14. Jahrgang 2017,

Heft 2: Eine Institution stellt sich vor

Hartmut Wolter:

Wohnen und Lernen unter einem Dach

30 Jahre Freie Altenarbeit Göttingen e.V. (FAG)

Im Oktober 2016 hat die Freie Altenarbeit Göttingen e.V. (FAG) zu einer großen Jubiläumsfeier eingeladen. Mit über 130 Gästen wurde auf 30 Jahre FAG zurückgeblickt. Die FAG hat in Göttingen und über die Stadtgrenzen hinaus vielfältige Projekte angestoßen, mit denen die Menschen in der Region neue Möglichkeiten zur selbstbestimmten Gestaltung des Alters, Alterns und Älterwerdens erfahren und umsetzen konnten. Wesentlich ist der ideelle Anspruch des Vereins als Innovationsmotor in der Region, das freiwillig-bürgerschaftliche Engagement neu zu gestalten und damit auch auf die professionelle Arbeit mit (alten) Menschen einzuwirken. Das übergreifende Ziel ist die Entwicklung neuer, nachhaltiger, kritischer wie auch selbstkritischer Arbeitsansätze zur Verbesserung des Gemeinwesens in Hinblick auf die demografischen Entwicklungen und auf das Älterwerden. Diese Gedanken unterscheiden den gemeinnützigen Mitgliederverein der FAG von anderen sozialen Unternehmen in der Dienstleitungsbranche. In der FAG steht der Mensch im Mittelpunkt des Interesses und nicht die Dienstleistung.

Zur Entstehung des Vereins

Am Anfang stand in den 1980er Jahren der Wunsch von Auszubildenden in der Altenpflege nach Alternativen zu den Arbeitsmöglichkeiten in der stationären Pflege beziehungsweise in der damals noch gering ausgebauten ambulanten Pflege. Gemeinsam mit dem Schulleiter der Göttinger Altenpflegeschule, Michael Jasper, wollten sie von älteren Menschen in Göttingen erfahren, wie sie sich ihr Älterwerden und die damit verbundene Wohn- und Lebensform vorstellten. Daraus entwickelte sich das »Sonntagsstübchen«, ein erster Treffpunkt von älteren Göttingern und jungen Auszubildenden in einem Göttinger Café. Aus diesen themenzentrierten Treffen am Sonntagnachmittag ist ein Generationendialog auf Augenhöhe entstanden, der sich bis heute fortsetzt. Als Slogan der Gruppe hat sich der Satz: »Nicht allein und nicht ins Heim« etabliert.

Biografiearbeit in der FAG

Nach der Gründung der ersten selbstorganisierten Alten-WG in Göttingen im Jahr 1994 rückte die Biografiearbeit in den neuen Vereinsräumen »Am Goldgraben«, also »Tür an Tür« mit der Alten-WG, zunehmend in den Mittelpunkt der Vereinsaktivitäten. Auf Initiative älterer Vereinsmitglieder begann die FAG mit der Entwicklung und dem Aufbau des Göttinger Zeitzeugenprojekts. Ältere Menschen äußerten den Wunsch, mit Jüngeren über ihre Vergangenheit, die meist besonders durch Erfahrungen und Erlebnisse in der NS-Zeit geprägt war, ins Gespräch zu kommen.
   Mit dem Göttinger Zeitzeugenprojekt hat das Haus »Am Goldgraben 14« einen neuen Doppelcharakter erhalten, nämlich Bildung bzw. Begegnung und Wohnen unter einem Dach anzubieten. Die sich anschließend entwickelnden biografisch-pädagogischen Arbeitsweisen haben zu neuen Kommunikations- und Lernräumen für Menschen unterschiedlichster Herkunft, Lebensformen und -stilen geführt. Man kann sagen, dass sich das Haus, ausgehend vom Göttinger Zeitzeugenprojekt, zu einem interkulturellen Begegnungsort entwickelt hat.

Erzählcafés

Auf der Grundlage von Theorien aus der Biografieforschung (Alheit 2006, Kade 2001, Rosenthal 1995) und der pädagogischen Biografiearbeit wird seit 1996 Menschen in den Erzählcafés der FAG durch das freie Erzählen ein moderierter Reflexionsraum geboten. Unter dem Motto »erinnern – erzählen – verstehen« werden Lebensgeschichten entsprechend dem jeweils eigenen Erleben erinnert, gemeinsam mit einer Moderation für das Erzählcafé strukturiert, im Erzählcafé für die Zuhörenden erzählt und gemeinsam reflektiert (Abb.1). Diese Form des Erzählcafés versteht sich auch als moderiertes, nicht wertendes Rundgespräch. Es geht dabei nicht um die Gestaltung von Veranstaltungen mit prominenten Erzählenden und passiven Zuhörenden, sondern um den gemeinsamen Dialog in vertrauensvoller Atmosphäre.
   Regelmäßig am ersten Mittwoch im Monat bietet die FAG ein solches Erzählcafé an, das von etwa 20 bis 50 Gästen besucht wird. In Abhängigkeit von Themen und Kooperationspartnern kommen auch bis zu 80 Personen zu den öffentlich angekündigten, kostenfreien Veranstaltungen. Das Alter der Gäste reicht von Anfang 20 bis über 80 Jahre und ist ebenfalls abhängig von den Inhalten der jeweiligen Erzählcafés. Die von einer Planungsgruppe erarbeiteten Halbjahresprogramme greifen aktuelle politische Fragestellungen auf, aber auch historische, kulturelle und soziale Themen sowie besondere Alltagserfahrungen, zu denen Zeitzeugen zur Verfügung stehen. Unter Zeitzeugen werden Menschen aller Altersgruppen mit Erinnerungs-, Reflexions-, Erzähl- und Dialogfähigkeit verstanden, die öffentlich aus ihrem Leben erzählen wollen und können (Meyer 2007).

