Flucht, Vertreibung, Exil und Emigration sind seit Beginn der Geschichte ständige Begleiter der Menschheit. Jeder kennt die Geschichte der Vertreibung von Adam und Eva aus dem Paradies. Altes und Neues Testament sind voll von Vertreibungs- und Emigrationsgeschichten. Die Häufigkeit, Alltäglichkeit und die ständige Wiederholung des Gleichen lassen manchmal vergessen, dass diese speziellen Formen von unfreiwilligen Trennungen traumatischen Charakter haben können. Der Wiederholungszwang lässt gleichgültig werden und wirkt abstumpfend.
   Auch über die Geschehnisse und Folgen des Zweiten Weltkrieges werden wiederholt Schreckensbilder veröffentlicht – oft im Rahmen einer offiziellen Erinnerungskultur. Auschwitz darf sich nicht wiederholen, »Nie wieder Krieg!« lautet die unbewusste Staatsdoktrin. Welzer (2009) weist auf die Gefahr hin, durch unablässiges Reden die Verarbeitung von Trauma und Schuld zu blockieren, und hält dies für einen bedenklichen Mechanismus des Vergessen-Machens. Laub (2003, 938) bezeichnet Sprachlosigkeit als eine Traumafolge, die zur Erstarrung in der Persönlichkeitsentwicklung führe. Die Dialogunfähigkeit über die Erfahrung dieser Epoche sind nach Zinnecker (2009, 145) ein negatives Ergebnis der katastrophalen Erfahrung von Diktatur und Krieg. Ist also Reden Silber und Schweigen Gold oder umgekehrt? Ist Bilderflut oder Bildersturm angesagt?
   Für Deutsche stehen die Folgen des Holocaust, die jüdische Emigration, der Zweite Weltkrieg und die Flucht und Vertreibung aus den ehemaligen Ostgebieten im Vordergrund. In Mitteleuropa sind viele Familien konkret betroffen, und die Folgen sind mittlerweile in der älter gewordenen zweiten Generation zu erkennen.
   In der Alltagspraxis der Psychotherapie mit Älteren standen diese Themen immer im Raum, denn die eigene Vergangenheit – Erfahrungen von Flucht, Vertreibung, Verfolgung in frühen Phasen der Lebensgeschichte – zeigte auch Jahrzehnte später ihre Wirkung. In über 70 Jahren Frieden konnten wir die verheerenden Folgen dieser Geschehnisse bis in die dritte und vierte Generation beobachten.
   Die jüngste Welle von Flüchtlingen hat unsere Gesellschaft sowohl sensibilisiert als auch polarisiert. Nach anfänglicher Euphorie hat sich die öffentliche Stimmung im Umgang mit Flüchtlingen gewandelt: Die anfängliche Willkommenskultur ist einer skeptischen Haltung gewichen, die von Enttäuschung bis hin zum offenen Ressentiment reicht. Der Rechtspopulismus ist auf dem Vormarsch.
   Viele ältere Menschen, die als Kinder mit den Auswirkungen und Folgen des Nationalsozialismus, des Zweiten Weltkrieges und der Shoah konfrontiert wurden, engagieren sich in der Flüchtlingshilfe, andere lehnen jegliche Beschäftigung mit diesem Thema ab. Übermäßiges Engagement und krasse Ablehnung hat in den meisten Fällen mit eigener Traumatisierung zu tun. Viele Hochaltrige erleben die Kriegsberichte, die Bilder von Flüchtlingslagern – besonders dann, wenn Kinder betroffen sind – wie eine Retraumatisierung. Bilder von Ruinen in Aleppo rufen entsprechende Erinnerungsbilder von Berlin, Dresden, Frankfurt, Hamburg, Kassel, Köln und vielen anderen zerstörten Städten wach.
   Genozid, Massenmord, ethnische Säuberung, Zwangsarbeit, Vertreibung und Emigration sind keine Erfindung des 20. und 21. Jahrhunderts. Die bekannte Formel »Schon die alten Römer« erinnert viele an einschläfernden Geschichtsunterricht. Schläfrigkeit ist jedoch ein Abwehrphänomen gegen Unerträgliches (Zwiebel 2010). Ein Blick in die Geschichte vor und nach dem 20. Jahrhundert und über die deutsche Perspektive hinaus erweitert den Blick auf humanitäre Katastrophen, ob es Folgen der Völkerwanderung, der Dreißigjährige Krieg, mittelalterliche Judenpogrome oder aktuelle Flucht, Vertreibungs- und Migrationsphänomene sind.
