11. Jahrgang 2014,
Heft 2: Eine Institution stellt sich vor
Roscha Schmidt:
Ethische Fallbesprechungen in Pflegeheimen
Soll eine Magensonde entfernt werden, obwohl die Bewohnerin oral nichts mehr zu sich nehmen kann? Frau K. erhält seit einem Jahr durch eine Sonde Nahrung, Flüssigkeit und Medikamente. Sie ist nach einer Hirnblutung nicht mehr ansprechbar. Da Frau K. in ihrer Patientenverfügung angegeben hatte, dass sie keine lebensverlängernden Maßnahmen bekommen, aber nicht verdursten möchte, wurde eine Sonde gelegt. Arzt und Sohn bringen das Entfernen der Sonde ins Gespräch. Da Frau K. dann nichts zu sich nehmen kann, würde sie nach und nach gebrechlicher werden und schließlich sterben.
In der Altenhilfe gibt es sehr häufig Situationen, in denen eine Entscheidung über einen Behandlungsabbruch oder die Vermeidung einer Krankenhauseinweisung ansteht. Wer darf jedoch darüber entscheiden? Wann darf eine Entscheidung gesucht werden? Welcher Maßstab soll angelegt werden?
2009 wandte sich Herr Dr. Michael Braun, Arzt im Ruhestand und ehemaliger Chefarzt eines katholischen Krankenhauses sowie einer Palliativstation, an uns, weil er sein Wissen und seine Erfahrung im Umgang mit ethischen Fragen anderen zugute kommen lassen wollte. Sein Wunsch war für uns ein großes Geschenk!
So begann er in einzelnen unserer Einrichtungen mit ethischen Fallbesprechungen. 2011 schulte er alle Pflegedienstleitungen und Qualitätsbeauftragten in der Durchführung einer strukturierten Fallbesprechung nach dem Nimweger Modell. In akuten Fällen steht er auch telefonisch beratend zur Seite.
Anhand des Nimweger Modells wird eine Problematik, bezogen auf die vier ethischen Dimensionen »Nutzen mehren, Schaden mindern, Autonomie sichern, Gerechtigkeit wahren«, umfassend betrachtet und eine für alle Beteiligten zufriedenstellende Antwort beziehungsweise Lösung gesucht. Dabei wird eine ganzheitliche Sicht auf Krankheit, Pflege, soziale Struktur und psychisch-spirituellen Bedürfnisse gerichtet. Es werden die Fragen gestellt, was rechtlich zulässig ist, was von der Krankheit her möglich ist, nützlich oder schädlich sein könnte und von der Bewohnerin oder dem Bewohner akzeptiert oder abgelehnt würde. Zusätzlich wird eine Vereinbarung getroffen, was im Notfall getan werden soll.
Ethische Fallberatungen müssen immer gemeinsam mit Ärzten, den Angehörigen, den Pflege- und Betreuungskräften, der Seelsorge sowie, falls möglich, mit der oder dem Betroffenen durchgeführt werden. Die Lösung muss von allen, die daran mitwirken, mitgetragen werden können.
Wie wurde nun die anfangs geschilderte Situation entschieden? Herr Dr. Braun stand uns aufgrund der großen räumlichen Entfernung beratend telefonisch zur Seite. In einer mit allen Beteiligten (Sohn, Hausarzt, Home-care-Arzt, Pflegekräften, Seelsorgerin des Hauses, Dr. Braun) durchgeführten Beratung wurde entschieden, dass die Medikamente und Ernährung abgesetzt und die Flüssigkeitsmenge schrittweise auf 500 ml pro Tag reduziert werden sollten. Nach ein bis zwei Tagen des Absetzens wurde Frau K. sehr wach, nahm erstmals passierte Kost zu sich und äußerte sogar ab und zu Hunger. Sie nahm geringe Mengen an. Ihre Angehörigen, die Seelsorgerin, der Hausarzt und die Pflege- und Betreuungskräfte gaben ihr Zuspruch. Vier Wochen später schied sie begleitet und friedlich aus dem Leben. Alle Beteiligten hatten die Erfahrung machen dürfen, Sorge und Verantwortung mit anderen teilen zu können. Das gemeinsame Ringen um das Bestmögliche gab allen Halt.
Handlungsmaximen des Nimwegener Modells
Nutzen mehren
Schaden mindern
Autonomie unterstützen
Gerechtigkeit wahren
Struktur der ethischen Fallberatungen in der Caritas Altenhilfe
Ethische Frage
Zusammentragen folgender Fakten
- Medizinische Dimension
- Pflegedimension
- Lebensanschauliche und Soziale Dimension
- Organisatorische, ökonomische und juristische DimensionBewertung
– Wohltun/Schaden vermeiden (aus der Sicht der Pflegenden und Betreuenden)
– Autonomie der Bewohnerin/des Bewohners
– Gerechtigkeit
– Blick auf das Team/die Beteiligten/die Institution/CaritasVotum
– Prüfen, was sich aus dem Votum für alle Beteiligten ergibt
– Miteinander festlegen, welche konkreten Verpflichtungen die Teilnehmer/innen der Fallbesprechung eingehen