Emma (91) erinnert sich noch genau an den Tag der Ankunft von Willis (85) im Altenheim. »Hier, wo es nichts mehr für sie zu tun gab, hatten sie alle Zeit der Welt. Beide entdeckten eine neue Lust an der Zärtlichkeit. ›Am liebsten küssten wir uns draußen‹, lacht Emma ... ›Wenn wir mal in ein Feld reingegangen sind, wenn man so frei war, wissen Sie, das war schön‹ ... « (Sies 1995, 58). »Dass auch alte Menschen Sex miteinander haben, dürfte sich inzwischen überall herumgesprochen haben. Den Beteiligten ist das ja seit langem bekannt, doch neuerdings haben auch aufgeregte Forscher und Sexualwissenschaftler davon Kunde erhalten, z. B. die Mitarbeiter des Kinsey-Sexualforschungs- Instituts oder auch jene zahlreichen anderen Wissbegierigen, die Altenheime heimsuchen, sich alten Männern und Frauen in den Weg stellen, ihnen Mikrophone unter die Nase halten und dreist fragen: ›Tun Sie es noch? Wie oft? Mit welchen Ergebnissen? Sind Ihre Kinder damit einverstanden?‹ ... Die nicht-alte allgemeine Öffentlichkeit steht solchen Offenbarungen mit gemischten Gefühlen gegenüber. Da ihre Mitglieder ... selbst einmal alt sein werden, finden sie die Neuigkeit einerseits ermutigend. Auf der anderen Seite fühlen sich viele dadurch seltsamerweise peinlich berührt ... Junge Leute neigen zu der Ansicht, dass die Sexualität ihr alleiniges Privileg sei. Die Vorstellung alter, faltiger Körper, die in sexueller Ekstase vereinigt sind, hat für sie etwas Beunruhigendes. Irgendwie scheint eine solche Vorstellung der ›richtigen‹ Ordnung der Dinge zu widersprechen: Richtig sind leichte Gartenarbeit für Mami und Golf für Papi, und die Feuer jugendlicher Glut sind sorgfältig unter Verschluss zu halten.« Aber, so fährt Page Smith, Historiker und langjähriger Kolumnist des San Francisco Chronicle, leicht triumphierend fort: »Ausgedehnte Studien ... haben so gut wie zweifelsfrei ergeben, dass Sex im Alter sogar besser ist, als in den frühen Jahren ... befriedigender, zeitlich ausgedehnter und erfolgreicher hinsichtlich des beiderseitigen Orgasmus« (Smith 1997, 53f.). Auch wenn wir insofern zustimmen, als es heute vermutlich mehr ältere und alte Menschen denn je gibt, die Dank der eigenen körperlichen und seelischen Gesundheit und Lebens- und Liebeserfahrung, Erotik und Sexualität auch im Alter genießen, gilt diese Sicht doch nur für einen Teil der heute Älteren und Alten. Andere fühlen sich endlich befreit von drängendem Verlangen oder erduldeten Pflichtübungen oder sie vermissen liebevolle Zuwendung, Berührung und Zärtlichkeit. Die Wechselfälle von Liebe, Lust und Leidenschaft m Alter sind wissenschaftlich keineswegs schon ausgeleuchtet, sondern es gibt viele offene Fragen: Wie gestalten Paare ihre Lust und Liebeswünsche in Ehen und Lebensgemeinschaften, die heute im Schnitt doppelt so lange dauern wie noch vor hundert Jahren? Was ist mit lange Zeit Alleinstehenden oder anderen, die ihre Partnerin / ihren Partner durch späte Trennung, Scheidung oder Tod verloren haben? Lieben Männer und Frauen, Hetero- und Homosexuelle im Alter unterschiedlich? Welche Wandlungen sind möglich, wenn die sexuellen Aktivitäten nachlassen, während Phantasien, Wünsche und Erinnerungen lebendig bleiben? Es gab und gibt viele Formen der Umwandlung von sexuellem Begehren in Liebe und Zärtlichkeit oder in symbolische Formen der Befriedigung wie Sport, Sammeln oder Kunstgenuss, die durchaus leidenschaftlich und erotisch getönt betrieben werden können. Aber fest steht, dass erotische Phantasien und libidinöse Wünsche lebenslang fortbestehen. Klinische Erfahrungen und experimentelle Arbeiten legen nahe (z. B. Rohde-Dachser 2001), dass sie selbst angesichts des Todes die unbewusste Basis für Unsterblichkeitsphantasien bilden, die auf die Vereinigung mit einem geliebten Wesen zentriert sind, das einen erwartet oder umfängt, um das Undenkbare Nichts des Todes abzuwehren. Es ist aber nicht selbstverständlich, dass über Liebe und sexuelle und erotische Wünsche und Hindernisse im Alter gesprochen wird. Das Tabu wird dabei keineswegs nur von den Alten aufrechterhalten, die – so zeigen bisherige Erfahrungen – speziell an sie gerichtete Gesprächsangebote im medizinischen und psychosozialen Feld gerne annehmen, jedoch selten aktiv einfordern. Hemmungen, Ängste, Nicht-Wissen und Sprachlosigkeit bestehen auch bei den Jüngeren, die in helfenden Berufen zumeist nicht auf dieses Thema und die damit verbundene Beziehungsdynamik vorbereitet sind. Deshalb sind sie in