Gedenken zum Themenheft
“Arbeit”
Rolf-Peter Warsitz:
Gedenken an Johannes Kipp
Am 17. Mai 2014 ist Johannes Kipp verstorben, der sowohl für die Zeitschrift Psychotherapie im Alter als auch für die Symposien und die Arbeitsgruppe Psychoanalyse und Altern sowie für alle daran Interessierten ein unersetzlicher Freund, Kollege und Lehrer gewesen ist.
Ich möchte mein Gedenken an Johannes Kipp mit ganz persönlichen Erinnerungen an ihn verbinden: Ich lernte Johannes kennen während meiner Tätigkeit als Medizinstudent (PJ) an der Abteilung Psychotherapie bei Manfred Pohlen, dem charismatischen, aber auch heftig umstrittenen Lehrstuhlinhaber für Psychoanalyse an der Universitätsklinik in Marburg, wo Johannes damals als Assistenzarzt schon mehr gegen als mit dem Chef eine psychoanalytisch fundierte und gemeindepsychiatrisch ausgerichtete »Bürgerinitiative« zur Betreuung psychisch Kranker aufbaute. Im Jahr 1978, bei seinem Wechsel nach Kassel als Leiter der damals eher anthroposophisch ausgerichteten Privatklinik für Psychiatrie (Ludwig-Noll-Krankenhaus), nahm Johannes mich dann als zivildienstleistenden Arzt mit, und ich wurde von Anfang an in die Entwicklung und den Ausbau seiner Klinik einbezogen. Er konzipierte damals einen gemeindepsychologischen und psychoanalytisch-milieutherapeutisch ausgerichteten Ansatz der sozialpsychiatrischen Versorgung, der ganz stark von einer Gruppe hochmotivierter Mitarbeiter lebte, die dieses Konzept über viele Jahre gemeinsam mit Johannes Kipp entwickelten.
Das war so typisch für ihn: Als Schwabe agierte er unermüdlich wie ein Häuslebauer, der stetig ein ums andere weitere »Hüttchen, Ställchen und Äcker« dem »Mutterhaus« hinzufügte, zuletzt eine große psychosomatische Abteilung leitete und damit kräftig auf Mitarbeiter – resp. »Nachbarschaftshilfe« – setzen konnte. Johannes Kipp hat auch mich in dieser Zeit in vielen Bereichen sehr gefördert – und ich erwähne das, weil es so typisch für ihn als klinischer Lehrer und Chef war: Er förderte seine Mitarbeiter bedingungslos in den Bereichen, in denen sie selbst, nicht nur sein Klinik- und Chefinteresse, es wünschten und brauchten. Gleichwohl – auch das darf erwähnt werden – forderte er seine Mitarbeiter wie sich selbst zu 100%, und er schaffte es, dass man sich mit ihm, seinem sozialpsychiatrischen »Ichideal« und seiner Einrichtung so identifizierte, wie er sich selbst damit identifizierte. Vermutlich wird jede und jeder der vielen KollegInnen und FreundInnen bestätigen: Johannes hat einen Stil des Umgangs miteinander und des Umgangs mit Patienten praktiziert, den wir alle mal imitierten, mal adaptierten, mal modifizierten, mal auch kritisierten, von dem wir aber alle stark geprägt wurden und blieben. Eine seiner letzten Bemerkungen über seine Arbeit, an die ich mich erinnere, lautet: »Solange ich arbeite, geht es mir gut, so lange ich zuhören kann (den Patienten, den Mitarbeitern), brauche ich nicht über mich nachzugrübeln, am liebsten wäre es mir, ich würde bei der Arbeit, auf der Station sterben« – keine einfache Bemerkung für seine Mitarbeiter, zumal Johannes da bereits von seiner Krankheit gezeichnet war.
