Meinolf Peters: Editorial zum Themenheft “Stationäre Psychotherapie in der Psychosomatik”

Psychosomatische Kliniken und ältere Patienten

Eine Beziehung am Scheideweg?

Mein gesamtes Berufsleben lang hatte ich ein »Standbein« in Psychosomatischen Kliniken und seit nunmehr fast drei Jahrzehnten richtet sich mein überwiegendes Interesse auf die Behandlung älterer Patienten dort. In habe versucht, Impulse zu setzen und Entwicklungen anzuregen, um diese Gruppe von Patienten mehr in den Fokus der Kliniken zu rücken. Mit Erreichen meines 65. Lebensjahres ist diese Phase meines Berufslebens zu Ende gegangen. Was hat mich so lange Zeit daran festhalten lassen; auch dann noch, als ich mir längst andere Tätigkeitsfelder erschlossen hatte und zudem grundlegende Schwierigkeiten bei der Implementierung entsprechender Schwerpunkte nicht mehr zu übersehen waren? Wie sieht die Bilanz nach so vielen Jahren aus?
   Die Psychosomatischen Kliniken haben sich in den letzten beiden Jahrzehnten grundlegend gewandelt. Zum einen ist ein Trend zur Spezialisierung bzw. zur Ausformulierung indikationsspezifischer Konzepte festzustellen. Wurde in früheren Zeiten gewissermaßen nach einem »Einheitskonzept« behandelt, finden sich heute in den meisten Kliniken spezifische Angebote für einzelne Krankheitsbilder oder Patientengruppen. Zu diesen Gruppen zählen auch ältere Patienten, der Trend kommt also auch dieser Gruppe zugute. Zum anderen besteht ein Trend zur wissenschaftlichen Fundierung der Behandlung, der sich vor allem in dem gewachsenen Umfang empirischer Forschung und Evaluierung der Konzepte zeigt. Zahlreiche Kliniken haben entweder selbst Forschungsaktivitäten entwickelt oder sind Kooperationen mit universitären Einrichtungen eingegangen, um ihre Behandlungsergebnisse zu überprüfen.  Beide Entwicklungen haben zweifellos überwiegend positive Effekte, verleihen sie den Kliniken doch eine fachspezifischere Ausrichtung, die sich auf ihren Status im Gesundheitswesen positiv auswirkt und nicht zuletzt auch den Patienten zugutekommt.
   Zum dritten hat das »Primat der Ökonomie« Einzug gehalten in den Kliniken, sodass Psychotherapie in der Tradition der Aufklärung immer mehr an Boden verliert (Hardt 2017). Dieser Trend ist von den beiden genannten sicherlich nicht völlig unabhängig, rückt aber immer stärker in den Vordergrund und überlagert die beiden erstgenannten Entwicklungen. Das Primat der Ökonomie hat das gesamte Gesundheitswesen erfasst und grundlegend verändert und wurde besonders pointiert von Jürgen Hardt (2017) beschrieben, der sich auf Jürgen Habermas bezieht. Dieser hatte ein Auseinanderfallen der Lebenswelt und des Systems, das Wirtschaft und Verwaltung bildet, in der postmodernen Gesellschaft konstatiert. Mehr noch, und das kennzeichnet insbesondere auch die Situation in den Kliniken, kann eine Umkehrung der Dienstverhältnisse beobachtet werden, das heißt nicht mehr Wirtschaft und Verwaltung dienen dem Leben, sondern die Lebenswelt ist Verwaltung und Wirtschaft untergeordnet. Für die Kliniken bedeutet dies, dass die ökonomischen Belange immer mehr an Gewicht gewonnen haben, was in der Regel zu einer Verkürzung der Behandlungszeiten und einer Verschlechterung des Patienten-Therapeuten-Schlüssels geführt hat. Auch wurde infolge dieser Entwicklung der Einfluss der Chefärzte beschnitten, während der der kaufmännischen Leitungen gestiegen ist. Das alles hat erhebliche Implikationen und führte zu weitreichenden Veränderungen in der Kultur der Kliniken.
   Krankenhäuser in der postmodernen Gesundheitswirtschaft unterliegen als Produktionsstätten von Gesundheit einer verschärften Kontrolle der Normierung ihrer Angebote und einem erhöhten Wettbewerbsdruck. Diese Entwicklung hat auch die Psychosomatischen Kliniken erfasst: Die von der Deutschen Rentenversicherung belegten Psychosomatischen Rehabilitationskliniken sind allerdings auf andere Art und Weise von dieser Entwicklung betroffen als etwa die Psychosomatischen Universitätskliniken oder Akutkliniken bzw. Fachkliniken. Die weitaus meisten Betten sind in den Psychosomatischen Rehabilitationskliniken vorhanden und dort wird die Debatte beherrscht von Begriffen wie Therapiestandards, Zertifizierung, Audits oder Benchmarking. Der Begriff, unter den dies alles zusammengefasst werden kann, heißt Qualitätsmanagement. Wie die neue Begrifflichkeit zeigt, hat sich schleichend ein anderer Qualitätsbegriff durchgesetzt. Schernus (2007) hat unter dem Titel »Wieviel Qualitätssicherung verträgt ein Mensch?« diese Verschiebung von einem philosophisch-anthropologischen hin zu einem ökonomischen Qualitätsbegriff beschrieben. Dieser geht eben nicht mehr vom Wesen der Dinge aus, also hier vom kranken Menschen und der Frage, wie mit ihm umzugehen ist, sondern allein vom Markterfolg. Menschen werden wie andere Waren auch behandelt; nicht der bestmögliche Behandlungserfolg, sondern die Wirtschaftlichkeit steht im Vordergrund der neuen Gesundheitsökonomie. Dieser Wandel prägt die Kliniken heute zunehmend und droht die beiden erstgenannten Trends zur Spezialisierung und wissenschaftlichen Fundierung zu überlagern.