   Bei öffentlichen und wissenschaftlichen Debatten werden oft die Gruppen übersehen, die keine Lobby haben oder nicht im Mainstream der öffentlichen Betrachtung liegen. Lange war der Genozid an den Armeniern vergessen. Den meisten Deutschen ist im Kontext mit dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches unbekannt, dass es Flucht und Vertreibungswellen türkischer und griechischer Bevölkerung gab, die euphemistisch als »Bevölkerungsaustausch« bezeichnet wurden. Im Mittelalter gab es gewaltsame Bevölkerungsverschiebungen im Europa (zum Beispiel die Vertreibung der Mauren durch die spanische Reconquista oder die Vertreibung der Serben durch die Osmanen in die Vojvodina). Im Mittelalter begonnene Konflikte zwischen orthodoxen, katholischen und islamischen Einflussbereichen auf der Balkanhalbinsel wirken bis heute fort. Die Neuzeit kannte die Vertreibung und Neuansiedlung von Hugenotten in Hessen und Brandenburg. Die Liste ist fast unbegrenzt verlängerbar: Man kann innerhalb Europas an einem beliebigen Ort den Versuch unternehmen, nach Flucht, Vertreibung und Emigration zu suchen. Heimatmuseen und oft wenig bekannte Schriften zu lokalen Geschichte – meist von Lehrern oder Pfarrern verfasst – legen dünne Erinnerungsspuren. Wer kennt zum Beispiel die Armutsemigration minderjähriger Kinder aus Südtirol nach Schwaben im 19. Jahrhundert? Fast jeder Ort hat seine Minderheiten, die unfreiwillig migriert sind oder die in ihm eine neue Heimat fanden. Das Lesen von Namen in Telefonbüchern offenbart ganz nebenbei Migrationsgeschichte.
   Ganz gleichgültig, um welche Gruppen oder historische Kontexte es sich handelt: Man sollte die oftmals bildhaften Erinnerungsspuren, die über Generationen weitergegeben werden und als Spätfolge einzelne Personen quälen können, sehr ernst nehmen. Individuelle Biografie enthält Anteile von Familien- und Kollektivgeschichte und deren Interpretation durch Eltern und Vorfahren. Rosenthal (1997, 75f.) wies auf die Verknüpfung individueller biographischer Schwierigkeiten mit der Position der Nachgeborenen im Familiensystem, mit Familienaufträgen und mit der Identifikation mit bestimmten Angehörigen hin. Abwehrmechanismen wie Verleugnung, Affektisolierung, narzisstische Abwehrformationen, kontraphobische Tendenzen und altruistische Abtretungstendenzen im Hinblick auf historische Rahmenbedingungen müssen aufmerksam betrachtet werden. Deshalb ist gerade die therapeutische Bearbeitung transgenerationeller Traumen so wichtig. Unter anderem unterstützen sie die Entidentifizierung. Dabei gilt es, Mythen, Tabus und Deckphänomene zu erkennen.
   Mit diesem Heft soll der Versuch unternommen werden, unsere Perspektiven zu erweitern. Zwar kann man nicht alles undifferenziert in einen Topf werfen, aber der Versuch, all diese Begriffe trennscharf zu definieren, scheitert an der traumatischen Realität. Eine allzu große politische Correctness und Tabubeflissenheit versperrt den Blick auf Wesentliches. Flucht, Vertreibung und Emigration hat mit Not, Leiden, Trauma und menschlicher Ohnmacht zu tun. Manche Zeitgenossen meinen, man könne das Thema Flucht, Vertreibung und Emigration mittlerweile als erledigt ansehen und gleichzeitig durch Abschottung ignorieren. Die Beiträge dieses Hefts zeigen jedoch deutlich, dass eine solche Haltung nicht nur inhuman, sondern auch töricht ist.
  Nimmt man die Übersetzung des englischen Wortes »reloaded« wörtlich, so bedeutet es konkret »aufgeladen« beziehungsweise »wieder aufgeladen«. Tatsächlich zeigt der Blick in die Geschichte, dass sich im Laufe der Menschheitsgeschichte das Thema Flucht und Vertreibung immer wieder neu aufgeladen und wiederholt hat. Insofern ist es wichtig, das Thema auch in Zukunft wiederholt und nachdrücklich zu behandeln. Die Opfer und auch die Spätauswirkungen dürfen nicht in Vergessenheit geraten.

Literatur

Laub D (2003) Kann die Psychoanalyse dazu beitragen, den Völkermord historisch besser zu verstehen? Psyche – Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendungen 57(9–10): 938–959.
Rosenthal G (1997) Der Holocaust im Leben von drei Generationen. Familien von Überlebenden der Shoah und von Nazi-Tätern. Gießen (Psychosozial-Verlag).
Welzer H (2009) Die Nachhaltigkeit historischer Erfahrungen. Eine sozialpsychologische Studie. In: Radebold H, Bohleber W, Zinnecker J (Hg) Transgenerationale Weitergabe kriegsbelasteter Kindheiten. Weinheim, München (Juventa) 75–93.
Zinnecker J (2009) Die »trangenerationale Weitergabe« der Erfahrung des Weltkrieges in der Familie. Der Blickwinkel der Familien-, Sozialisations-und Generationenforschung. In: Radebold H, Bohleber W, Zinnecker J (Hg) Transgenerationale Weitergabe kriegsbelasteter Kindheiten. Weinheim, München (Juventa) 141–154.
Zwiebel R (2010) Der Schlaf des Analytikers. Stuttgart (Klett-Cotta).