Augen-Blicke
Als ich kürzlich in Berlin im neuen Regierungsviertel stand und an der Spree in unmittelbarer Nähe des Reichstags die neue Architektur auf mich wirken ließ, wurde ich von einer unerwarteten Wahrnehmungsdimension überrascht: Ich sah diesen Ort in seiner aktuellen Wirklichkeit, und gleichzeitig sah ich ihn vor meinem inneren Auge, so wie ich ihn in den 70er und 80er Jahren wahrgenommen hatte: als Niemandsland, als Leere, als Todesstreifen mit Holzkreuzen an der Mauer zur Erinnerung an die Menschen, die bei Fluchtversuchen über die damalige innerdeutsche Grenze ums Leben gekommen waren. Meine aktuelle Wahrnehmung dieses Ortes gewann durch die Verbindung mit den inneren Bildern eine neue Reichhaltigkeit und Tiefe, so als hätte die Zeit als vierte Dimension das Bild mit komponiert. Während ich diese Bildkomposition auf mich wirken ließ, fiel mir plötzlich ein, dass wohl ein ähnlicher Mechanismus im Spiel ist, wenn ältere bzw. alte Paare in ihrem Partner nicht nur das aktuelle Bild, sondern gleichzeitig auch andere Bilder aus der gemeinsamen Beziehungsgeschichte sehen. Dadurch wird im »gestaltenden« Blick auf den langjährigen Partner weitaus mehr gesehen, als es ein unbeteiligter Dritter könnte.
Einem solchen gestaltenden Blick begegnen wir beispielsweise in Martin Walsers Roman »Der Augenblick der Liebe«. Es ist der Blick des über 60-jährigen Privatgelehrten Gottlieb Zürn, der seit Jahrzehnten mit Anna verheiratet ist und eine Außenbeziehung zu der fast 40 Jahre jüngeren Doktorandin Beate eingeht. Im Verlauf der Geschichte folgt Gottlieb Zürn Beates Einladung zu einer Fachtagung in die USA und lässt die Leser teilhaben an seinen Gedanken: »Beim ersten Frühstück (mit Beate) im Hotel Durant, das sie, um nicht gesehen zu werden, auf sein Zimmer kommen ließen, hatte sie, als er sie anschaute, gesagt: I can read your mind. Darauf hatte er tatsächlich mehr als einen Augenblick lang nicht mehr gewusst, was er denken sollte. Wenn wenigstens die Augen so angebracht wären, dass man sich auch selber andauernd sähe, vor allem das eigene Gesicht, beim Sprechen, dann unterbliebe viel. Andererseits hat Rousseaus dreißig Jahre älterer barbou mit Recht die schlimmste Folter darin gesehen, sich selber so zu sehen, wie Sara ihn sieht. Und Anna mutet er sich zu. Noch und noch. So gut wie nie denkt er daran, dass er, wenn sie ihn anschaut, genau so alt ist, wie wenn Beate ihn anschaut. Laß mich gehen, hätte er jetzt am liebsten zu Beate gesagt« (S.194/5). Wir haben hier eine besondere Facette eines Paares mit großem Altersunterschied vor uns, dargestellt aus Sicht des Älteren: Das Gesicht, der Hals, die Hände, der ganze Körper verliert an Anziehungskraft, seine Schönheit und Attraktivität, auch der autoerotische Reiz, nehmen im Alter ab, selbst viele Ältere gefallen sich immer weniger. Und sich mit den imaginierten Augen einer jüngeren Geliebten (oder eines jüngeren Geliebten) anzusehen, mag manch einer – so wie Gottlieb Zürn – als »schlimmste Folter« erleben.
Als er am Ende wieder bei Anna landet und sie anschaut, denkt er, »…, dass ein Gesicht, das man kennt seit es jung war, nie bloß alt werden kann. Das junge Gesicht schaut aus allen Jahren heraus. Gesichter, die man erst als ältere kennen lernt, sind dann wahrscheinlich nichts als ältere Gesichter. Anna, dachte er, ist und bleibt das Mädchen.« (S.213). Die Fähigkeit in alten Ehen, immer noch die junge Gestalt des Partners zu sehen, bedeutet keine Abwertung des alten Körpers, sondern das Hinzutreten der Zeit als vierte Dimension, die wie eine weitere Tiefendimension wirkt: Der langjährige Ehepartner nimmt in der Regel seine Partnerin vielschichtiger und komplexer wahr als jeder andere Betrachter. Anders formuliert: »die innere Welt der Repräsentanzen unterliegt offenbar nicht der Korrosion der chronologischen Alterung« (Luft 2005, S.27).
