Astrid Riehl-Emde & Bertam von der Stein: Editorial zum Themenheft
“Liebe”
Liebe
Das Thema »Liebe« beflügelt Künstler, Dichter und Schriftsteller seit jeher. Die Liebe ist ein unerschöpfliches Thema nicht nur in der Musik, im Theater, in der Literatur, sondern auch in Religion und Philosophie. Dort ist sie auch gut aufgehoben, denn Liebe ist der Rationalität wissenschaftlicher Methodik – dem Operationalisieren und Messen – schwer zugänglich. Trotzdem forschen Psychologen seit Jahrzehnten darüber (Lee 1973; Sternberg 1986; Bierhoff et al. 1993), die Soziologen haben die Liebe entdeckt (Luhmann 1982; Hahn u. Burkart 2000), und die Hirnforscher versuchen seit Jahren, die Liebe topografisch zu verorten und biochemisch zu erfassen (Bartels u. Zeki 2000).
Liebe ist auch ein prominentes Thema in der Psychotherapie, wenn nicht sogar das prominenteste. Seit Ende der 1990er Jahre haben etliche Fachtagungen die Liebe zum Thema gemacht, und die psychotherapeutische Literatur zur Liebe füllt inzwischen einige Regalmeter. Kein Wunder: Liebe als Gefühl gehört sowohl zu den größten Freuden, als auch zu den größten Leiden — und wer darauf verzichtet, verliert an Leben und an Lebendigkeit. Zu lieben und geliebt zu werden ist unabhängig vom Lebensalter eine ganz wesentliche Erfahrung. Allerdings gibt es kaum empirisch gesicherte Erkenntnisse darüber, wie sich die Liebe im Lebenslauf oder im Laufe jahrzehntelanger Paarbeziehungen verändert.
Was Liebe ist, lässt sich nur schwer definieren, denn sie steckt voller Widersprüche. Bereits Sigmund Freud (1921c,122) hat darauf hingewiesen: »Der Sprachgebrauch bleibt selbst in seinen Launen irgendeiner Wirklichkeit treu. So nennt er zwar sehr mannigfaltige Gefühlsbeziehungen ›Liebe‹, die auch wir theoretisch als Liebe zusammenfassen, zweifelt aber dann wieder, ob diese Liebe die eigentliche, richtige, wahre sei, und deutet so auf eine ganze Stufenleiter von Möglichkeiten innerhalb der Liebesphänomene hin.« Es ist folglich damit zu rechnen, dass jede Definition von Liebe mit einer gleichzeitig auch zutreffenden gegensätzlichen Definition für ungültig erklärt werden kann bzw. dass jede Definition immer nur einen Teilaspekt des komplexen Ganzen erfasst, was Menschen unter Liebe verstehen.
Wir leben nach wie vor im Zeitalter der Liebesheirat, auch wenn sich die Sitten und Gebräuche sowie die Vorstellungen darüber, wen und wie man lieben darf, mit der Zeit verändert haben. Eine aktuelle Studie (»Vermächtnis-Studie«), aus einer Kooperation der Wochenzeitung DIE ZEIT mit dem Wissenschaftszentrum Berlin (WZB) und dem Sozialforschungsinstitut infas entstanden – ab Mitte Februar 2016 hat DIE ZEIT darüber berichtet –, deutet eine Zunahme an Pragmatismus bei der Partnerwahl an. Eva Illouz (2003), Soziologin aus Israel, hat bereits untersucht, wie die Logik der Ökonomie einschließlich Kosten-Nutzen-Analysen heutzutage die Welt der Liebe durchdringen. Sie und andere Zeitgeist-Propheten kommen jedoch nicht umhin festzustellen, dass der Wert der Liebesbeziehung nach wie vor sehr hoch im Kurs steht, vielleicht sogar höher denn je. Gewünscht werde allerdings Liebe ohne Sehnsucht und Leid, Liebe ohne Bindung – Liebe, die nicht wehtut (Illouz 2011). Denn alle Unerschütterlichkeit wird preisgegeben, wenn die Relation zum Objekt der Liebe alle anderen Relationen aussticht.
