12. Jahrgang 2015,
Heft 2: Eine Institution stellt sich vor
Anton-Rupert Laireiter, Urs Baumann, Randolf Messer und Claudia Thiele-Sauer:
Psychotherapie im Seniorenwohnheim.
Ein Angebot der Universität Salzburg und der Stadt Salzburg
Epidemiologische Studien zeigen, dass man bei älteren Menschen (60/65+) von einer Jahresprävalenz diagnostizierter psychischer Störungen von ca. 25% ausgehen kann (Röhrle 2014). Zusätzlich ist mit einer ähnlich hohen Rate an altersspezifischen und subklinischen Problemen zu rechnen (Maercker2002). Die Prävalenz psychischer Störungen bei Bewohnern von Seniorenwohn- und Pflegeheimen ist deutlich höher, wobei hier Zahlen – unter Einbezug der Demenz – von bis zu 75% berichtet werden (Grünberger 2013). Diese Befundlage impliziert einen hohen Bedarf an Psychotherapie – gerade auch für BewohnerInnen von Seniorenwohnheimen (Baumann u. Laireiter2013), der allerdings kaum erfüllt wird. »The most likely treatment, if any, is psychotropic medication, which is often prescribed inappropriately by general practitioners« (Burns et al. 1993, 331). Diese Aussage gilt auch heute noch und begründet die Notwendigkeit psychotherapeutischer Behandlung alter Menschen in Seniorenwohnheimen im Besonderen.
Gerontopsychologischer Schwerpunkt der Universitätsambulanz »Beratungsstelle Klinische Psychologie, Psychotherapie, Gesundheitspsychologie«
Der Fachbereich Psychologie der Universität Salzburg verfügt über eine klinisch-psychologische Institutsambulanz, die seit 1967 besteht und die älteste in Österreich ist. In dieser Ambulanz wird seit Mitte der 1990er Jahre ein praxisorientierter geronto-psychologischer Schwerpunkt realisiert, der vom Zweitautor dieser Arbeit initiiert wurde und seit 2000 vom Erstautor weitergeführt wird. In diesem Schwerpunkt wurden verschiedene Projekte durchgeführt: »Übergang ins Seniorenheim« (1995–2000), »Psychotherapie im Seniorenheim« (seit 1996 laufend), »gerontopsychologischer Fachdienst im Seniorenheim« (Pilotprojekt 2004/05; seit 2008 laufend) – diese drei jeweils in Kooperation mit dem Magistrat der Stadt Salzburg, Senioreneinrichtungen – und »Psychische Gesundheitsförderung im Alter« (seit 2011 laufend) in Kooperation mit der Salzburger Gebietskrankenkasse, Abteilung Gesundheitsförderung. Diese Projekte basieren auf einem Science-Practice Ansatz (theoretische Fundierung, evidenzbasierte Methoden, Anwendung in der Alltagspraxis) und werden begleitend und abschließend evaluiert (vgl. dazu Laireiter et al. 2014; Laireiter u. Somweber 2014).
Das Projekt »Psychotherapie im Seniorenheim«
In einem aufsuchenden Vorgehen werden BewohnerInnen der Seniorenwohnheime der Stadt Salzburg psychotherapeutisch versorgt. Die Finanzierung erfolgt durch den Magistrat und die Krankenkassen. Im Schnitt werden bis zu 25 PatientInnen gleichzeitig behandelt, das sind bis jetzt insgesamt 201 Personen, davon 154 Frauen (76.6%). In dieser Zahl sind »Abbrecher« nicht enthalten, da solche von uns nicht registriert werden. Es ist aber davon auszugehen, dass ca. bei einem Viertel Therapien aus unterschiedlichen Gründen nicht zustande kommen (kognitive Einschränkungen, fehlende Motivation, Angehörige dagegen, nicht indiziert).
