Kritischer Zwischenruf zum Themenheft
“Psychotherapie und Palliativmedizin”
Angelika Trilling und Meinolf Peters:
...auch die verbale Interavention bei hochbetagten Patienten ist zu hinterfragen...
Vollmundig verkündet die Kassenärztliche Vereinigung (KV) Hessen auf ihrer Website, sich dafür einzusetzen, »dass es für die Menschen in Hessen auch künftig genügend niedergelassene Ärzte und Psychotherapeuten gibt, die ihnen helfen Krankheiten vorzubeugen, zu lindern und die sie nach dem aktuellen Stand der Medizin behandeln«. Weiter dient sie sich an, ihre Mitglieder »in allen Fragen rund um die Niederlassung, Praxisführung und Abrechnung« zu beraten, sowie die Praxen bei »der Qualitätssicherung zu gleichbleibender Qualität« zu unterstützen und »umfangreiche Fortbildung« zu leisten. In der Auseinandersetzung mit einem ihrer Mitglieder schlug sie bzw. die von ihr paritätisch mit den Krankenkassen gemäß §106 Abs. 4 SGB V betriebene »gemeinsame Prüfungsstelle« indes Töne an, die einen erschreckenden Mangel an gängigem gerontologischen und psychotherapeutischen Fachwissen offenbar werden lassen.
Was war geschehen?
Im Juli 2015 forderte die Geschäftsstelle Kassel der besagten Prüfungsstelle einen Allgemeinmediziner mit psychotherapeutischer Zusatzausbildung zu erheblichen Rückzahlungen auf. An seinem »Abrechnungsgebaren« »hinterfragt« sie dabei unter anderem »die verbale Intervention bei hochbetagten Patienten«. Allein im ersten Quartal 2012 habe er diese bei dreizehn Patienten, die das 90. Lebensjahr überschritten hatten, abgerechnet. Zur Begründung der Ablehnung wird der entsprechende Abschnitt des §21 Psychotherapie-Richtlinie zitiert: »Die verbalen Interventionen orientieren sich in der psychosomatischen Grundversorgung an der jeweils aktuellen Krankheitssituation; sie fußen auf einer systematischen, die Introspektion fördernden Gesprächsführung und suchen Einsichten in psychosomatische Zusammenhänge des Krankheitsgeschehens und in die Bedeutung pathogener Beziehungen zu vermitteln.«
Die KVs, ursprünglich als reine Interessenvertretung der »Kassenärzte« gegenüber der Macht der durch die Bismarck’sche Sozialgesetzgebung neu entstandenen Krankenkassen geschaffen, wurden mit der »Verordnung über die Kassenärztliche Vereinigung Deutschlands« 1933 gleichgeschaltet und zu einem parastaatlichen Exekutivorgan. Nach 1945 organisierten sich die KVs zwar wieder föderal auf der Ebene der Bundesländer, doch behielten sie ihre nicht unproblematische Zwitterstellung als Interessenvertretung der Ärzte einerseits und staatlicher Kontrollinstanz andererseits bei, wie die gemeinsame Prüfungsstelle etwa zeigt.
Nun ist angesichts kontinuierlich steigender Ausgaben im Gesundheitswesen durchaus nachvollziehbar, dass die Prüfungsstelle, die schließlich den Auftrag hat, Feststellungen und Entscheidungen für die Beurteilung der Wirtschaftlichkeit ärztlicher Leistungen zu treffen, nach Möglichkeiten sucht, auf die Kostenbremse zu treten. Nicht nachzuvollziehen ist allerdings, dass eine Einrichtung, in der paritätisch Vertreter der niedergelassenen Ärzteschaft sitzen, eine so eigenwillige Altersbeschränkung für die Inanspruchnahme verbaler Intervention einführt, für die weder die medizinische Forschung noch die Psychotherapie-Richtlinie die geringsten Anhaltspunkte liefern.
Man mag dies als bedauerlichen Ausdruck fachlicher Überforderung abtun. Doch spricht daraus nicht eher ein besorgniserregendes Beharren auf einem Altersbild, das man in seiner Undifferenziertheit durch Jahrzehnte erfolgreicher Alternswissenschaft und Alternsmedizin längst überwunden geglaubt hat? Uns geben diese Vorkommnisse zu denken, und wir wollen entsprechende Entwicklungen weiterhin kritisch begleiten und kommentieren.
Übrigens: Entnervt von den Auseinandersetzungen mit der Prüfungsstelle hat besagter Allgemeinarzt inzwischen seine Praxis aufgegeben und sich im benachbarten Ausland niedergelassen. Schade eigentlich, wo sich doch die KV so um den Erhalt der Praxen und die Arbeitsfreude ihrer Mitglieder sorgt ...