Simon Forstmeier: Editorial zum Themenheft “Übergänge”
Übergänge, Krisen im Alter und deren Bewältigung
Herbsttag
Herr: es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß.
Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren,
und auf den Fluren lass die Winde los.
Befiehl den letzten Früchten voll zu sein;
gib ihnen noch zwei südlichere Tage,
dränge sie zur Vollendung hin und jage
die letzte Süße in den schweren Wein.
Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr.
Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben,
wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben
und wird in den Alleen hin und her
unruhig wandern, wenn die Blätter treiben.
Rainer Maria Rilke (2012, 10)
In der Lyrik finden sich die Jahreszeiten häufig mit symbolischer Bedeutung. In diesem, 1906 veröffentlichten Gedicht, das zu einem seiner bekanntesten gehört, verwendet Rainer Maria Rilke den Herbst symbolisch für diejenige Phase des Lebens eines Menschen, die durch Vergänglichkeit, wachsende Einsamkeit und das Nahen des Winters des Lebens gekennzeichnet ist. Die Übergänge von einer Jahreszeit zur nächsten bergen Hoffnungen und Befürchtungen.
Genauso – könnte man sagen – ist es auch mit den Übergängen im Lebenslauf eines Menschen. Die Lebensspanne wird heute in vier Lebensalter eingeteilt, vom ersten bis zum vierten Alter (Martin u. Kliegel 2014). Damit können wir von zwei Übergängen (auch Transitionen genannt) in der zweiten Lebenshälfte sprechen: vom Übergang in das dritte Alter (dem »Herbst« des Lebens) und dem Übergang in das vierte Alter (dem »Winter« des Lebens). Während der Übergang in das dritte Alter durch das Erlangen neuer Freiheiten (vom Beruf, von Verpflichtungen) und durch die Herausforderungen sozialer und Rollenverluste (z. B. Arbeitstätigkeit) gekennzeichnet ist, wird der Übergang in das vierte Alter häufig von einer Zunahme körperlicher und kognitiver Abbauprozesse begleitet. Einen dritten Übergang könnte man zu diesen beiden noch hinzufügen, nämlich das Sterben, den Übergang in den Tod.
Teil dieser Übergänge sind normative Lebensereignisse wie die Berentung und der Tod der Eltern, die quasi von jeder Person in einer ähnlichen Lebensphase erlebt werden. Ferring (in diesem Heft) beschreibt ausführlich eine Systematik von Lebensereignissen, in der neben den normativen die nicht normativen und die epochal-normierten Ereignisse stehen. Als nicht normativ gelten idiosynkratisch auftretende Ereignisse, wie Unfälle, Überfälle oder unerwartete Verluste, als epochal-normiert historische Ereignisse, die bestimmte Generationen betreffen, beispielsweise der Zweite Weltkrieg.
Im vorliegenden Heft werden verschiedene Lebensereignisse und Übergänge thematisiert: Es geht um Umzüge (Depner), Krisen in der Partnerschaft (Ruhwinkel), Fürsorge durch die eigenen Kinder (Hedtke-Becker et al.), Sterben (Spang u. Züger; Lindner) sowie um weitere existenzielle Themen wie Isolation und Sinnlosigkeit (Noyon).
Wenn wir in der Beratung und Psychotherapie von Menschen im höheren Lebensalter tätig sind, dann geht es regelmäßig um die Bewältigung beziehungsweise Anpassung an derartige Übergänge und Lebensereignisse. Dass ältere Menschen ein enormes Potenzial an Bewältigungsressourcen aufweisen, zeigt das bekannte Phänomen des Wohlbefindens-Paradoxes (Staudinger 2000), demzufolge trotz den alterstypischen körperlichen, kognitiven und sozialen Verlusten individuelles Wohlbefinden und Lebenszufriedenheit relativ stabil bleiben oder sogar zunehmen. Modelle erfolgreichen Alterns heben besonders selbstregulative und soziale Kompetenzen zur Bewältigung hervor. Die Artikel in diesem Heft bieten wunderbare Beispiele für ein Zusammenspiel dieser beiden Kompetenzen.
Eine zu einseitige Fokussierung auf diese personalen Kompetenzen wie Selbstregulation würde soziale Ressourcen wie die Unterstützung des Partners oder der Kinder außer Acht lassen. In der Tat haben schon früh Antonucci und Jackson (1987) in ihrem »support-efficacy model« darauf hingewiesen, dass unterstützende Personen dabei helfen können, sich an die Herausforderungen des Alterns anzupassen, indem sie dabei helfen, Selbstwirksamkeit aufzubauen und Ziele zu erreichen. Regelmäßig zu hören, dass man etwas schaffen wird, fähig und wertvoll ist, trägt zur Steigerung der Selbstregulation und damit zur Bewältigung bei.
Zur Wirklichkeit gehört aber auch, dass ältere Menschen soziale Unterstützung vielfach nicht annehmen möchten. Das fängt beim Nachbarn an, der für einen kochen möchte, und geht bis zum Kind, das bei der Pflege helfen möchte. Hinter dieser Ablehnung von Hilfe steht häufig die Angst davor, die eigene Selbständigkeit aufzugeben. Denn es ist ein schmerzhafter Prozess, Autonomie zu verlieren, vom fürsorgenden zum hilfsbedürftigen Elternteil zu werden. Input von außen, vom Psychotherapeuten oder Berater, kann oft leichter angenommen werden als Hilfsangebote oder Ratschläge von Familienangehörigen.
Ob wir also die Kompetenzen älterer Menschen oder die irritierende Auflehnung gegenüber Hilfe fokussieren, psychotherapeutische Gespräche sind ein Beispiel für die erwähnten sozial vermittelten Anpassungsleistungen. In den Artikeln dieses Heftes finden Sie eine Reihe von therapeutischen Strategien, die zur Bewältigung der Übergänge und Lebensereignisse im Alter beitragen. Es ist das Anliegen dieses Heftes, die Leserschaft über den aktuellen Stand der relevanten Forschung zu informieren und unterschiedliche Ansätze für die eigene Praxis anzubieten.
Literatur
Antonucci TC, Jackson JS (1987) Social support, interpersonal efficacy, and health: A life course perspective. In: Carstensen LL, Edelstein BA (Eds) Handbook of clinical gerontology. Elmsford, NY (Pergamon Press) 291–311.
Martin M, Kliegel M (2014) Psychologische Grundlagen der Gerontologie. 4. Aufl. Stuttgart (Kohlhammer).
Rilke RM (2012) Herbst. Berlin (Insel).
Staudinger U (2000) Viele Gründe sprechen dagegen und trotzdem geht es vielen Menschen gut. Das Paradox des subjektiven Wohlbefindens. Psychologische Rundschau 51: 185–197.