Ein besonderer Aspekt der frühen Begegnung mit Johannes Kipp betrifft auch den Kontext, aus dem ich an ihn erinnere: Er hat nicht nur meine theoretischen, philosophischen und akademischen Eskapaden unterstützt, wo immer er konnte (z.B. durch zeitweilige Freistellung von der Klinischen Arbeit zur Fertigstellung wissenschaftlicher Arbeiten – frühzeitig schon zur Gerontopsychiatrie), sondern auch durch frühzeitige Bahnung meiner psychoanalytischen Ausbildung. Diese war von der Auseinandersetzung um das Thema Psychoanalyse und Alternmotiviert, damals wie heute ein eher ungewöhnlicher Zugang zur psychoanalytischen Ausbildung. Johannes lud mich z.B. ein, zu Seminaren bei Hartmut Radebold mitzukommen, sowohl zur damaligen psychoanalytischen Arbeitsgemeinschaft Kassel (dem Vorläufer des Alexander-Mitscherlich-Instituts), als auch zu Radebolds gerontopsychotherapeutischen Seminaren an der Universität Kassel, Jahre bevor ich meine psychoanalytische Ausbildung begann. Ich habe dort – neben meiner eher theoretischen Faszination für Jacques Lacans strukturale Psychoanalyse – dank Johannes einen Weg gefunden, Theorie, Praxis und Selbstreflexion zu verbinden. Bis heute bin ich an den gerontopsychoanalytischen Diskursen der Arbeitsgemeinschaft Psychoanalyse und Altern beteiligt. Vermutlich ging es ganz vielen Mitgliedern des Alexander-Mitscherlich-Instituts, die aus der Psychoanalyse-Schmiede von Johannes Kipp kamen, so ähnlich. Man darf ihn ohne Übertreibung, allerdings ohne die grobschlächtigen Konnotationen der Metapher, als »Hephaistos« des psychoanalytischen Olymps in Kassel bezeichnen – und dies dank seiner Fähigkeit, Psychoanalytisches Wahrnehmen und Denken im klinischen Kontakt gerade auch denjenigen Patienten zu vermitteln, die einer klassischen psychoanalytischen Behandlung sonst wenig zugänglich erscheinen (z.B. alte, süchtige oder psychotische Menschen).
Ich könnte sehr lange aus dieser bewegenden Zeit der Anfänge der psychoanalytisch ausgerichteten Sozialpsychiatrie in Kassel berichten. Die theoretischen und konzeptionellen Wurzeln sind und bleiben einmalig im Kontext der bundesdeutschen Psychiatriekritik und Sozialpsychiatriebewegung.
Das Konzept von Johannes Kipp bezog insbesondere die englische und amerikanische psychodynamische Psychiatrie von Harry Stuck Sullivan in Verbindung mit der Mental-Health-Bewegung, der Gemeindepsychiatrie sowie dem Konzept der Therapeutischen Gemeinschaft nach Maxwell Jones und Robert Hinshelwood ein; darüber hinaus nahm sein Ansatz auch Elemente der Kritik der kustodisierenden Psychiatrie und des totalen Asyls in sich auf. Diese Besonderheiten seines Konzepts entdogmatisierten so manche der klassisch lieb gewordenen Behandlungsarrangements in der Psychiatrie, etwa die Auffassung, sog. früh gestörte Patienten müssten lange stationär und beschützend weltabgewandt behandelt und dann vorsichtig stützend in mehr therapeutische und konfrontierende Settings überführt werden: Das Konzept von Johannes Kipp schloss auch Ultrakurzbehandlungen bei Psychotikern und Borderline-Patienten ein (die in der Region ansonsten therapeutisch gut vernetzt waren), also Behandlungen, die nur wenige Stunden zur Krisenintervention oder eine Nacht während des Wochenendes dauerten. Ebenso – nur scheinbar im Gegensatz dazu – vertrat er auch mittellange Behandlungen von Patienten, die stark regrediert waren und vom Ansatz der aktivierenden Pflege und Therapie erst nach einer Phase der gewährten Regression profitieren konnten; etwa Patienten mit schweren Depressionen, insbesondere Altersdepressionen. Ein solches Konzept bedeutete im Einzelnen und Konkreten – insbesondere bei Patienten, die zur Spaltung oder zur Zwanghaftigkeit neigten – ein beträchtliches Feld potenziellen Agierens von Konflikten im »Geschwister- bzw. Familienkreis« von Patienten und Therapeuten. Hier bemerken die Therapeuten oft erst gar nicht, wie sie in Abwehrprozesse hineingezogen werden – in die eigenen und in die der Patienten, insbesondere wenn sie nicht starren, sondern flexiblen, an den jeweiligen Patienten angepassten Behandlungskonzepten folgten. Johannes Kipp vermochte dieses Agierpotential stets zu »containen und durchzuarbeiten«, insbesondere durch seine beinahe unbegrenzte Präsenz und die strikte Beachtung einer primären Patienten-Orientierung. Er war so gut wie gar nicht an ein Konzept oder Behandlungsmanual fixiert oder an irgendwie formalisierten Festschreibungen des Behandlungsarrangements. Insbesondere die Öffnung dieses sozialpsychiatrischen Arrangements für sein Steckenpferd, die Gerontopsychiatrie, war wirklich innovativ.