Meine erste Begegnung mit der Paartherapie mit älteren Menschen liegt etwa 20 Jahre zurück, als ich die Anmeldung eines Paares erhielt, das sich drei Jahre zuvor über eine Kontaktanzeige kennen gelernt hatte. Sie war damals 72, er 74 Jahre alt, beide waren nach langjährigen Ehen verwitwet und in enorme Beziehungskonflikte geraten, nachdem er in ihr Haus eingezogen war, in dem sie auch mit ihrem ersten Mann gelebt hatte. Damals war ich Mitte 30 und erwartete dieses Paar, das sich altersmäßig etwa zwischen meinen eigenen Eltern und Großeltern befand, mit recht zwiespältigen Gedanken: Habe ich einem Paar, das über soviel mehr Lebenserfahrung verfügt, überhaupt etwas zu bieten? Werde ich dessen Normen und Werte verstehen können? Werde ich es überhaupt wagen, nach ihrer Sexualität zu fragen – wäre das nicht wie der heimliche Blick durchs Schlüsselloch ins Elternschlafzimmer? Ich bin nicht sicher, ob ich diesem Paar damals hilfreich sein konnte. Ich erinnere mich vor allem daran, wie schwer es beiden Personen fiel, die Marotten des jeweils anderen zu ertragen. Jedenfalls wurde durch diese Erfahrung mein Interesse an der Paartherapie mit älteren Paaren geweckt.
Erstaunlicherweise gelten Paarbeziehungen im Alter auch heute noch als ein vernachlässigtes Gebiet sowohl in der Altersforschung, in der Individuen im Mittelpunkt stehen, als auch in der Paartherapie, in der überwiegend mit jüngeren Paaren gearbeitet wird. Allerdings berichten Paartherapeuten, die selbst über 50 Jahre alt sind, dass die Anzahl älterer Paare in ihrer Praxis mitdem eigenen Alter zunimmt. Vorausgesetzt Therapeuten interessieren bzw. spezialisieren sich für den Altersbereich, sind derzeit offenbar bis zu einem Drittel des Klientels einer paartherapeutischen Praxis über 60 Jahre alt. Trotzdem bleibt die Literatur über ältere Paare vorerst spärlich. Es handelt sich um ein Gebiet, in dem noch vieles zu entdecken ist und auf dem die dort Tätigen immer noch als Pioniere gelten können. Obwohl viele Fragen noch offen sind, ist allerdings bekannt, dass die Qualität der Paarbeziehung mit seelischer Gesundheit zu tun hat und dass gerade bei älteren Paaren die Paarbeziehung besonders wichtig wird, nachdem die Familien- und Berufsphase in den Hintergrund getreten sind.
Der Bedarf nach Psychotherapie steigt, auch der Bedarf nach Paartherapie im Alter. Hierfür gibt es mehrere Gründe, von denen an dieser Stelle die höhere Lebenserwartung hervorgehoben sei: Die Zahl älterer Ehepaare hat im letzten Jahrzehnt deutlich zugenommen; die Chance, als Paar hoch betagt zu werden, ist gegenwärtig höher denn je. 40- oder 50-jährige Ehen sind keine Seltenheit; aber auch unverheiratete Paare und in zweiter oder dritter Ehe Verheiratete jenseits des 60. Lebensjahres sind immer häufiger anzutreffen.
Die Chance, gemeinsam hoch betagt zu werden, stellt aber gleichzeitig eine große Herausforderung dar: laut Scheidungsstatistik gibt es einen zweiten Scheidungsgipfel bei Paaren, die 20 bis 25 Jahre verheiratet sind. Offensichtlich besteht also ein erheblicher Bedarf an Paartherapie für ältere Paare. Aber nicht nur den Betroffenen fehlt dazu mitunter der Mut, auch den häufig jüngeren Paartherapeuten fällt es bisweilen schwer, älteren oder alten Paaren Therapien anzubieten.
Dieses Themenheft der Zeitschrift PiA will dazu anregen, sich mit dem Thema Paartherapie mit älteren Paaren auseinanderzusetzen. Dabei geht es auch um das Erlernen spezifischer Fähigkeiten – nicht zuletzt um das Sehen in der vierten Dimension.