13. Jahrgang 2016,
Heft 2: Eine Institution stellt sich vor
Christine Süssmann:
Das Friedhof Forum — Zürichs »Büro für die letzte Reise«
»Lange Nacht, dumme Ideen« – Was wir als letzten Programmpunkt für die Zürcher Museumsnacht 2013 geplant hatten, fand ein Journalist der Neuen Zürcher Zeitung pietätlos: eine mitternächtliche »Grusellesung« auf dem Friedhof Sihlfeld (Scherrer 07.09.2013). Zwei Tage später kamen die Leute trotzdem, und zwar in Scharen. Im Dunkel des Friedhofs las ein Schauspieler Tod eines Arbeiters von Ágota Kristóf und Der Grabhügel von den Brüdern Grimm vor. Unter der alten Blutbuche hatten sich um die 300 Personen versammelt. Manche hielten Fackeln, alle waren ganz still.
Beim Tod scheiden sich die Bedürfnisse
Dem Tod im 21. Jahrhundert eine Bühne zu geben, ist eine Herausforderung. Das Friedhof Forum wurde 2012 in Zürich am Eingang des Friedhofs Sihlfeld eröffnet. Das Profil ist in der Schweiz einzigartig: Kultur und Services zum Tod. Anfangs gab es da und dort Zweifel, ob ein solches Angebot auf Interesse stoßen würde. Heute ist klar, dass es das tut. Viele Veranstaltungen wurden gut besucht. Doch das Thema ist und bleibt sensibel. Wer Auseinandersetzungsmöglichkeiten zum Tod anbietet, unterscheidet bald zwischen Menschen mit und ohne aktuellen Todesfall. Deren Bedürfnisse liegen zum Teil weit auseinander. Die Lesung, fasst der NZZ-Journalist Scherrer zusammen, stoße jene vor den Kopf, »die sich erst kürzlich an gleicher Stelle von ihren Liebsten verabschieden mussten«. Für sie sei der Friedhof Sihlfeld »nicht mit einem Gefühl des Gruselns verbunden, sondern mit tiefer Trauer«.
Von Trauer betroffen sind in Zürich pro Jahr vermutlich weniger als zehn Prozent der Bevölkerung. Diese Personen gilt es bei Veranstaltungen auf dem Friedhof zu respektieren. Die besagte Lesung fand zu einem Zeitpunkt statt, an dem sich dort keine Trauernden aufhielten, auf ein Mikrofon wurde verzichtet. Über den Tod kann man sanft und tröstlich reden, auch sachlich und praktisch. Gegenüber Menschen in Trauer ist das eine sinnvolle Art des Gesprächs. In der übrigen Bevölkerung stößt man damit jedoch auf wenig Interesse. Distanz wegnehmen und überraschen – solche Qualitäten sind ein Muss, wenn der Tod für unsere Zeit neu entdeckt werden will. Man muss das Geschliffene und Sanfte, das allzu Vertraute aufbrechen, muss etwas Unerwartetes einbauen, den Tod in seiner Komplexität ins Spiel bringen. Gewagt haben solche Zugangsweisen in der Vergangenheit fast immer Personen, die sich beruflich nicht mit Trauernden befasst haben. Ein Beispiel ist die Ausstellung Last minute, die 1999 im Stapferhaus Lenzburg mit großem Erfolg realisiert wurde.
Kultur und Service zum Tod
Seit 1874 ist es Aufgabe der Stadtverwaltung, operativ für einen guten Umgang mit Todesfällen zu sorgen. Die dazu gehörigen psychisch-seelischen Bewältigungsstrategien wurden bis in die jüngere Vergangenheit fast ausschließlich von kirchlicher Seite offeriert. Heute kann es sein, dass ein Angestellter des Bestattungsamts die einzige Person ist, die bei einem Todesfall außerhalb der Familie kontaktiert wird. Rund ums Lebensende hat sich in den letzten Jahrzehnten viel verändert. Bei immer mehr »Kundenkontakten« registriert man im Bevölkerungsamt Unsicherheiten in Bezug auf den Tod und ein Bedürfnis nach Information und Reflexion. So entstand die Idee eines Kultur- und Servicezentrums zum Tod, das Friedhof Forum.
