Kein Märchen - 25 Jahre Symposium Psychoanalyse und Altern

Johannes Kipp, der Mitbegründer, Mitherausgeber und Schriftleiter dieser Zeitschrift, starb während der Arbeiten an diesem Heft, die er, trotz seiner schweren Erkrankung, mit Engagement und der ihm eigenen Sorgfalt bis kurz vor seinem Tod fortführte. Aus diesem traurigen Anlass stehen die Anzeige und der Nachruf der Herausgeberinnen und Herausgeber in diesem Heft an erster Stelle. Eine ausführliche Würdigung seiner Person und seines Wirkens wird folgen. Das macht es etwas leichter, hier das Thema zu wechseln und auf Märchen, das vermeintlich »Märchenhafte Alter« und das 25-jährige Bestehen der Kassler Symposien zu »Psychoanalyse und Altern« zu kommen.
   »Märchenhaftes Alter« lautete der Titel des 25. Symposiums 2013, dessen Beiträge hier im Zentrum stehen. 25 Jahre sind vielleicht noch kein märchenhaftes Alter, aber ein Vierteljahrhundert ist doch eine erstaunliche Lebensdauer für ein Symposium, dessen Altersthematik bei seinem Start im Jahre 1989 noch keineswegs »in der Mitte der Gesellschaft« angekommen war. Umso mehr lag den Gründungmitgliedern der Arbeitsgruppe um Hartmut Radebold daran, aus der psychoanalytischen Perspektive und mit interdisziplinären Beiträgen das Wissen um das Alter und das Altern zu erweitern und Psychotherapie im Rahmen angemessener Versorgungsstrukturen gerade auch für diesen Lebensabschnitt zu fördern, denn ältere und alte Menschen gehörten damals, noch mehr als heute, zu den Stiefkindern der psychotherapeutischen Versorgung.
   Das Alter ist kein Märchen. Für viele ist es mit einer Vielzahl an Einschränkungen, Verlusten, Behinderungen, Ängsten und Kränkungen verbunden. Es ist belegt, dass Psychotherapie auch im Alter hilft, diese Belastungen zu bewältigen. Gerade die jüngeren Alten nehmen inzwischen zunehmend psychotherapeutische Hilfen in Anspruch und finden sie auch – eine Entwicklung, zu der die Kasseler Symposien sicher beigetragen haben. Für über 75-Jährige ist der Weg zum Psychotherapeuten aber oft zu weit, nicht mehr gangbar oder sie treffen auf Unwissenheit und Vorbehalte bei PsychotherapeutInnen. Dabei sind es gerade diese Menschen, die in der Folge von Erkrankungen und Verlusten mit Gefühlen konfrontiert sind, die bereits in ihrer Kindheit eine entscheidende Rolle gespielt haben. Soweit sie traumatische Erfahrungen von Krieg und Gewalt, dem Tod naher Menschen, von Flucht, Vertreibung und Vergewaltigung in der Kindheit machten oder erziehungsbedingte Gewalt und Beziehungstraumen erfuhren, haben diese Spuren hinterlassen, die durch die Veränderungen und Erfahrungen des hohen Alters wiederbelebt werden können. »Hier kann Psychotherapie helfen, wird oftmals aber aus Scham nicht gesucht, aber auch immer noch zu selten in einer für den alten Menschen erreichbaren Form angeboten«, so Hartmut Radebold, der Nestor der deutschen Alterspsychotherapie, Begründer der Arbeitsgruppe »Psychoanalyse und Altern« sowie des gleichnamigen Symposiums in Kassel. Hartmut Radebold und Johannes Kipp bildeten die Achse für die Initiierung und Durchführung dieser Kasseler Symposien, die Foren der Information, Diskussion und Fortbildung in einem damals noch brachliegenden Feld sein wollten.
   Heute werden diese jährlichen Symposien von der Arbeitsgruppe »Psychoanalyse und Altern« in Zusammenarbeit mit dem Netzwerk Psychoanalyse u. Beratung der Universität Kassel, dem Alexander-Mitscherlich-Institut für Psychoanalyse und Psychotherapie Kassel e.V. und dem Klinikum Kassel – Zentrum für Seelische Gesundheit veranstaltet. Ein kurzer Rückblick auf ausgewählte Themen in den letzten 25 Jahren lässt die Bandbreite erkennen: 1989 erfolgte der Auftakt mit »Innerpsychische Bedeutung und Verarbeitung von Verlusten während des Alterns«; im darauf folgenden Jahr (sowie 2001) wurden »Übertragung« und »Gegenübertragung« behandelt, im dritten Jahr »Entwicklungsprozesse« in den Blick genommen. 1993 und 1994 ging es um Entwicklungen und Identitäten alternder Frauen und Männer, später um den Körper (2008), »Liebe, Lust und andere Leidenschaften« (2004), aber auch um »Zorn und Neid« (2009), »Sterben und Tod« (2007). Immer wieder waren die Ziele und Möglichkeiten der Psychotherapie Thema (2000, 2006, 2011) und die Folgen und transgenerationellen Nachwirkungen von Verfolgung, Krieg und Vertreibung (2002, 2003, 2010); zuletzt ging es um »Heimat, Sehnsucht, heile Welt?« (2012).