Es gibt die Liebe zu einem Partner oder einer Partnerin, gleich- und gegengeschlechtlich; es gibt die Eltern- Kinder- und Nächstenliebe, es gibt die freundschaftliche Liebe und natürlich die Selbstliebe, um einige der Relationen zu nennen. Es gibt aber auch die Liebe zu außermenschlichen Objekten: die Liebe zu Gott, die Liebe zu Tieren und natürlich die Liebe zur Arbeit, zu Hobby, Kunst, Musik, Landschaft, Heimat usw. Diese Ausgabe der Psychotherapie im Alter widmet sich schwerpunktmäßig der zwischenmenschlichen Liebe im Alter. Es geht um homo- und heterosexuelle Liebesbeziehungen alter Menschen, um deren Sexualität, um die Liebe zu sich selbst, aber auch um die Liebe von Großeltern gegenüber ihren Enkeln. Insbesondere die letztgenannte Thematik mahnt an, neben den Liebesverhältnissen die Machtverhältnisse nicht zu vergessen.
Dieses Heft basiert auf Vorträgen, die Ende 2015 in Kassel anlässlich des 27 . Symposiums »Psychoanalyse und Alter« zum Thema »Liebesfähigkeit« gehalten wurden. Alle Vortragenden haben einer Veröffentlichung zugestimmt und die Mühe auf sich genommen, ihre Vorträge in Manuskripte umzuarbeiten, wofür wir ganz herzlich danken. Wer sich über die von einigen Autoren gewählte Schreibweise (z.B. Partner_innen) wundert, mit denen auch Inhalte sprachlich sichtbar gemacht werden: Nein, der Verlag hat keine neuen Schreibregeln erlassen. Er hat allerdings zugestimmt, die von den Autorinnen und Autoren gewählte Schreibweisen zu akzeptieren:
Der Unterstrich oder »Gender-Gap« macht nicht-binäre Geschlechtsidentitäten sichtbar (Hermann 2003).
Trans* dient als Oberbegriff für Personen, die sich als transsexuell, transident, transgender, transgeschlechtlich, dazwischen, beides weder-noch oder nicht-geschlechtlich verstehen. Der Begriff fasst somit eine Vielfalt an Selbstidentitäten und geschlechtlichen (Nicht-)Verortungen zusammen (Hamm u. Sauer 2014; Wikipedia).
In diesem Sinne wünsche ich Ihnen, den Leser_innen, eine anregende Lektüre!
Astrid Riehl-Emde (Heidelberg) und Bertram von der Stein (Köln)
Literatur
Bartels A, Zeki S (2000) The Neural Basis of Romantic Love. Neuroreport 11: 3829–3843.
Bierhoff HW, Grau I, Ludwig A (1993) Marburger Inventar für Liebesstile (MEIL). Göttingen (Hogrefe).
Freud S (1921c) Massenpsychologie und Ich-Analyse. GW XIII, Frankfurt a.M. (Fischer) 71–161.
Hahn K, Burkart, G (Hg) (2000) Liebe am Ende des 20. Jahrhunderts. Opladen (Leske + Budrich) 111–129.
Hamm J, Sauer A (2014) Perspektivenwechsel: Vorschläge für eine menschenrechts- und bedürfnisorientierte Trans*-Gesundheitsversorgung. Zeitschrift für Sexualforschung 27(1): 4–30.
Hermann SK (2003) Performing the Gap – Queere Gestalten und geschlechtliche Aneignung. arranca! 28: 22–26.
Illouz E (2003) Der Konsum der Romantik. Liebe und die kulturellen Widersprüche des Kapitalismus. Opladen (Leske + Budrich). Illouz E (2011) Warum Liebe wehtut. Berlin (Suhrkamp).
Lee JA (1973) The Colors of Love. Englewood Cliffs, NJ (Prentice-Hall).
Luhmann N (1982) Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität. Frankfurt a.M. (Suhrkamp).
Sternberg RJ (1986) A Triangular Theory of Love. Psychological Review 93: 119–135. Wikipedia-Artikel » LGBT«. https://de.wikipedia.org/wiki/LGBT (03.06.2016)