Bertram von der Stein: Editorial zum Themenheft
“Ältere als Täter”

In den Medien, populären Zeitschriften, in der Öffentlichkeit und in der Fachliteratur werden ältere Menschen in erster Linie unter der Perspektive der Viktimisierung betrachtet (Görgen 2007, Greve et al. 1996, Hirsch 2006). Sie werden häufig Opfer von Gewalt, Vernachlässigung und Betrug. Auf die Verwundbarkeit im Alter aufgrund nachlassender körperlicher und geistiger Kräfte und auf altersbezogene Risiken und Ängste wird zurecht immer wieder hingewiesen.
   Dass Ältere als Täter in Erscheinung treten können, zeigt ein Blick auf die Alterskriminalität. Diese umfasst ganz allgemein alle Formen von Straftaten, die von Personen über 60 Jahren verübt worden sind. Da im Zuge des demografischen Wandels mehr Menschen im Alter aktiv sind, treten auch mehr Straftaten älterer Menschen in Erscheinung. Nach Angaben des Bundeskriminalamtes (BMI 2009) liegt der Anteil der Tatverdächtigen zwischen 20 und 40 Jahren bei rund 42% und der ab 60 Jahren bei 6,6%; statistisch betrachtet noch ein Randphänomen. Zwar wiesen Datenquellen blinde Flecken auf, dennoch habe sich allein bezogen auf die jüngere Vergangenheit der Anteil älterer Strafgefangener von 1,33 auf 2,80% mehr als verdoppelt (Görgen 2007). Annahmen, Straftaten nähmen im Alter ab und ältere Menschen hätten weniger kriminelle Energie, sind schon längere Zeit obsolet (Schneider 2009).
   Der Versuch, Alterskriminalität in drei Kategorien einzuteilen (Pohlmann 2009), hilft dabei, einen Überblick zu bekommen:

  • Nicht verjährungsfähige Kapitalverbrechen, die von jungen Straftätern begangen wurden, welche aber erst im höheren Lebensalter dafür zur Rechenschaft gezogen werden können. In Deutschland gehören zu diesem Typus auch NS-Kriegsverbrecher wie der 1920 geborene John Demjanjuk und der KZ-Aufseher Hanning oder Mörder wie der ehemalige Stasi-Vorsitzende Mielke, der als junger Erwachsener einen Polizisten umgebracht hatte, sich der Strafe aber in den Kriegswirren und in der Zeit danach entziehen konnte.

  • Straftaten im Rahmen fortgesetzter Kriminalität: Besonders hohe Wellen der medialen Berichterstattung hat hier der fast 25 Jahre andauernde Inzest und sexuelle Missbrauchsfall des 73-jährigen Österreichers Josef Fritzl geschlagen. Beispiele aus dem organisierten Verbrechen, z. B. der alte Mafiaboss Bernardo Provenzano, können auch angeführt werden. Manche alt gewordene RAF-Terroristen haben nie den Weg in die Legalität zurückgefunden und treten in letzter Zeit durch spektakuläre Raubüberfälle in Erscheinung. Viele altgewordene Einzeltäter, die ihren Lebensunterhalt kontinuierlich mit Straftaten bestreiten, sind weniger bekannt.

  • Verstöße, die erst im höheren Lebensalter vollzogen werden: Vielfach handelt es sich dabei um Bagatelldelikte wie Ladendiebstahl oder Verkehrsverstöße. Manche stehen im Kontext mit dementivem Abbau oder erheblichen psychischen Veränderungen im Alter. Motive können sehr unterschiedlich sein: Aus existenzieller Not und Angst vor Alltagsarmut werden Raube und Diebstähle ausgeführt. Rache und Selbstjustiz spielen öfters im Zusammenhang mit Nachbarschaftsstreitereien eine Rolle.

