Simon Forstmeier: Editorial zum Themenheft “Affekte”

Emotionen und Emotionsregulation in der Alterspsychotherapie

Emotionen spielen in der Psychotherapie im Alter, wie auch in anderen Lebensphasen, eine sehr zentrale Rolle. Ältere Patienten erleben Ängste – vor dem Sterben, dem Fallen oder der Einsamkeit. Sie empfinden Trauer nach dem Verlust einer nahen Person und Niedergeschlagenheit beispielsweise angesichts unerfüllter Lebensträume. Scham über den alternden Körper, biografische Verläufe oder Armut sind nicht selten. Auch Ärger und Gekränktsein wird von älteren Patienten immer wieder thematisiert.
   Bei älteren Menschen ist aber auch ein beachtliches Potenzial an positiver Emotionalität zu beobachten – ein Phänomen, das in der Gerontopsychologie »Wohlbefindensparadox« genannt wird. Trotz zahlreicher Abbauprozesse im Körper, im Denken und im sozialen Netzwerk bleibt das Wohlbefinden relativ stabil. Emotionen wie Stolz, Freude, Zufriedenheit und Dankbarkeit gehören zum Erfahrungsschatz der meisten älteren Menschen.
   Die Psychotherapie hat seit jeher als Ziel, in Interaktion mit dem Patienten dessen Emotionen zu klären, negative Emotionen zu akzeptieren und/oder zu bewältigen sowie positive Emotionen zu stärken – und das weitgehend unabhängig vom therapeutischen Hintergrund. Die Begrifflichkeit ist je nach Therapiemodell unterschiedlich: In der Psychoanalyse wird üblicherweise der Begriff Affekt verwendet, in der Emotionspsychologie, einer Disziplin der empirischen Psychologie, eher der Begriff Emotion, der beispielsweise auch in die Verhaltenstherapie aufgenommen wurde. Heute werden die Begriffe Affekt, Emotion und Gefühl weitgehend synonym verwendet, wobei Affekt auch als Überbegriff für Emotion (ein kürzerer, intensiver Affekt) und Stimmung (ein länger andauernder Affekt mit geringerer Intensität) benutzt wird.
   Die Emotionen regulieren zu können, ist eine der grundlegenden Funktionen des psychischen Systems, ein wichtiger Aspekt der Selbstregulation. Einfluss auf das emotionale Erleben zu nehmen, ist auch eine wichtige Errungenschaft innerhalb der menschlichen Entwicklung. Kleinkinder sind in ihrer Emotionsregulation von der elterlichen Fürsorge abhängig, die Fähigkeit zur Selbstregulation nimmt in der Kindheit zu, und einige Forschungsergebnisse weisen darauf hin, dass ältere Menschen Experten darin sind (Isaacowitz et al. 2003). Emotionsregulation wird allerdings von Person zu Person unterschiedlich effizient eingesetzt; insbesondere Patienten mit psychischen Störungen weisen mangelhafte Emotionsregulationsstrategien auf. Daher ist eine Verbesserung der Emotionsregulation immer auch ein implizites Ziel einer Psychotherapie.
   In diesem Heft werden Forschungs- und Erfahrungsstränge aus der Emotionspsychologie, der Gerontopsychologie und der Psychotherapie zusammengeführt. Diese drei Perspektiven werden in den einzelnen Artikeln unterschiedlich gewichtet. In Christina Röckes Übersichtsartikel wird die gerontopsychologische Forschung zu Emotionen und Emotionsregulation zusammengefasst, der Schwerpunkt liegt auf der sonst wenig beachteten Affektvariabilität im Alter. Susanne Döll-Hentschker fokussiert die psychotherapeutische Perspektive und beschreibt die Rolle der Emotion und Emotionsregulation in der Psychoanalyse, während Meinolf Peters Überlegungen dazu anstellt, wie die sich im Alter verändernde Affektregulation in die Psychotherapie aufgenommen werden kann. Ich bin mir sicher, dass selbst erfahrene Alterspsychotherapeuten in diesen grundlagenorientierten Artikeln neue Aspekte zu diesem komplexen Thema kennenlernen werden, und ich wünsche uns allen, dass dieses Wissen uns im Umgang mit älteren Patienten mit einem noch größeren Verständnis erfüllen wird.
   In den fallbezogenen Artikeln stehen einzelne Emotionen oder spezifische Interventionen im Vordergrund. Es geht um Trauer und die Klärung emotionaler Ambivalenz, Scham, Kränkungserlebnisse und Verzeihensinterventionen sowie um das personzentrierte Beziehungsangebot als zentralen Wirkfaktor bei der Arbeit mit Emotionen. Gerade diese praxisorientierten Fallbeschreibungen können eine Fülle von Anregungen für den Umgang mit Emotionen in der eigenen alterspsychotherapeutischen Praxis liefern.
   Das Thema Affekte und Emotionen in der Alterspsychotherapie werden wir in diesem Heft nicht abschließend erörtern können. Es ist das Anliegen dieses Heftes, die Leserschaft über den aktuellen Stand der relevanten Forschung zu informieren und unterschiedliche emotionszentrierte Ansätze für die eigene Praxis anzubieten.

Literatur

Isaacowitz DM, Vaillant GE, Seligman MEP (2003) Strengths and satisfaction across the adult lifespan. International Journal of Aging and Human Development 57: 181–201.