 80 Jahre als tatsächliche Versorgungsleistung nicht mehr vor. Auch wenn uns diese Daten natürlich bekannt sind, wurde uns in den letzten Monaten aber noch einmal die Unterversorgung – oder besser Nicht-Versorgung – besonders drastisch bewusst, als wir (E.-M.K.) uns mit der psychotherapeutischen Versorgung in Pflegeheimen beschäftigt haben. Wir haben mit einer ganzen Reihe von Pflegedienstleiter/inn/en großer Pflegeheime gesprochen, die uns ohne Ausnahme bestätigt haben: Ihnen ist kein einziger Bewohner bekannt, der psychotherapeutisch behandelt wird – geschweige denn, dass eine Psychotherapeutin jemals einen Fuß über die Schwelle des Heims gesetzt hätte.
Die Situation in den Pflegeheimen macht also in besonders krasser Form deutlich, dass der programmatischen Forderung Baltes’ praktische Konsequenzen folgen sollten. Handelt es sich dabei auch um eine politische bzw. gesundheitspolitische Forderung, so stellt sich uns, den Psychotherapeuten und Psychotherapeutinnen sogleich das nächste Problem: Wie kann ein psychotherapeutisches Angebot für Hochaltrige aussehen, wie muss es gestaltet werden, wie kann eine psychotherapeutische Beziehung entwickelt werden? Dass Psychotherapie bei Hochaltrigen mehr modifiziert werden muss als bei den jüngeren Alten, dürfte unbestritten sein. Die eingangs geschilderte Vignette lässt erkennen, auf welche Schwierigkeiten man unter Umständen stoßen kann. Solchen Fragen widmet sich der vorliegende Band. Wir haben uns bemüht, Autorinnen und Autoren zu gewinnen, die über Erfahrungen in der psychotherapeutischen Arbeit mit Hochaltrigen verfügen und die innovative Ansätze vorlegen, die diese Arbeit nicht nur als möglich, sondern als sinnvoll und erfolgversprechend erscheinen lassen. In diesem Sinne möchten wir mit diesem Themenband einen Beitrag zu einer konkret-utopischen Auseinandersetzung leisten.