Astrid Riehl-Emde: Editorial zum Themenheft “Glück und Unglück”

Glück und Unglück

Paul Watzlawicks Anleitung zum Unglücklichsein (1983) entwickelte sich in den 1980er Jahren rasch zum Kultbuch. Mit Folgen: Bis heute ist es viel anregender und witziger, über das Paradoxe der alltäglichen Kommunikation nachzudenken als darüber, wie sich das Glück steigern lässt. Man reibt sich verwundert die Augen, mit welcher Leichtigkeit Watzlawick die unendlich vielen Arten, das eigene Leben unerträglich zu gestalten, beschrieben hat. Wer begreift, was er tun kann, um unglücklich zu werden – so die therapeutische Botschaft –, hat auch einen Schlüssel in der Hand, genau das sein zu lassen, also gar nicht erst den Unglücksgenerator anzuwerfen. Das Streben nach Glück ist dennoch ein Menschheitsthema geblieben, und es wird weiter – mehr und weniger paradox – darüber nachgedacht, wie sich das eigene Glück steigern lässt. Die Glücksforschung boomt mit diversen Disziplinen – neben der philosophischen die physiologische, die psychologische, die ökonomische, die soziologische und andere mehr. Sogar die Hirnforscher versuchen, das Glück – zumindest seine topografischen und biochemischen Grundlagen – dingfest zu machen.
   Weshalb widmet nun Psychotherapie im Alter den großen Fragen von »Glück und Unglück« ein Themenheft? Weil Glückserfahrungen und Glücksdefinitionen altersabhängig sind und sich über die Lebensspanne verändern. Einerseits kann man fragen, ob Glück und Wohlbefinden mit zunehmendem Alter sinken. Ist das Unglück vorprogrammiert? Gehen z.B. gesundheitliche Verschlechterungen regelhaft mit reduziertem Glück und Wohlbefinden einher? Oder ist es viel komplexer und es bleibt sogar im hohen und sehr hohen Alter eine große Heterogenität erhalten? Andererseits: Wäre es möglich, dass das hohe Alter auch neue Glücksmöglichkeiten eröffnet? Glücksmöglichkeiten, von denen jüngere Menschen, die noch nicht »auf fremdem Gebiet« erwacht sind, wie Joan Erikson (1997) es so anschaulich beschrieben hat, noch gar keine Vorstellung haben? Von solchen Möglichkeiten kündet ein Fontane-Zitat, dass der in vielen Printmedien erschienenen Todesanzeige des kürzlich verstorbenen Verlegers Alfred Neven DuMont (1927–2015) vorangestellt war: »Je älter ich werde, desto tiefer empfinde ich: Alles ist Glück und Gnade, das Kleine so gut wie das Große« (Theodor Fontane, 1819–1898, Briefe). Wer aber ist zu solchem Erleben in der Lage? Es wird einem vermutlich nicht geschenkt. Auf diese und weitere Fragen versuchen die Autoren des vorliegenden Hefts Antworten zu geben. Möglicherweise handelt es sich noch nicht immer um allgemein gültige Antworten, aber sehr wohl um ernsthafte Annäherungen an das Thema.
   Kurzum: Durch die gestiegene Lebenserwartung ist gegen Ende des Lebens eine Art weißer Fleck auf der »Glückskarte« entstanden, den es zu erkunden gilt; daran will PiA mitwirken. Der Schwerpunkt dieses Hefts liegt auf Narrativen. Diese erste Annäherung an das Thema »Glück und Unglück« dürfte nicht nur für die berufliche Tätigkeit, sondern auch für die Auseinandersetzung mit dem eigenen Glück und Unglück neue Impulse liefern.

Literatur

Erikson EH (1997) The life cycle completed. Extended version with new chapters on the ninth stage of development by Joan M Erikson. New York (WW Norton & Company).

Watzlawick P (1983) Anleitung zum Unglücklichsein. München (Piper).