Das Friedhof Forum ist Teil des Bevölkerungsamts, dessen Aufgaben praktischer Natur sind. Hier erfolgen die meisten städtischen Kontakte mit der Bevölkerung – »Kundenzufriedenheit« ist ein wichtiges Ziel. Auch das Bestattungsamt ist hier eingeordnet, in dem ein überaus sorgfältiges Vokabular zum Thema Tod geübt und gepflegt wird. Es war fast unumgänglich, dass die heftigste Kritik an den Aktivitäten des Friedhof Forums von intern kam. Ein Kollege aus dem Bestattungsamt war entsetzt, als ein Filmstudent sich nachts auf dem Friedhof in einen Sarg legte, dorthin, wo dieser Bestatter jeden Tag verstorbene Menschen respektvoll bettet. Das Filmprojekt gehörte zu Keine Ahnung, einer Ausstellung, die wir 2014 mit Studierenden der Kunst, Gestaltung und Architektur realisiert haben. Die jungen Leute hatten keine Berührungsängste, den Tod auf ihre Weise frank und frei zu erforschen. Wir aber mussten uns Entscheidungskriterien erarbeiten, was auf dem Friedhof sein und nicht sein sollte.
Es gibt wenige Erfahrungen, die wirklich alle Menschen teilen wie Geborenwerden, Atmen, Essen, Trinken, Ausscheiden, Kommunizieren, Schlafen und Sterben. Es gibt auch wenige Kulturinstitutionen, die sich ausschließlich mit einer dieser Erfahrungen beschäftigen. Die bedeutendste Institution zum Thema Tod befindet sich in Kassel – das Museum für Sepulkralkultur. Auch an manchen Universitäten hat das Thema inzwischen einen Ort erhalten, zum Beispiel am Lehrstuhl für »Death and Society« an der Universität in Bath/UK. Ins Friedhof Forum kommen Menschen, die sich mit dem Tod befassen wollen, allerdings mit sehr unterschiedlichen Interessen. Manche besuchen ein Konzert mit »Liedern zum Schluss«, manche einen Vortrag über »Funeral Fashion in Ghana« oder die Patientenverfügung, andere interessieren sich für ein historisches Thema zum Tod oder nehmen an Führungen zu Friedhöfen oder Prominentengräbern teil. Wieder andere kaufen in unserem kleinen Shop Radiergummis in Knochenform, Honig vom Friedhof Sihlfeld oder Bücher zum Thema Tod, darunter auch zwei, die das Friedhof Forum selbst herausgegeben hat.
Die Verbindung von Kultur und Service mag überraschen. Das Friedhof Forum vermittelt einerseits sachliche Informationen, denn vor und nach einem Todesfall gilt es viele praktische Entscheidungen zu treffen. Auf dem Programm standen schon Fachveranstaltungen zum Thema Testament und Erbschaft oder ein Grabparcours. Andererseits ist der Tod seit eh und je in unserer Kultur präsent: In den Werken der bildenden Kunst, der Literatur oder Musik – als Ausdruck davon, dass Menschen das Bedürfnis haben, sich dem Tod mit Geschichten, Bildern und Klängen anzunähern. Entsprechend viel Platz nehmen im Friedhof Forum kulturelle Angebote ein. Im Jahr 2013 zeigten wir im alten Krematorium beispielsweise das Theaterstück Der Ackermann aus Böhmen, im Herbst 2014 präsentierte ein Architekturstudent in einer Abdankungshalle ein utopisches Bestattungsszenarium (Common Ground – Zentralfriedhof neu gedacht), im Frühling 2015 erlebten wir im Literaturhaus Zürich Eine Nacht in der Hölle. Die Veranstaltungsorte können wechseln und in Partnerinstitutionen stattfinden. Jedes Jahr zeigen wir im Friedhof Forum eine Ausstellung. Der Leichnam ist ab 16. Juni 2016 bis 29. April 2017 zu sehen: Thema ist der tote Körper, den die meisten Menschen heute kaum mehr erfahren, der aber umso häufiger in Krimis und anderen Filmen zu sehen ist. In Autobiografien, im Bild, in Ritualen oder Zahlen, auf dem Friedhof – an verschiedenen Orten sucht und fragt die Ausstellung nach dem Leichnam.