   Ein von den TeilnehmerInnen sehr geschätztes Markenzeichen der Symposien sind die sich jeweils an die Vorträge anschließenden langen Diskussionszeiten im Plenum, die einen intensiven wissenschaftlichen Austausch und die Berücksichtigung persönlicher Erfahrungen ermöglichen, sodass sich das jeweilige Thema auch im Diskussionsprozess des Plenums entfalten kann. Hinzu kommen natürlich Gespräche und Begegnungen in den Pausen und beim traditionellen Abendessen, die kollegiale Kontakte und Kooperationen stiften helfen. Hier trug die Atmosphäre in der »Orangerie« des Kasseler Schlosses samt der kleinkünsterischen Auftritte der »Brüder Grimm« in den letzten Jahren in der Tat etwas Märchenhaftes bei.
   Märchen sind assoziativ auf vielfältige Weise mit dem Alter(n) verbunden. Vorfahren der Themen in den Grimmschen Märchenbüchern und in Tausendundeine Nacht etwa finden sich im Gilgamesch-Epos, der Bibel und der Odyssee, während die Spuren mündlicher Überlieferungen nur in der neueren Zeit zu fassen sind. »Unsere« Märchen sind ganz entschieden von den Sammlern und Übersetzern und deren Quellen im 18. und 19. Jahrhundert geprägt, ergänzt und mitgestaltet worden: Literarisch salonfähig wurde das Märchen zunächst durch die Veröffentlichung der Feenmärchen Contes de feés 1697 durch Charles Perrault. Er trug Märchen für Erwachsene zusammen, Heiratsgeschichten, bei denen die Alten eher Zaungäste sind. In diese Welt entführt uns der Beitrag von Hans-Heino Ewers in diesem Heft. Antoine Galland, der in Konstantinopel lebte, übersetzte Les mille et une nuit (Tausendundeine Nacht) aus dem Arabischen; die Bände kamen 1704–1717 heraus und waren ebenfalls für Erwachsene Leser gedacht (Maar 2014).
   Beim Stichwort »Märchen« tauchen assoziativ gegensätzliche Bilder von Älteren auf: beispielsweise böse alte Hexen, die Kinder fressen könnten, oder aber Großmütter, Großtanten und andere weise Frauen, die einer sie umringenden Kinderschar Märchen erzählen, sie mit Geschichten nähren. Dieses letztere Bild begründeten im Wesentlichen die Brüder Grimm mit ihrer erstmals 1812 veröffentlichten Sammlung der Kinder- und Hausmärchen. Sie entschärften archaische Themen und Konflikte in den Märchenstoffen und trugen so zur Abwehr von Grausamkeit und Eros bei. Sie machten zum Beispiel aus bösen Müttern böse Stiefmütter, verharmlosten Rotkäppchens Eros im Vergleich zur französischen Vorlage und zensierten Rapunzels Leidenschaft. Dennoch konnten sie die Spuren des Eros, von Begehren und Verführung ebenso wenig tilgen wie die der Grausamkeiten und Hungersnöte des 30-jährigen Kriegs und damit verbundener Kindstötungen und kannibalistischer Durchbrüche – zum Beispiel in »Hänsel und Gretel« (Maar 2014). Dass der Übergang zwischen den Generationen keineswegs immer friedlich und zivilisiert vonstatten geht, zeigen mächtige, böse, aber auch vitale Alte, die das Zepter keineswegs freiwillig aus der Hand geben oder sich mit den Jungen einen Kampf auf Leben und Tod liefern. Die fördernden Alten im Märchen fallen zunächst weniger auf, und die gewitzten – wie »Die Bremer Stadtmusikanten« – sind eine rare Spezies; ihnen allen widmet sich Brigitte Boothe in ihrem Beitrag. Märchen und Überlieferungen leben in literarischen Arbeiten fort und legen dort zeitgenössische Gewänder an. Die im biblischen Urtext noch unbekannten Konflikte und Haltungen des hochaltrigen Mose, der in einem späteren literarischen Text mit Gott um die Unsterblichkeit am Lebensende ringt, untersucht Doreen Röseler in ihrem Beitrag.
