16. Jahrgang 2019, Heft 4: Eine Institution stellt sich vor
Birgit Ackermann:
St. Josefshaus Herten
Was kann ein Komplexträger in Zeiten der Inklusion leisten?
Das St. Josefshaus Herten feiert in diesem Jahr sein 140-jähriges Jubiläum. Das Jubiläumslogo (Abb. 1) verbindet das Logo des St. Josefshauses mit dem der Schwestern von Heiligen Kreuz in Hegne. Diese haben gemeinsam mit dem Dorfpfarrer Karl Rolfus und der Ordensschwester Maria Theresia Scherer die christlichen Wurzeln gesetzt, die noch heute die Angebote des St. Josefshauses nähren.
Mittlerweile ist das St. Josefshaus ein Zusammenschluss mehrerer zumeist gemeinnütziger Sozialunternehmen in insgesamt zwölf Sozialräumen in Südbaden. Seit der Gründung 1879 hat sich das St. Josefshaus stetig weiterentwickelt. Heute verbindet sich auf diese Weise Tradition und Innovation unter dem Leitsatz »Wir begleiten Menschen« und der Vision »Wir begeistern im Dienst des Nächsten«.
Wir ermöglichen mit unseren ausdifferenzierten Angeboten im Besonderen Menschen mit Behinderungen und im Alter einen individuellen und selbstbestimmten Lebensweg, den sie selbst nach ihren spezifischen Bedürfnissen, Möglichkeiten und Vorstellungen gestalten. Personenzentrierung und Sozialraumorientierung bilden die Grundlage unserer Angebote, welche wir subsidiär und nachhaltig erbringen.
Dazu ist es notwendig, die Möglichkeiten des Bundesteilhabegesetzes für Menschen mit Behinderungen nutzbar zu machen und die vorhandenen Risiken zu erkennen und zu minimieren. Wir sehen aktuell unter anderem unsere Aufgabe darin, Menschen mit Behinderungen als Fachleute in der eigenen Sache sprachfähig zu machen. Gleichzeitig wollen wir die Akteure, die in den Teilhabe-Planungs-Prozessen mit den Menschen sprechen, in einfacher Sprache und mit Hilfsmitteln kommunikationsfähig machen. Außerdem scheint es uns wichtig, Barrieren zwischen den neuen Verhandlungspartnern abzubauen. Dazu haben wir, neben vielen anderen Aktivitäten, ein von der Landesstiftung Baden-Württemberg gefördertes inklusives Bildungsprogramm (Abb. 2) aufgesetzt und bereits vor sechs Jahren begonnen, auch Kurse zu Einfacher Sprache mit Mensch zuerst e.V. durchzuführen.
Aufgrund der Komplexität der gesellschaftlichen Herausforderungen suchen wir Partner aus allen gesellschaftlichen Bezügen, um uns auf die Konsequenzen demografischer Entwicklungen vorzubereiten. Die Garantie für aktive gesellschaftliche Gestaltung ist die menschliche Vielfalt und deren Wertschöpfung. Rechtliche und politische Systemgrenzen betrachten wir in diesem Zusammenhang als Aufforderung, für menschendienliche und sachgerechte Veränderungen einzutreten.
Auch hier gibt die Geschichte dem St. Josefshaus Herten einen Auftrag, der mit »erinnern und mahnen« umschrieben wird. Jährlich um den 27. Januar, dem Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus, findet ein Gottesdienst zum Mahnen und Erinnern an die 345 Opfer, die im Rahmen der T4-Aktion aus dem St. Josefshaus deportiert wurden, in Grafeneck statt. Im Vorfeld werden an der Theresia-Scherer-Schule, unsere Schule für Sozialberufe, Einladungskarten mit den Namen der Opfer individualisiert im Rahmen einer entsprechenden Unterrichtsreihe erstellt. Diese werden dann an politische, gesellschaftliche und andere verantwortliche Partner des St. Josefshauses Herten versandt. Die Kirche ist in der Regel voll und die unterschiedlichen Aktionen im Rahmen des inklusiv vorbereiteten Gottesdienstes finden große regionale, öffentliche Beachtung. So zum Beispiel das Aufstellen von 345 Kreuzen auf dem Rasen vor der Kirche und an der Landesstraße (Abb. 3). Im letzten Jahr wurde der Gedenktag von einer Facebook-Aktion begleitet, um noch mehr junge Mensche für die politische Botschaft für achtsamen Umgang mit Sprache und Interesse für gesellschaftliche Gestaltung zu gewinnen. Es ist das Ziel, durch unsere gesellschaftliche Bildungsarbeit für ein gelingendes Miteinander zu begeistern.
Auch intern stehen wir vor vielen Veränderungsprozessen und müssen oft umdenken und werden dabei von unseren Mitarbeitenden in ein Spannungsfeld zwischen »Gutes erhalten«und »Neues wagen« gestellt. Und manchmal ist es auch ganz einfach. So gibt es im St. Josefshaus Herten jedes Jahr das sogenannte Rentnertreffen, zu dem alle ehemaligen Mitarbeitenden, die im St. Josefshaus in Rente gegangen sind, eingeladen werden. Irgendwann kam die Frage auf, dass es ja mittlerweile auch viele Rentner der Werkstätten für Menschen mit Behinderungen gäbe, die ganz inklusiv daran teilnehmen könnten. Gesagt, getan – 2019 fand das erste inklusive Rentnertreffen des St. Josefshauses statt. Und wenn man erlebt hat, mit wie viel Stolz und Freude von beiden Seiten die Begegnungen stattfanden, fragte man sich, warum man nicht schon früher auf diese Idee gekommen ist.
Eine engagierte und wertschätzende Arbeitskultur sowie werteorientierte Führungsarbeit ist die Grundlage einer erfolgreichen Arbeitgebermarke und sichert die Besetzung von Stellen und die Ausbildung von Fachkräften. Die drei Titel in den Wettbewerben des Instituts Great Place to Work, unter anderem im Bereich Beste Arbeitgeber Baden-Württemberg und Beste Arbeitgeber Soziales und Gesundheit, sehen wir als Anreiz, weiterhin der Schere zwischen dem Rückgang professioneller Kräfte in Pflege und Assistenz und der Bedarfssituationen von Familien und familiären Netzwerken entgegenzuwirken.
Auch hier haben wir im letzten Jahr gemeinsam mit dem Institut eine Befragung in einfacher Sprache und unabhängiger Assistenz in der Werkstatt für Menschen mit Behinderungen durchgeführt. Die Ergebnisse waren vergleichbar gut wie bei den 1600 Mitarbeitenden des St. Josefshauses.
Was können sogenannte Komplexträger heute noch in der veränderten Landschaft beitragen? Das St. Josefshaus Herten löst sich bereits seit Jahren von »komplex ist alles aus einer Hand ein Leben lang«. Es versteht sich als Teil eines komplexen Ganzen und will jeden Tag seinen gesellschaftlichen Beitrag in unterschiedlichsten Facetten und Bezügen leisten. Veränderungen und Herausforderungen gehören zum Grundverständnis des St. Josefshauses, die inklusiven Lösungen werden als Aufgabe gesehen, Begeisterung und Vorbildfunktion als Ziel.