Jan Sonntag & Michael Ganß: Editorial zum Themenheft
“Künstlerische Therapien”

»Der Mensch ist undurchschaubar, bestenfalls kann man ihn vermuten, und das tut die Kunst« (Kreisler 2009, 64). Womöglich liegt genau in dieser Behauptung der Grund, warum sich der Barde bitterböser Gesellschaftskritik Georg Kreisler nicht in der Politik, sondern in der Kunst beheimatet fühlte. Hier finden die Grauzonen menschlicher Existenz in ihrer Vagheit und Vieldeutigkeit Erleben und Ausdruck, hier wird der Mensch nicht vermessen und auf Funktionen beschränkt, hier darf es subjektiv, widersprüchlich und geheimnisvoll zugehen.
   Und vielleicht liegt hierin sogar ein Grund, warum sich die Künste in (zwischen-)menschlichen Belangen seit Urzeiten auch für die therapeutische Praxis empfahlen, und warum sich viele Spielarten der Psychotherapie nicht zuletzt kunstanalog verstehen oder verstehen lassen: Sie geben dem Menschen in seiner Ganzheit Raum und Rahmen.
   Viele Jahrhunderte vorwissenschaftlicher Verbindungen zwischen Kunst und Heilung führten im vergangenen Jahrhundert zur Entwicklung Künstlerischer Therapien auf teilweise hohem wissenschaftlichem Niveau. Neben außerakademischen Ausbildungsformaten bieten Hochschulstudiengänge akademische Ausbildung auf Bachelor-, Master- und Promotionsniveau. Es existiert eine Infrastruktur von Berufsorganisationen, ehrgeizige Forschungsaktivität sowie umfangreiche Fachliteratur.
   Unter dem Sammelbegriff »Künstlerische Therapie« werden Verfahren wie Kunst-, Musik-, Tanz-, Biblio-, Theatertherapie u.a. gefasst, die überwiegend den herkömmlichen Trennungslinien der Kunstgattungen folgen. Aber auch die Überwindung der menschheitsgeschichtlich jungen und kulturell eher westlichem Zergliederungsdenken folgenden Trennung der Künste wird zunehmend erprobt: in integrativen und intermedialen Konzepten.
   Die Bundesarbeitsgemeinschaft Künstlerische Therapien (BAG KT) treibt die Etablierung wissenschaftlich fundierter Verfahren im Gesundheitswesen voran. Ihr zur Seite steht mit Blick auf die Mitarbeit bei der Erstellung von Leitlinien in der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften die Wissenschaftliche Fachgesellschaft für Künstlerische Therapien (WFKT).
   Künstlerische Therapien zielen auf die Wiedererlangung, Erhaltung und Förderung der physischen, psychischen und psychosozialen Gesundheit ab. Sie dienen darüber hinaus der Verbesserung der Lebensqualität von Menschen mit psychischen und somatischen Erkrankungen, mit emotional, kognitiv oder sozial bedingten Einschränkungen, Behinderungen, Verhaltensstörungen und Leidenszuständen sowie Menschen, die davon bedroht sind. Sie basieren auf dem Interaktionsgeschehen zwischen Patient, Therapeut und schöpferisch-künstlerischem Prozess bzw. Werk (vgl. BAG KT o.J.).
   In vorliegendem Heft haben wir uns zum Ziel gesetzt, ein breites Spektrum an Forschung, Theorie und Praxisbeispielen Künstlerischer Therapien in der Begleitung älterer Menschen vorzustellen. Dabei sollen einerseits der hohe therapeutische Wert, der wissenschaftliche und praktische Entwicklungsstand Künstlerischer Therapien gezeigt werden. Andererseits berücksichtigen wir auch dezidiert Ansätze, die sich nicht als therapeutisch, sondern rein künstlerisch verstehen, womit wir der zunehmenden Pathologisierung (und damit »Therapeutisierung«) natürlicher Lebensvorgänge wie Geburt, Altern oder Sterben begegnen.
   Ferner bieten die künstlerisch orientierten Ansätze Menschen im Alter und im Besonderen Menschen mit Demenz offene, niedrigschwellige Auseinandersetzungsmöglichkeiten, die Beziehung und Entwicklung ermöglichen. Damit weisen sie eine große Nähe zu therapeutischen Prozessen auf und erfahren gleichzeitig eine hohe Akzeptanz durch die Seniorinnen und Senioren. Da in künstlerischen Verfahrensweisen kein spezifisches Ziel vereinbart wird, können sie eine indizierte therapeutische Begleitung nicht ersetzen. Im Sinne der Gesundheits- und Resilienzförderung stellen sie jedoch eine wichtige Ergänzung dar.

In diesem Heft bündeln wir folglich Ansätze, die
1.    sich im engeren Sinne (psycho-)therapeutisch verstehen,
2.    einem erweiterten Therapiebegriff folgen, z.B. Therapie wortursprungsgetreu als Dienst oder Begleitung verstehen, und
3.    sich nicht als therapeutisches Angebot, sondern als künstlerische Praxis verstehen, dabei aber durchaus therapeutische Wirkungen zeitigen können.

Die Autorinnen und Autoren der Artikel dieses Themenheftes sind sämtlich ausgewiesene und langjährig erfahrene Experten aus Forschung, Lehre und Praxis Künstlerischer Therapien. Für sich gesehen und in der Zusammenschau bilden die Beiträge einen großen Teil des aktuellen Entwicklungsstandes Künstlerischer Therapien ab. Im Anschluss an grundlegende Beiträge im vorderen Teil des Heftes finden Sie, die Leserinnen und Leser des Heftes, Zusammenfassungen empirischer Forschung sowie Falldarstellungen, Praxis- und Projektberichte. Wir wünschen Ihnen einen anregenden und informativen Ausflug in die vielgestaltige Welt der Künstlerischen Therapien in der Begleitung älterer Menschen.

Literatur

BAG KT (o.J.) Künstlerische Therapien. https://bagkt.de/wordpress/informationen/kuenstlerische-therapieformen/ (Aufruf 26.10.2018).
Kreisler G (2009) Letzte Lieder. Autobiographie. Zürich (Arche).