   Märchen können kollektive Tabus ausdrücken, und Kunstmärchen – wie etwa Hans Christian Andersens Kleine Seejungfrau – geben dem Autor Gelegenheit, seine damals unaussprechliche Liebe zu Männern zu gestalten (Maar 2014). Märchenstoffe inspirier(t)en nicht nur Literatur und Theater, sondern auch die zeitgenössische Filmindustrie. Sie sind die einzige literarisch Gattung, die über die Generationsgrenzen hinweg ihr Publikum finden. Sie vermitteln uns das Gefühl, mit Ursprünglichem, der Vergangenheit, den Vorfahren, einer kulturellen Überlieferung verbunden zu sein. Sie erinnern uns an die Kindheit, in der wir sie erstmals hörten und mitfieberten, unsere Heldinnen, Helden und Lieblingsmärchen wählten, über die Grausamkeit erschraken und die gerechte Strafe für die Bösen genossen. Harry Potter wird keineswegs nur von Kindern gelesen, und der Schelmenroman Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand von Jonas Jonasson war im Jahr seines Erscheinens auf dem deutschen Markt das meistverkaufte Buch – der alte Held in seiner märchenhaften Allmacht hatte Hochkonjunktur. Das menschliche Bedürfnis nach fabelhaften Geschichten ist unsterblich – auch im Alter. Warum Alte Märchen brauchen und warum und wie sie selbst, zum Beispiel in Träumen, ihre eigenen »Märchen« kreieren, beschäftigt Helmut Luft in seinem Beitrag.
   Das Alter ist kein Märchen, aber den potenziellen Gewinnen an Lebenserfahrung, Gelassenheit, Überblick und Weisheit stehen Bedrängnisse gegenüber, die geeignet sind, nach ausgleichender Leichtigkeit zu suchen oder schützende Idealisierungen, Verharmlosungen, ja: Verleugnungen und Derealiserungen auf den Plan zu rufen, wie Bertram von der Stein in seiner Sichtung von Alters-Ratgeberliteratur zeigt. Sich den inneren und äußeren Realitäten des Alterns zu stellen, ist dagegen für die KlinikerInnen aller Altersgruppen eine bleibende Herausforderung mit zunächst offenem Ende. Seine Erfahrungen mit den Beendigungen und Veränderungspotenzialen in seinen Psychotherapien mit Älteren sowie bleibende Fragen diskutiert Eike Hinze in seinem Text.
   Zwei der Symposiumsbeiträge können erst zu einem späteren Zeitpunkt erscheinen: Die Arbeit von Eva-Marie Kessler über ein Forschungsprojekt aufsuchender Psychotherapie im Altersheim sowie das Interview mit Hildegard und Hartmut Radebold, das Christiane Schrader und Reinhard Lindner führten. Dafür beleuchten zwei freie, empirische Arbeiten – von Meinolf Peters und Eva-Marie Kessler – Themen in der Alterspsychotherapie und inwieweit letztere in der psychotherapeutischen Ausbildung berücksichtigt wird.
   Im Märchen ist Übernatürliches normal, magisches Denken herrscht vor und nach der Angstlust siegt am Ende zumeist die gelungene Wunscherfüllung. Dass Märchen das stellvertretende Ausleben von archaischen und tabuisierten Triebwünschen und Fantasien ermöglichen und deren Drastik zugleich mildern, war der Kern der frühen psychoanalytischen Märcheninterpretation, die sich auf die Inhalte und die damalige psychoanalytische Theorie stützte (s. z.B. Federn 1926). Reinhard Lindner stellt in seinem einführenden Beitrag dar, wie sich diese Deutungen methodisch und inhaltlich weiterentwickelt haben. Märchen bleiben unsterblich, weil sie »von den Urdingen und Tabus erzählen, die den Menschen schon immer auf der Seele lagen … weil sie uns entlasten, indem sie das Unaussprechliche in Geschichten verstecken … gleichzeitig schockieren und schützen« (Maar 2014, 75). Sie lassen uns an den an sich unaussprechlichen menschlichen Urphantasien (Freud) über Verführung, Sexualität, Zeugung, Geburt, Urszene, Generationalität u.a. teilhaben, die darauf verweisen, dass es im Individuum psychische Strukturen gibt, die nicht auf der Zufälligkeit seiner kulturellen, historischen und sozialen Erfahrungen beruhen, wohl aber durch diese geprägt werden. Märchen verhandeln und verwandeln Traumen und die »facts of life« (Money-Kyrle 1971) – insbesondere die Anerkennung von Abhängigkeit, Zeitbegrenzung und Tod. Sie entlasten von rationalem Denken, eröffnen Frei- und Übergangsräume für Fantasien, die in der Psychotherapie, auch mit Älteren, genutzt werden können. Wie Träume stellen sie Wünsche als erfüllt dar und schrecken vor Alpträumen nicht zurück – und sie sind auch deshalb unsterblich, weil sie, wie Träume, nie zu Ende gedacht sind.

Literatur

Federn P (1926) Märchen – Mythos – Urgeschichte. In: Federn P, Meng H (Hg) Das Psychoanalytische Volksbuch. Stuttgart, Berlin (Hippokrates-Verlag), 499–517.
Maar M (2014) Hexengewisper. Warum Märchen unsterblich sind. 2. Auflage. Berlin (Barenberg).
Money-Kyrle R (1971) The Aim of Psychoanalysis. Int J Psychoanal 52: 103–106.

Christiane Schrader: Editorial zum Themenheft
“Märchenhaftes Altern”