   Gewiss, es gibt Reste eines anderen Denkens und Arbeitens, und manche Klinik konnte sich mehr davon bewahren als andere; vor allem die Mitarbeitenden orientieren sich häufig noch an einem anderen Qualitätsbegriff. Genau das hat mich so lange in den Kliniken verweilen lassen. Es sind die Mitarbeitenden, die an der Vorstellung festhalten, dass der Mensch im Mittelpunkt steht. Doch sie geraten immer stärker in Gegensatz zum ökonomisch Messbaren, was viele veranlasst, frühzeitig das Handtuch zu werfen. Fanden früher die Mitarbeitenden in Psychosomatischen Kliniken einen Dauerarbeitsplatz, so sind diese – jedenfalls für einige Berufsgruppen – zu Durchgangsstationen geworden, die man möglichst rasch wieder verlässt. Andere halten durch und unterlaufen die neuen Vorgaben wo immer sie können. Der Spielraum für Umwege, spontane Einfälle, Langsamkeit, unerwünschte Einmaligkeit, all das, so Schernus (2007), was für innovatives Handeln unersetzlich ist, ist allerdings sehr klein geworden.
   Wo sind in diesem Prozess die älteren Patienten geblieben? Patienten, für die Umwege geradezu typisch und unvermeidlich sind und zu deren Wesensmerkmal die Langsamkeit gehört (Peters 2002)? Finden Ältere, auch wenn sie immer mehr werden, noch einen Platz in der neuen Gesundheitsökonomie? Diese Frage berührt die grundlegende Frage, wie wir in der globalisierten Welt mit Älteren umgehen (van Dyk 2015). Die Langsamkeit der Älteren kann als natürliche Antithese zur Beschleunigung in der globalisierten Welt verstanden werden, das heißt das Alter impliziert per se einen kritischen Blick auf die postmoderne Welt (Peters 2017). Wie aber verträgt sich die neue Welt der Kliniken mit dem, was das Alter im Kern ausmacht und was die Älteren in die Kliniken hineintragen? Diese Fragen soll das vorliegende Heft zu klären versuchen.
   Da das vorliegende Heft für mich persönlich eine Zäsur und das Ende eines langen Weges darstellt, möchte ich an dieser Stelle allen Weggefährten bzw. »beruflichen Lebensabschnittsgefährten« danken, zu denen auch die Autoren und Autorinnen dieses Heftes gehören. Darüber hinaus möchte ich insbesondere zwei Personen danken, die zwar keine Autoren in diesem Heft sind, aber doch zitiert werden: Zum einen Herrn Prof. Dr. med. Hartmut Radebold, mit dem ich zu Beginn der 1990er Jahre den ersten alterspsychotherapeutischen Schwerpunkt in der Rothaarklinik (Bad Berleburg) aufgebaut habe. Dies waren für mich unersetzliche Erfahrungen, die maßgeblich zu meiner Identifikation mit diesem Arbeitsfeld und meiner alterspsychotherapeutischen Identität beigetragen haben. Zum zweiten Herrn Jochen Lindner, Ärztlicher Direktor der Klinik am Hainberg (Bad Hersfeld), der 14 Jahre lang vielen Widerständen zum Trotz mit mir daran festgehalten hat, einen entsprechenden Behandlungsschwerpunkt zu etablieren. Ein Höhepunkt unserer Aktivität war die von uns konzipierte Zukunftskonferenz, die 2007 in Bad Hersfeld stattfand (Lindner u. Peters 2012). Es war ein innovatives Unternehmen, die Grenzen der Klinik zu überwinden und in einem sozial-psychosomatischen Sinne in eine Stadt bzw. in einen Landkreis hineinzuwirken, um die politische Dimension unseres Faches zur Geltung zu bringen; daraus hervorgegangen ist die Zukunftsakademie, die zu einer wichtigen Stimme und einem Ort innovativer Diskussionen im Landkreis geworden ist. Nicht zuletzt kann in dieser Zukunftsakademie auch ein Keim dafür liegen, angesichts der oben skizzierten Entwicklung einen kritischen Akzent zu setzen und die Kliniken für ein verändertes, kritisches Selbstverständnis zu sensibilisieren.
   Ich hoffe, dass es mir gelingt, trotz der nicht kleiner, sondern eher größer werdenden Widerstände mit diesem Heft Lust zu machen und zu ermutigen, sich auf die klinische Gruppe der Älteren und Alten einzulassen und begonnene Wege fortzusetzen.

Literatur

Dyk van S (2015) Soziologie des Alters. Bielefeld (transcript).
Hardt J (2017) Zweiter Postmoderne: Eine vorläufige Mitteilung. In: Schnoor H (Hg) Psychosoziale Entwicklung in der Postmoderne. Gießen (Psychosozial) 39–57.
Lindner J, Peters M (2012) Psychosoziale Gesundheit im Alter. Neue Herausforderungen für die Prävention und Psychosomatische Rehabilitation. Wiesbaden (VAS).
Peters M (2002) Aktives Altern oder die »Entdeckung der Langsamkeit«. In: Peters M, Kipp J (Hg) Zwischen Abschied und Neubeginn. Entwicklungskrisen im Alter. Gießen (Psychosozial) 87–103.
Peters M (2017) Psychotherapie mit Älteren. PSYCHODYNAMIK KOMPAKT. Göttingen (Vandenhoeck & Ruprecht).
Schernus R (2007) Wieviel Qualitätsmanagement verträgt der Mensch? – Qualität im Strudel der Begriffsverwirrung. In: Schernus R, Bremer F (Hg) Tyrannei des Gelingens. Neumünster (Paranus) 23–32.