14. Jahrgang 2017,
Heft 1: Eine Institution stellt sich vor
Manuela Gallunder, Gerhard Hermann und Günter Klug:
Neue Wege und Chancen durch außerstationäre alterspsychiatrische Betreuung und Behandlung: SOPHA (Sozialpsychiatrische Hilfe im Alter)
Einleitung
Die derzeit in ihrer Form österreichweit noch einzigartige Einrichtung SOPHA besteht seit dem Jahr 2000. Der Aufgabenschwerpunkt liegt in der mobilen alterspsychiatrischen Betreuung und Unterstützung von älteren (65+) psychisch erkrankten Menschen in ihrem Wohnumfeld. SOPHA kommt zum Einsatz, wenn persönlich ein erschwerter Zugang zu ambulanten Diensten (z.B. Psychosozialen Zentren) gegeben ist, bedingt durch die Schwere der (altersbedingten) psychiatrischen Erkrankung in Kombination mit Multimorbidität und sozialem Rückzug bzw. allgemein, wenn die psychosoziale Belastung nur im direkten Wohnumfeld effektiv bearbeitet werden kann. Die BetreuerInnen von SOPHA beobachten und analysieren Wechselwirkungen zwischen sozialen, psychologischen und biologischen Faktoren und beziehen Familie, psychischen und physischen Zustand, Wohnsituation und die Biografie gezielt in Präventionsmaßnahmen und therapieorientierte Betreuung mit ein. Der Einsatz komplexer Betreuungsinterventionen basierend auf qualifiziertem Wissen über sozialpsychiatrische und alterspsychiatrische Frage- und Problemstellungen, ist für eine erfolgreiche Betreuung unentbehrlich. International publizierte Studien (vgl. Banerjee et al. 1996; Klug et al. 2010; Stobbe et al. 2014) zeigen, dass dieser Ansatz nicht nur zur Verbesserung von Lebensqualität und Krankheitssymptomen und somit zu einer besseren psychosozialen Funktionalität beiträgt, sondern auch, dass die Versorgungskosten im Vergleich zur zumeist inadäquaten Pflegeheimversorgung signifikant geringer sind.
Auf diese Weise hat sich das Modell der mobilen alterspsychiatrischen Versorgung von SOPHA Graz zu einem Best Practice Modell entwickelt. Es gilt als eines der derzeit wenigen funktionierenden und belegten Modelle zur mobilen Betreuung im Altersbereich 65+, das sich an einem Versorgungskostenrahmen (ohne wissenschaftliche Zusatzgelder) orientiert und seit vielen Jahren stabile Versorgung auf hohem qualitativen Niveau leistet.
Grundsätze in der Betreuungsarbeit
Schwierige Lebensbedingungen, inadäquate oder fehlende Bewältigungsstrategien und genetische Konstellationen führen im Zusammenwirken nicht zuletzt bei zusätzlich ungünstigen Umweltbedingungen oft zu erheblichen psychischen Beeinträchtigungen. Daher ist eine grundsätzliche Ausrichtung an der Salutogenese und an bestehenden Resilienzfaktoren erforderlich.
Menschen, die mit einer psychischen Erkrankung alt geworden sind, haben zusätzlich zur psychiatrischen Grunderkrankung zumeist weitere (körperliche) Erkrankungen, die sie wiederum psychisch belasten. Multimorbidität ist bei älteren Menschen eher die Regel, was teilweise andere Anforderungen an die sozialpsychiatrische Betreuung stellt als bei jüngeren Erwachsenen. Die komplexen Erkrankungssituationen und die Chronizität führen im Einzelfall zu einem höheren Betreuungs- und insbesondere Vernetzungsaufwand als bei Jüngeren. Dadurch lässt sich aber ein längerer Erhalt der selbst gewählten Wohnfähigkeit mit stabilerer Versorgungssituation und weniger stationären Aufenthalten bzw. insgesamt geringeren Versorgungskosten realisieren. Die Realität zeigt, dass die Notwendigkeit sozialpsychiatrischer Behandlung und Betreuung aufgrund körperlicher Erkrankungen oft übersehen bzw. vernachlässigt wird, wodurch außerstationäre Wohnfähigkeit schnell gefährdet ist.