Auf diese Weise ist ein ziemlich einmaliges Experiment in der deutschsprachigen Psychiatrieszene entstanden, das sich mit seinem Namen verbindet und das bis heute Modellcharakter behalten hat. Aus diesem Ansatz ist dann auch das Lehrbuch Beziehung und Psychose (Kipp et al. 1996) hervorgegangen, in dem er den Gedanken der dynamischen Psychiatrie von Harry Stuck Sullivan aufnahm, den Gedanken vom verstehenden, beziehungsorientierten methodischen Zugang zu allen Phänomenen des therapeutischen Feldes und – darüber hinaus – zu den institutionellen Rahmenbedingungen (»institutionelle Übertragung«) im Rahmen des sozialpsychiatrischen Netzes.
An die Klinik wurde alsbald ein psychosoziales Konsiliarzentrum (einschließlich der Suizidentenbetreuung) für das ganze Klinikum Kassel angeschlossen, das ebenfalls bis heute besteht. Später kamen eine psychiatrische Tagesklinik hinzu, ein eigener, in mehrere Stadtteile verzweigter psychosozialer Betreuungsverein mit Wohngruppen, Tagesstätten, Beschäftigungs-, Kunst- und Kulturarbeit, Kooperationsverträge mit anderen entsprechenden Betreuungsvereinen (wie der Sozialtherapie Kassel), dann später der Aufbau einer psychosomatischen Klinik mit zwei tagesklinischen und einer stationären Abteilung, an der Johannes bis zu seinem letzten Tag tätig war. Alle Abteilungen waren miteinander und mit dem psychiatrischen »Mutterhaus« vernetzt, die Klienten konnten immer zur Krisenintervention in die stationäre Behandlung kommen. Es bestand auch über die institutionellen Grenzen hinweg ein Konzept der Personenkonstanz in der therapeutischen Behandlung. Dabei waren – ganz gegen das medikozentrische Krankenhausmodell der klassischen Psychiatrie – im Sinne der Milieutherapie alle anderen Berufsgruppen elementar einbezogen. Das galt als Ko-Therapeutenprinzip bei Krankenpflegern, Sozialarbeitern, Psychologen, Ärzten, Kreativtherapeuten im Sinne der Therapeutischen Gemeinschaft und war gerade wegen des doch häufigen Wechsels, insbesondere beim ärztlichen Personal, enorm wichtig. Ebenso waren alle Familienangehörigen und Mitbetroffenen im sozialen Feld einbezogen in Form von Angehörigengruppen, familientherapeutischen Gesprächen, institutionsübergreifenden gemeinsamen Teambesprechungen usf. Organisatorisch stellte dies eine geradezu paradoxe Anforderung an alle Beteiligten dar, weil alle ihre Rollenbilder verändern mussten. Dies wiederum konnte nur durch die hohe Identifizierung des Teams mit dem Konzept von Johannes Kipp gelingen.
Die psychoanalytisch-milieutherapeutische Organisation insbesondere auch des gerontopsychiatrischen Arbeitsfeldes war eine Besonderheit, die mit Johannes Kipp stark ins Zentrum unserer Arbeit rückte: Psychoanalytische stationäre, halbstationäre und ambulante milieutherapeutische Behandlungsansätze für gerontopsychiatrische Patienten, mit besonderer Betonung gruppenanalytischer Behandlungsarrangements für alle gerontopsychiatrischen Diagnose- und Störungsformen – das gab und gibt es so nicht noch einmal. Insbesondere die ambulante gemeindepsychiatrische Vernetzung (seit Anfang der 80er Jahre des vergangenen Jahrhunderts schon durch Kooperation mit einem Altenpflegeheim, dann mit Begegnungsstätten, betreuten Wohngruppen und tagesklinischen Einrichtungen praktiziert) und nicht zuletzt die Reflexion der typischen gruppendynamischen Übertragungsphänomene jüngerer Mitarbeiter auf betagte und hochbetagte Menschen, das war wirklich innovativ. Und es war erfolgreich. Wir haben mehrfach darüber publiziert (z.B. Kipp u. Warsitz 1985). Daraus ist das großartige zweite Lehrbuch von Johannes Kipp über Praktische Gerontopsychiatrie(Kipp u. Jüngling 1993) hervorgegangen, allerdings blieb vieles bis heute unveröffentlicht und schlummert in den Archiven.