Weiterentwicklungen im Göttinger Zeitzeugenprojekt

Mindestens einmal im Jahr biete die FAG die Fortbildung »Erzähl doch mal – Moderation von Erzählcafés« an. Regelmäßig nehmen gemischte Gruppen von freiwillig Engagierten und hauptamtlich in der Seniorenarbeit Tätigen daran teil. In der Region um Göttingen werden mittlerweile an über 30 Standorten regelmäßig Erzählcafés angeboten, die sich jedoch hinsichtlich der Formate und Zielgruppen unterscheiden. Die FAG lädt alle Erzählcafé-Standorte jährlich zum Vernetzungstreffen »Region des Erzählens« ein, um einen kontinuierlichen Erfahrungsaustausch zu ermöglichen. Ergänzend wird halbjährlich die »Werkstatt Erzählcafé« als Ideen- und Methodenbörse in den Räumen der FAG durchgeführt. Mit dem »Rollenden Erzählcafé« wird Veranstaltern im ländlichen Raum die Chance geboten, dieses Veranstaltungsformat für besondere Anlässe in ihren Ort zu holen.
   Bedingt durch die Nähe zur Universität in Göttingen gibt es außerdem beispielsweise Studentengruppen, die sich im Rahmen von Praxisseminaren oder eigener Projekte mit der Methode Erzählcafé theoretisch befassen und sie in der Regel auch praktisch gestalten. Die Studierenden beteiligen sich dazu entweder an der Planung und Moderation von Erzählcafés in den Räumen der Freien Altenarbeit oder veranstalten eigenständige Erzählcafés an selbstgewählten Orten.
   Ergänzend zu den offenen Angeboten des Göttinger Zeitzeugenprojekts treffen sich regelmäßig geschlossene, themenbezogene Biografiegruppen in der FAG sowie Gruppen, die gemeinsam an den Veranstaltungsreihen »Biografisches Schreiben« oder »Kreatives Schreiben« teilnehmen. Ein weiterer Zweig, der sich aus der Zeitzeugenarbeit entwickelt hat, ist das Projekt »Trug und Schein« , in dem ein vollständig erhaltener Briefwechsel eines Liebespaares aus den Jahren 1938 bis 1946 gemeinsam aus dem Sütterlin übersetzt und dokumentiert wird.
   Seit Herbst 2015 ist eine weitere Gruppe aus dem Göttinger Zeitzeugenprojekt heraus entstanden, die neue Angebote für Geflüchtete in Göttingen entwickelt. Insbesondere die älteren Zeitzeugen/innen haben selbst als Jugendliche oder Kinder Krieg, Flucht und/oder Vertreibung erlebt und wollen in Anbetracht der aktuellen Zuwanderung unterstützend tätig sein. Mittelfristig strebt diese Gruppe an, mit Geflüchteten eine besondere Form des Erzählcafés zu gestalten. Dabei geht es darum, der »Fremdheit« zu begegnen. Zum einen sollen diese Erzählcafés an möglichst ungewöhnlichen beziehungsweise »fremden« Orten stattfinden. Zum anderen werden diese Erzählcafés von Erzähltandems vorbereitet. Beispielsweise berichten sich ein junger Syrer und eine ältere Frau aus Göttingen gegenseitig ausführlich ein bestimmtes Alltagsthema. Das Gehörte wird anschließend so aufbereitet, dass die Tandempartner jeweils die Geschichte ihres Partners in der Ich-Form gemeinsam in einem Erzählcafé wiedergeben können. Diese zusätzlichen Irritationen sollen die Effekte in der eigenen Begegnung mit der »Fremdheit« verstärken. Die Erzählungen sind auf diese Weise nicht gewöhnlich und rund sondern sie werfen Fragen auf, fordern Aufmerksamkeit heraus und spiegeln unvertraute Situationen, ähnlich wie sie von Geflüchteten Menschen hier erlebt

Weitere Tätigkeitsfelder der FAG

Mittlerweile bietet der Verein dreieinhalb Arbeitsstellen für sechs Beschäftigte, projektbezogen sind mehrere Honorarkräfte für die FAG tätig sowie über 50 freiwillig Engagierte. Die Tätigkeitsschwerpunkte der FAG umfassen neben dem Göttinger Zeitzeugenprojekt die Verwaltungsaufgaben in der Alten-WG, die mobile Wohnberatung Südniederniedersachsen, die Dorfmoderation sowie Projekte, die zur Förderung der Lebensqualität im Sozialraum beitragen.

Literatur

Alheit P (2006) Das Leben gestalten. Biografisch lernen – biografisch lehren. Nicht veröffentlichte, leicht überarbeitete Fassung eines Vortrags am 06. Oktober 2006 an der Universität Flensburg aus Anlass einer Fachtagung
Kade S (2001) Selbstorganisiertes Alter. Lernen in reflexiven Milieus. Bielefeld (Bertelsmann).
Meyer R (2007) Göttinger Erzählcafé Am Goldgraben – Ort des öffentlichen Erinnerns und des Generationengesprächs. Fachzeitschrift für politische Jugend- und Erwachsenenbildung des AdB 38(2): 224–228.
Rosenthal G (1995) Erlebte und erzählte Lebensgeschichte: Gestalt und Struktur biographischer Selbstbeschreibungen. Frankfurt/M (Campus).