Die in diesem Projekt durchgeführten Therapien orientieren sich an speziellen, gerontopsychologisch getragenen Grundsätzen, die an anderer Stelle ausführlicher dargestellt worden sind (Laireiter et al. 2014) und verfolgen ein modifiziertes kognitiv-behaviorales Fallkonzept. Ausgangspunkt ist meist ein fremdindizierter Therapiewunsch (meist seitens der Pflege), der eine spezielle Gestaltung der Therapieübernahme, einen sehr behutsamen Aufbau der Therapiebeziehung und die Herstellung eines erweiterten informed consent (u.a. mit Pflege und ggf. den Angehörigen) verlangt. In der diagnostischen Phase werden sowohl klinische wie auch problembezogene Analysen durchgeführt, wobei auch hier, wie bei der anschließenden Zielklärungsphase, bei der Erarbeitung des Behandlungsplans die Pflege und ggf. auch die Angehörigen involviert werden. Die in den Behandlungen erarbeiteten Ziele beinhalten daher nicht nur die Verbesserung der psychischen Symptomatik, sondern meist auch die Anpassung an die Heimsituation und individuelle Ziele, wie z.B. Trauerbewältigung, Aktivierung o.ä.
Die Umsetzung des Behandlungsplans erfolgt prozessorientiert und adaptiv, in dem auf eine sehr enge Kooperation mit den PatientInnen, aber auch mit der Pflege und ggf. den Angehörigen geachtet wird. Spezifische Trainings werden nur bei speziellen Aufgabenstellungen eingesetzt (z.B. Entspannung, Genusstraining, Problemlösen etc.). Aufgrund der speziellen Möglichkeiten unserer Ambulanz werden in solchen Fällen häufig PraktikantInnen der Studienrichtung Psychologie, Klinische PsychologInnen oder PsychotherapeutInnen in Ausbildung integriert, während eine PsychotherapeutIn im Sinne eines zweigleisigen Vorgehens weiterhin als BezugstherapeutIn fungiert.
Die Psychotherapien werden begleitend evaluiert, ebenso werden regelmäßige Supervisions- und Intervisionssitzungen zur Therapiekontrolle durchgeführt. Im Rahmen des Gesamtprojekts finden alle sechs Monate Fallbesprechungen und einmal im Jahr eine vertiefende Projektbesprechung statt, in der spezielle Themen der therapeutischen Arbeit (z.B. Kooperation mit den Ärzten, Aufnahme der Therapie, Beziehungsgestaltung, Beendigung etc.) unter Einbezug der ärztlichen Leitung und der Pflegeleitungen der Heime stattfinden.
Der Abschluss der Therapien erfolgt kontrolliert, wiederum unter Einbezug der Pflege und ggf. der Angehörigen (s. ausführlicher Laireiter et al. 2014). In notwendigen Fällen wird der Kontakt in Form einer längerfristigen Nachbetreuung grobmaschig weitergeführt, z.B. in Form von zwei Kurzkontakten im Monat.
Die Therapien wurden seit Bestehen des Projekts mehrfach evaluiert (ausführlicher Laireiter et al. 2014). In diversen retrospektiven Studien zwischen 1997 und 2007 an insgesamt 87 PatientInnen (davon 20 Männer = 22.9%; Alter: M = 83.0, SD = 7 .1; Range = 63–95 Jahre) konnte eine deutliche Verbesserung in der Befindlichkeit sowie eine Reduktion der Ängstlichkeit, der Depressivität, der Schlafprobleme und der Anpassungsprobleme an das Heim nachgewiesen werden, dies sowohl aus Sicht des Pflegepersonals als auch aus Sicht der Therapeuten und der PatientInnen. Die Effekte blieben in den meisten Fällen über einen mittleren Beobachtungszeitraum von 17 Monaten erhalten. Dokumentationsanalysen erbrachten zusätzlich eine Reduktion der Krankenhausaufnahmen, der psychiatrischen Konsultationen und der Einnahme von Psychopharmaka (Antidepressiva, Hypnotika und Schmerzmittel), die über den Katamnesezeitraum stabil blieben.