ihrem beruflichen Feld oft ungefiltert mit ihrer eigenen Sexualität und den damit verbundenen, vielleicht erregenden Phantasien konfrontiert, die Schuld- und Schamgefühle wecken oder auch Wut und Strafimpulse hervorrufen können. Angesichts derart bewegender, oft nur halb bewusster Gefühlsmischungen einigen sich Gesprächspartner/innen oft unbewusst und rasch, die konventionelle Grenze zum intimen Gespräch doch nicht zu überschreiten, sondern das Thema als »nicht dazugehörig« oder »nicht so wichtig« zu vermeiden oder die Problematik, »wenn Sie sonst keinen Sorgen haben«, zu bagatellisieren. So sparen Ärzte/innen das Thema der Liebe und Sexualität zumeist in der Anamnese aus oder klären über diesbezügliche Nebenwirkungen von Medikamenten und anderen Behandlungen nur unzureichend auf. Pflegekräfte in Krankenhäusern und Altenheimen werden mit Wünschen nach Zärtlichkeit konfrontiert, die besonders dann verunsichern, wenn sie mit sexueller Zudringlichkeit einhergehen. Auf Berater/innen kommen künftig vermutlich mehr Anfragen in der Ehe-, Partnerschafts- und Sexualberatung Älterer zu, wenn die Nach-68er-Generationen in die Jahre kommen. Für Psychotherapeuten/ innen geht es darum zu wissen, wie sich Liebesbeziehungen und Triebschicksale im Alter entwickeln, wie sich libidinöse Wünsche Älterer im therapeutischen Prozess darstellen und wie sie sich im Übertragungs-Gegenübertragungsdialog zur Sprache bringen lassen. Einige dieser Fragen werden in den nachfolgenden Beiträgen behandelt. Es sind die überarbeiteten Vorträge des 16. Kasseler Symposiums Psychoanalyse und Altern, mit dem Thema »Liebe, Lust und andere Leidenschaften im Alter – vergänglich, wandelbar, zeitlos?«, das im Dezember 2004 stattfand. Christiane Schrader erläutert einführend zentrale psychoanalytische Aspekte der Triebentwicklung im Alter und weist auf die historisch-gesellschaftlichen Veränderungen der letzten hundert Jahre hin. Aus der Perspektive des eigenen hohen Alters betrachtet Helmut Luft den Wandel, die Vergänglichkeit und die Zeitlosigkeit von Lust und Liebe. Thomas Bucher informiert über Ergebnisse der empirischen Sozialforschung zur Varianz gelebter und gewünschter Sexualität im Alter und formuliert daraus Empfehlungen für die Praxis. Vielen der Beiträge liegen klinische Erfahrungen zugrunde. So schildert Burkhard Brosig die Behandlung einer erstmals im Alter an Neurodermitis erkrankten Frau, die im psychoanalytischen Dialog Zugang zu ihrer abgewehrten Sehnsucht fand. Astrid Riehl-Emde erläutert die Dynamik und die Entwicklungsaufgaben am Beispiel eines alternden Paares und demonstriert Möglichkeiten und Grenzen systemischer Interventionen. Elisabeth Imhorst zeigt eine spezifische, historisch begünstigte Überich-Problematik auf, die bei ihrem Patienten zur verinnerlichten Angst vor seiner Homosexualität und schließlich zu einer Depression führte. Dirk Gustson berichtet über eine sexualmedizinische Sprechstunde für Ältere, die in einer psychosomatischen Rehabilitationsklinik integriert ist. Schließlich sichten Hildegard und Hartmut Radebold die zeitgenössische Literatur und finden zahlreiche Beispiele für Lust und Last mit der Liebe im Alter. Der Vortrag von Robert Bolz (»Sag nie, ich bin zu alt dafür« – Paar- und Sexualberatung Älterer) gründet in seiner langjährigen Tätigkeit bei pro familia. Dieser Beitrag wird in einem späteren PiA-Heft zum Thema »Beratung« erscheinen. Christa Rohde-Dachser sprach »Über die Unkündbarkeit der Verheißung. Liebe und Sexualität im Spiegel von Unsterblichkeitsphantasien «. Der Text ist andernorts zur Veröffentlichung vorgesehen. Wir würden uns freuen, wenn die Beiträge, die auf der Tagung zu angeregten Diskussionen führten, auch bei Ihnen neue Lust an der fachlichen Auseinandersetzung mit der Liebe im Alter – und in anderen Lebensabschnitten – wecken. Literatur Rohde-Dachser C (2001) ›Wer weiß, wo ich da ankomme, wenn ich da hingehe.‹ Über Todes- und Jenseitsvorstellungen von Männern und Frauen – einen psychoanalytische Studie. Forschung Frankfurt 3 (Johann Wolfgang Goethe Universität). Rohde-Dachser C (2004) Über die Unkündbarkeit der Verheißung. Liebe und Sexualität im Spiegel von Unsterblichkeitsphantasien. Vortrag anlässlich des 16. Kasseler Symposiums, Veröffentlichung in Vorbereitung. Sies C (1995) Beziehungsveränderungen der Frau im Alter. In: Schlesinger-Kipp G (Hg) Weibliche Identität und Altern. Psychosozial 60:51–59. Smith P (1997) Das Alter ist ein anderes Land. München (Beust).