Friedhof ist ein sensibles Terrain
Zu einer zeitgemäßen und nützlichen Debatte über den Tod kann ein Friedhof Forum nur beitragen, wenn es ab und zu über den eigenen städtischen Schatten springt. Als besonders heikel haben sich bisher Aktivitäten auf dem Friedhof erwiesen. Im Jahr 2014 zum Beispiel stellten einige Architekturstudierende vor dem Friedhof Sihlfeld eine Bautafel auf, welche dessen Überbauung mit Wohnhäusern und einer Shoppingmall ankündigte und visualisierte. Das Plakat war zwar ein Kunstprojekt und gehörte zur Ausstellung Keine Ahnung, aber im Quartier gab es rote Köpfe. Zu sensibel sei der Ort für solche Scherze, fanden einige. »Soll unsere grüne Oase überbaut werden?«, fürchteten andere. Ein Friedhof im sich verdichtenden städtischen Raum ist unter Druck, insbesondere wenn er immer weniger belegte Grabfläche aufweisen kann. Dies mit einem – vielleicht etwas provokativen – Plakat zu thematisieren, bedeutet nicht, den Friedhof anzugreifen, sondern sich für ihn stark zu machen. Genau diese Art von Energie hat die Bautafel im Quartier auch freigesetzt.
Wo, wenn nicht auf dem Friedhof, sollen Fragen zum Tod disputiert werden? Wäre die Zürcher Bahnhofstraße ein besserer Ort? Im Sommer 2012 hatten wir den Plan, auf verschiedenen Grünflächen der Innenstadt von Zürich ausgediente Grabsteine als temporäre Installationen zu platzieren und so auf die anstehende Eröffnung des Friedhof Forums hinzuweisen. Statt der Inschriften zu Namen und Lebensdaten der Verstorbenen, auf deren Gräber diese Steine einst aufgestellt waren, hätten die Vorbeiflanierenden Fragen lesen können wie beispielsweise: Wohin gehört der Tod? Möchten Sie kremiert oder erdbestattet werden? Ist Sterben tabu? Das Projekt wurde schon innerhalb der Stadtverwaltung als zu provozierend empfunden und deswegen nicht realisiert.
Was ist schicklich? Eine große Frage in Zürichs »Büro für die letzte Reise«. Der Tod ist nicht nur besinnlich und ruhig, er hat auch eine gewaltsame und makabere Seite. Der tödliche Schauer beschäftigt unsere Gesellschaft heftig, kein Thriller oder Fantasyfilm kommt ohne ihn aus, auch kaum ein Computergame. Wie kann ein solches Phänomen reflektiert werden, wenn nicht ein weiterer alter Totentanz bemüht werden soll? Als der Bestattungsort noch ein geweihter Kirchhof war, durfte dieser danse macabre gruselig auf dessen Mauern aufgeführt werden. Heute eckt eine Lesung von etwas schauerlichen Texten aus der Weltliteratur auf dem säkularen Friedhof Sihlfeld an. Darüber einmal an Allerheiligen im Stadthaus zu diskutieren, wohin das Friedhof Forum jedes Jahr zu einem Podiumsgespräch einlädt, wäre wohl keine dumme Idee.
Literatur
Friedhof Forum (Hg) (2014) Das Eigene. Beiträge zum eigenen Tod von 65 Persönlichkeiten aus Kultur, Politik und Medien. Nach einer Idee und mit künstlerischer Begleitung von Nora Fehr. Zürich (Bevölkerungsamt Stadt Zürich).
Scherrer R (2013)»Lange Nacht, dumme Ideen«. Neue Zürcher Zeitung (NZZ) 07.09.2013.
Stapferhaus Lenzburg (Hg) (2004) Last minute. Ein Buch zu Sterben und Tod, Redaktion Sibylle Lichtensteiger. Baden (hier + jetzt).
Süssmann C u. Müller D (2013) Kremation. Vom Verbrennen der Toten in Zürich. In: Friedhof Forum (Hg). Zürich (Bevölkerungsamt Stadt Zürich).