Ich habe dieses Modell etwa 1 ½ Jahre vor Johannes’ Tod in der Schweiz vor den dortigen Sozialpsychiatern vorgestellt und später als Kasseler Modell der psychoanalytischen Sozialpsychiatrie veröffentlicht (Warsitz 2014). Die Vorstellung in der Schweiz löste eine lebhafte, auch kontroverse, aber höchst engagierte Auseinandersetzung aus. Lediglich etwas skeptisch musste ich am Ende hinzufügen, dass das Funktionieren vor allem durch die Person und die persönliche Haltung von Johannes Kipp als klinischer Lehrer und Chef der Institution, als Motivator und Vorbild, möglich war, und dass es nach ihm so nicht mehr weitergeführt werden konnte.
Gerade für unsere Arbeitsgemeinschaft Psychoanalyse und Altern und für die zahlreichen Kasseler Symposien (seit 1986 von Hartmut Radebold inauguriert), an denen Johannes Kipp sich von Anfang an aktiv und organisierend beteiligte, wird er unschätzbar in Erinnerung bleiben: sowohl durch seine wissenschaftlichen Beiträge, seine stets sehr persönlichen und selbstreflexiven Diskussionsbemerkungen, als auch durch die seit 2004 bestehende, von ihm begründete und als Schriftleiter bis zuletzt herausgegebene Zeitschrift Psychotherapie im Alter, in der auch die Beiträge der jährlichen Symposien veröffentlicht werden. Seine sonstige Publikationstätigkeit kann hier nur in groben Zügen gestreift werden, darunter auch diverse Beiträge im Nervenarzt, in Psychiatrische Praxis, in der Psyche (über die Psychodynamik der Manie), und natürlich in Psychotherapie im Alter.
Zum Schluss möchte ich noch einmal die Mentorenfunktion hervorheben, die Johannes Kipp für ungezählte seiner Mitarbeiter hatte. Vermutlich ist etwa die Hälfte der Mitglieder unseres Kasseler psychoanalytischen Instituts (AMI) in seine Schule gegangen. Erwähnenswert ist auch die Förderung anderer Berufsgruppen, die er zu Weiterbildungen, Weiterqualifikationen und immer wieder auch zu weiteren Qualifizierungsschritten für »höhere Aufgaben« ermutigte. Er konnte seine Mitarbeiter auch gehen lassen und beförderte ihre Karrieren; d.h. er hielt sie nicht einfach fest, weil sie für seine Interessen notwendig erschienen, eine – wie ich finde – nicht zu unterschätzende pädagogische Fähigkeit. In der Geburtshilfe, in der Philosophie oder in der Pädagogik würde man diese Fähigkeit wohl als maieutische Kompetenz bezeichnen, als Hebammenkunst: die Kunst, Andere auf den Weg zu bringen, der für sie der passendste ist. In dieser Kunst hat Johannes es zur Virtuosität gebracht, wofür auch ich ihm ganz persönlich danke.
Literatur
Kipp J, Unger H-P, Wehmeier PM (1996) Beziehung und Psychose. Stuttgart (Thieme).
Kipp J, Warsitz R-P (1985) Aus der Not eine Tugend machen. 5 Jahre Kooperation einer psychiatrischen Abteilung mit einem Altenpflegeheim. Psychiatrische Praxis 12(2):33 ff.
Kipp J, Jüngling G (1993) Verstehender Umgang mit alten Menschen. Eine Einführung in die praktische Gerontopsychiatrie. Frankfurt (Fischer TB).
Warsitz R-P (2014) Konzepte verstehender Psychopathologie und Psychodynamik in der Behandlung von Menschen mit Psychosen. Schweizer Archiv für Neurologie und Psychiatrie 165(4): 126–32.