Die Würdigung des Menschen und seiner Lebenserfahrung, die Akzeptanz und das Verständnis für die individuelle Situation, ein aufrichtiges, vertrauensbasiertes Beziehungsangebot und emotionale Zuwendung als Kernelemente und nicht zuletzt das sich Einlassen auf die Komplexität der Lebenswelt des Betroffenen, die Begegnung auf Augenhöhe, das Wahren von Gegenseitigkeit und das Einwirken auf Handlungs-, Bedeutungs- und Verständigungsmuster des Einzelnen und des Umfeldes sowie die Akzeptanz des eigenen Älterwerdens sind wesentliche Grundsätze unserer Arbeit.
Der Mensch als Ganzes im sozialen Feld, in seiner Lebenswelt steht im Zentrum des Handelns der SOPHA MitarbeiterInnen.
Wie hilft die sozialpsychiatrische Betreuung im Alter?
Die Zusammenarbeit innerhalb von SOPHA erfolgt multiprofessionell. Das Team besteht aus SozialarbeiterInnen, Klinischen PsychologInnen und GesundheitspsychologInnen, einer psychiatrischen Krankenschwester und einem Facharzt für Psychiatrie.
Ressourcenorientiertes Arbeiten zur Verbesserung der Lebensqualität, zur Erhaltung von Kompetenzen bzw. zur Entwicklung von Ersatzkompetenzen und zur Erhaltung bzw. Verbesserung der psychosozialen Funktionalität sowie ausreichend Zeit, um den individuellen Hilfebedarf gewährleisten zu können, Kontinuität und Regelmäßigkeit in der Betreuung, das Herstellen einer vertrauensvollen therapeutischen Beziehung, die Installierung, Vernetzung, Beratung und Kooperation von und mit externen Hilfen (praktische Ärzte, Fachärzte, Krankenhäuser, Hauskrankenpflege usw.) im Sinne eines Case Managements und nicht zuletzt die Beratung, Aufklärung und Unterstützung von Angehörigen tragen zur Entlastung und Stabilisierung des Systems bei und sind essenzielle Elemente, die sich positiv auf die Gesamtsituation der Betroffenen auswirken (siehe Abb. 1).
Durch diese bedarfsorientierten Maßnahmen der mobilen sozialpsychiatrischen Betreuung im Alter lässt sich ein Heimaufenthalt häufig verhindern oder zumindest länger hinauszögern.
International sind Menschen mit allgemeinpsychiatrischen Erkrankungen im Alter in der psychiatrischen Betreuung und Behandlung auf Grund fehlender adäquater Betreuungseinrichtungen im Vergleich zu Jüngeren massiv benachteiligt. Dass bei geeigneter Betreuung und Behandlung Erfolge mit den Erfolgen bei der Behandlung Jüngerer aber vergleichbar sind, konnte beispielsweise Cuipers (1998) mit einem aufsuchenden Angebot für ältere Depressive nachweisen. Die psychiatrische Betreuung und Behandlung wird als insgesamt sehr sinnvoll bewertet. Ein wirtschaftlicher Nutzen bzw. Einsparungsmöglichkeiten seitens der öffentlichen Hand sind dokumentiert.