Die Täterschaft älterer Menschen ist jedoch nicht auf die formalen Kriterien von Straftaten zu begrenzen: In vielen Psychotherapien beklagen sich Patienten über Vernachlässigung, Misshandlungen und Missbrauch durch Eltern. Viele Scheidungskinder werfen den Eltern oder einem Elternteil bis ins hohe Alter die Trennung vor. Nicht umsonst ist die Abrechnung von erwachsenen Kindern mit prominenten Eltern so medienwirksam wie am Beispiel von Helmut und Walter Kohl (Kohl 2013) oder Klaus und Pola Kinski (2013).
   Aktuell sich zuspitzende Pflegesituationen, bei denen Ältere nicht nur Opfer, sondern auch Täter sind, kommen immer wieder vor. Hierzu gehört die Gewalt Älterer gegen Pflegepersonal und erwachsene Nachkommen, manchmal mit sexueller Komponente (Hirsch in diesem Heft, von der Stein 2007), ebenso wie strukturelle Gewalt Älterer gegen jüngere bei demonstrativen Suizidankündigungen und Drohungen mit Enterbungen.
   Ein weites Feld sind Erbschaftsstreitereien, bei denen vordergründig die habgierigen Nachkommen im Fokus der Kritik stehen. Vergessen wird hierbei häufig, dass Eltern schon früh und polarisierend Geschwisterrivalität angeheizt haben und mit unklaren und tendenziellen Testamenten postmortale Rache an den Nachkommen verüben. Dies führt manchmal zu Zerwürfnissen über drei Generationen.
   Trotz bekannter Negativbilder von Alten (die alte Hexe bei »Hänsel und Gretel«, die böse Stiefmutter etc.) und populärer Filme wie Arsen und Spitzenhäubchen ist das Bewusstsein über Destruktivität und Kriminalität bei Älteren unterentwickelt. Bei der humoristischen Darstellung selbst schwerer Straftaten schwingt wohlwollendes Augenzwinkern und Verharmlosung mit.
   Will man die Täterschaft im Alter vorurteilslos betrachten, kann man ältere Menschen nicht alleine auf ihre Opferrolle fixieren und eine naive Unschuldsvermutung stützen. Vermutlich gibt es mehrere Widerstände, sich mit Täterschaft und Schuld im Alter zu beschäftigen:
   Freud formulierte in seinen Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie (1905), das die Unschuldsvermutung über Kinder – nimmt man die Triebnatur des Menschen ernst – eine Illusion sei. Auch in Bezug auf die Älteren ist diese Überlegung angebracht und es gilt, ein Tabu zu brechen. Populäre Sprüche wie »Jenseits von Gut« postulieren unreflektiert, dass mit vermeintlicher Abschwächung der Triebspannung im Alter die Destruktivität abnehme.
   Das Vierte Gebot »Ehren sollst Du Deinen Vater und Deine Mutter auf dass Du lange lebest in dem Lande, das der Herr, Dein Gott, Dir gegeben hat« (2. Buch Mose 20,12) ist manchmal als unreflektiertes Kritikverbot an Älteren missverstanden worden.
   Vermutlich spielen aber auch Widerstände gegen kritische Lebensbilanzen bei jedem Menschen mit zunehmenden Alter eine Rolle, da Trauerarbeit über Realschuld und irreversible Verfehlungen äußerst schmerzlich ist. Über die Unfähigkeit zu trauern ist schon viel geschrieben worden (Freud 1916/1917g, Mitscherlich u. Mitscherlich 1967), dennoch besteht ein hartnäckiger Widerstand, sich ernsthaft trauernd mit Schuld und Täterschaft alter Menschen zu beschäftigen.
   Wir befinden uns hier auf Neuland, entsprechende wissenschaftliche Studien fehlen. Die Rolle von Täterschaft und Schuld älterer Menschen ist nicht nur für den Bereich der Altersforensik relevant. Es geht nicht um späte Rache und Nachtreten bei Älteren – oft Menschen, die sich nicht mehr wehren können –, sondern um eine angemessene Würdigung der Lebenswege und Verstrickungen alter Menschen im Sinne einer respektvollen Entidealisierung, die ihren Schwerpunkt auf empathischem Verstehen und nicht besserwisserischer Moralisierung durch Jüngere legt.

Literatur

BMI – Bundesministerium des Inneren (2009) Polizeiliche Kriminalitätsstatistik (2008) Berlin.
Freud S (1905) Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie. GW 5, 1–119.
Freud S (1916/1917g) Trauer und Melancholie. GW 10, 428–446.
Görgen T (2007) Ältere und hochaltrige Gefangene. Herausforderung und Entwicklungschance für den Strafvollzug in kriminologischer Praxis 45: 5–11.
Greve W, Hosser D, Wetzels P (1996) Bedrohung durch Kriminalität im Alter. Kriminalitätsfurcht älterer Menschen als Brennpunkt einer Gerontoviktimologie. Baden-Baden (Nomos).
Hirsch RD (2006) Nahraumgewalt gegen ältere Menschen. Wie ist Vorbeugung möglich? Welche Hilfen benötigen Opfer? In: Görgen T, Nägele B (Hg) Wehrlos im Alter? Dokumentation einer Fachtagung und eines Expertenforums am 14. und 15.6.2006 in Hannover. Hannover, Berlin (Bundesministerium für Familien, Frauen, Jugend und Senioren).
Kinski P (2013) Kindermund. München (Insel).
Kohl W (2013) Leben oder gelebt werden. München (Integral).
Mitscherlich A, Mitscherlich M (1967) Die Unfähigkeit zu trauern. München (Piper).
Pohlmann, F (2009) Alterskriminalität. Informationsdienst Altersfragen 36: 7–11.
Schneider, HJ (2009) (Hg) Internationales Handbuch der Kriminalität. Berlin (de Gruyter).
von der Stein B (2007) Aggressive alte Männer: Zwischen Persönlichkeitsstörung, Naziideologie, Narzissmus und Identitätsdiffusion. Psychotherapie im Alter 4(1): 55–68.