Eine therapiebegleitende prospektive Studie aus den Jahren 2000 bis 2008 an jenen BewohnerInnen, die die Therapie beenden konnten und für die vollständige Datensätze (jeweils Prä- und Postmessung) vorlagen (N = 30; 7 Männer = 23.3%; Alter: MW = 80.1; SD = 7 .1, Range = 61–91 Jahre) konnte diese Ergebnisse bestätigen und ergänzen (Laireiter et al. 2014). Es zeigten sich auch hier gute bis sehr gute Wirksamkeiten mit z.T. sehr hohen Effektstärken, insbesondere aus der Sicht der PatientInnen selbst, aber auch aus Sicht der TherapeutInnen und des Pflegepersonals. Die Verbesserungen betrafen auch hier vor allem die Stimmung und das Befinden, die Depressivität und Ängstlichkeit sowie psychische und soziale Beeinträchtigungen. Etwas niedriger waren die Effekte für körperliche Beeinträchtigungen und psychotische Symptome. Bei kognitiven Beeinträchtigungen fanden sich dagegen leichte bis mittlere Verschlechterungen.
Auch wenn die Befunde für insgesamt positive Effekte der Therapien sprechen, sind sie doch zu relativieren: Zum einen sind die Stichproben nicht sehr groß und bestehen vor allem aus depressiven Frauen. Dies schränkt ihre Generalisierbarkeit ein. Zum zweiten fehlt eine unbehandelte Gruppe zur Kontrolle der Spontanremission. Zum dritten gingen nur diejenigen PatientInnen in die Auswertungen ein, die die Therapie beendet hatten. Eine Intention-to-treat-Analyse konnte aufgrund der fehlenden Abschlusswerte der »Abbrecher« nicht durchgeführt werden; denn die meisten dieser PatientInnen waren inzwischen verstorben oder hatten wegen massiver Zunahme der Gebrechlichkeit oder Demenz nicht mehr teilnehmen können.
Schlussfolgerungen
Der gerontopsychologische Schwerpunkt der Universitätsambulanz führt seit 20 Jahren Begleitforschung durch, die zeigt, dass Psychotherapie bis ins hohe Alter möglich ist und auch entsprechende Wirkungen zeigt. Zu seiner erfolgreichen Durchführung bedarf es aber der engen interdisziplinären Kooperation der PsychotherapeutInnen, ÄrztInnen, des Pflegepersonals und der Angehörigen. Die Ergebnisse des dargestellten Projekts und dessen Dauer zeigen, dass Psychotherapie einen sinnvollen Platz in der Routineversorgung in Seniorenwohnheimen einnehmen kann.
Literatur
Baumann U, Laireiter AR (2013) Klinisch-psychologische Intervention, insbesondere Psychotherapie – auch im höheren Lebensalter? In: Hellgardt E, Welker L (Hg) (2013) Weisheit und Wissenschaft. Festschrift zum 25-jährigen Bestehen des Seniorenstudiums an der LMU. München (Herbert Utz-Verlag) 315–334.
Burns BJ, Wagner HR, Taube JE, Magaziner J, Permutt T, Landerman LR (1993) Mental health service use by the elderly in nursing homes. Am J Publ Health 83(3): 331–337 .
Grünberger T (2013) Prävalenzen allgemeiner und altersspezifischer psychischer Störungen bei Bewohnern von Seniorenheimen des Bundeslandes Salzburg. Masterarbeit Fachbereich Psychologie, Universität Salzburg.
Laireiter AR, Baumann U, Messer R (2014) Gerontopsychologie in Einrichtungen der Seniorenpflege: Altenwohn- und Pflegeheime. In: Maercker A (Hg) (2014) Alterspsychotherapie und Klinische Gerontopsychologie (2. Aufl.). Berlin (Springer) 289–312.
Laireiter AR, Somweber M (2014) Gesundheitsförderung und Prävention im Alter. Psychologie in Österreich 34(2/3): 194–201.
Maercker A (2002) Psychologie des höheren Lebensalters: Grundlagen der Alterspsychotherapie und klinischen Gerontopsychologie In: Maercker A (Hg) (2002) Alterspsychotherapie und Klinische Gerontopsychologie. Berlin (Springer) 1–58.
Röhrle B (2014) Prävention psychischer Störungen bei älteren Menschen – Überblick zum Stand der Forschung. VPP 46(1): 73–94.