Die sozialpsychiatrische Betreuungsarbeit soll somit insbesondere folgendes fördern:
Stärkung der Autonomie und Annäherung an das Ziel einer möglichst selbstbestimmten Lebensform
Akzeptanz der jeweils individuell erforderlichen formellen oder informellen Hilfen (z.B. mobile Dienste, Hauskrankenpflege)
Adäquate Hilfestellung bei entsprechend individueller Problemstellung und individuellem Krankheitsverlauf
Erarbeitung eines individuellen Betreuungsplanes
Konstruktiver, entwicklungsfördernder Umgang mit psychosozialer und/oder psychiatrischer Beeinträchtigung (auch bei körperlichen Einschränkungen)
Lebenspraktische Kompetenzen, Beziehung zu sich selbst und zu anderen (Verbesserung von Außenkontakten bzw. Außenbeziehungen – soziale und gesellschaftliche Integration)
Teilnahme und Teilhabe am gesellschaftlichen Leben
Fördern von Ressourcen, deren Erhaltung und nach Möglichkeit Erweiterung und damit Erweiterung des persönlichen Handlungsspielraums
Arbeit zur Sicherstellung allenfalls erforderlicher therapeutischer Zusatzangebote und (fach-)ärztlicher Betreuung
Entwickeln und Stärken der Fähigkeit, eigene Wünsche und Bedürfnisse zu erkennen und zum Ausdruck zu bringen
Lebenslange Persönlichkeitsbildung und Entwicklung unter Integration bisheriger Lebenserfahrungen, Auseinandersetzung mit Tod und Sterben mit Blick auf ein versöhnliches Lebensende
Fazit
Auf Grund der demografischen Entwicklung (vgl. Berner et al. 2001) wächst das Problem der alterspsychiatrischen Versorgung weiterhin stetig an. Das Modell von SOPHA leistet, wenn auch nur ressourcenbedingt in geringem Ausmaß, einen wesentlichen Beitrag zur außerstationären alterspsychiatrischen Versorgung. SOPHA kommt dem Wunsch der Betroffenen entgegen, möglichst lange ihren Lebensabend zu Hause verbringen zu können. Die erste Grazer Pilotstudie mit zwölf durchschnittlich 76 Jahre alten, an Depressionen oder wahnhafter Störung leidenden Personen gab Hinweise, dass durch mobile sozialpsychiatrische Hilfe im Alter die Lebensqualität verbessert und die psychische Situation stabilisiert werden kann. Keine der Personen musste zudem im Untersuchungszeitraum eines Jahres stationär psychiatrisch behandelt werden oder in ein Pflegeheim übersiedeln (vgl. Klug et al. 2008). In einer Randomisierungsstudie konnte in weiterer Folge gezeigt werden, dass betreute depressive ältere Menschen sowohl nach drei Monaten als auch nach einem Jahr signifikant weniger Depressivität und signifikant bessere Lebensqualität und psychosoziale Funktionalität im Vergleich zur Gruppe nicht betreuter Personen aufwiesen. Zudem konnte belegt werden, dass betreute ältere depressive Menschen im Vergleich zur Gruppe nicht betreuter Personen signifikant weniger psychiatrisch stationäre oder Pflegeheimaufenthalte hatten. Die betreute Gruppe verursachte nur 42% der Versorgungskosten im Vergleich zur nicht betreuten Gruppe (vgl. Klug et al. 2010). Im Sinne aller Beteiligten bietet SOPHA im Kontext mit allen relevanten Versorgungspartnern somit einen Versorgungsbaustein an, dessen Weiterentwicklung und Erweiterung höchst sinnvoll ist (vgl. das Grazer Gerontopsychiatrisches Modell, dargestellt von Klug et al. 2004).
Literatur
Banerjee, S, Shamash K., MacDonald AJD et al. (1996) Randomised controlled trial of effect of intervention by psychogeriatric team on depression in frail elderly people at home. British Medical Journal 313: 1058–61.
Berner J, Krautgartner M, Wancata J (2001) Krankenbestände und Neuerkrankungen von Demenzkrankheiten in den österreichischen Bundesländern in den Jahren 2000 bis 2050. Gemeindenahe Psychiatrie 22(1): 14–32.
Cuipers P (1998) Psychological outreach programmes for the depressed elderly: a meta-analysis of effects and dropout. International Journal of Geriatric Psychiatry 13, 41–48.
Klug G, Hermann G., Fuchs-Nieder B, Panzer M, Haider-Stipacek A, Zapotoczky HG, Priebe S (2010) Effectiveness of home treatment for elderly people with depression: randomised controlled trial. Br J Psychiatry 197: 463–67.
Klug G, Hermann G, Fuchs-Nieder B, Stipacek A, Zapotoczky HG (2008) Geriatric psychiatry home treatment (GHT). A pilot study on outcomes following hospital discharge for depressive and delusional patients. Arch of Gerontol and Geriatr 47(1): 109–20.
Klug G (Hg) (2004) GGPM – Grazer Gerontopsychiatrisches Modell. Brennpunkte außerstationäre Versorgung. Neuropsychiatrie 18(S1). Oberhaching b. München: Dustri-Verlag.
Stobbe J, Wierdsma AI, Kok RM et al. (2014) The effectiveness of assertive community treatment for elderly patients with severe mental illness: a randomized controlled trial. BMC Psychiatry 14: 42.